Brief an die Medien der Region Stuttgart, 27.07.2010
Nur ein nachgeholter Bürgerentscheid in Form einer Bürgerbefragung führt zum innerstädtischen Frieden über Stuttgart 21
Zur erneut aufgeflammten Debatte um ein Moratorium beim Verkehrsprojekt Stuttgart 21 erklärt der Waiblinger SPD-Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer:
„Die Situation bei Stuttgart 21 ist verfahren: die Stadt ist gespalten, der Widerstand in der Bevölkerung nimmt offenkundig zu anstatt ab. Die Fronten bleiben in dem nun schon seit 15 Jahren andauerndernden Konflikt trotz der gefällten Entscheidungen verhärtet. Zu erwarten ist, dass dies sich auch in der mittleren Zukunft nicht ändert und während der gesamten Baumaßnahmen weitergeht – bis hin zu einem vielleicht 30-jährigen Bürgerkonflikt.
Das hält keine Stadt aus, ohne tiefen bürgerschaftlichen Schaden zu nehmen. Mehr und mehr zeigt sich, dass es ein schwerwiegender politischer Fehler des Gemeinderats von Stuttgart war, das Bürgerbegehren nicht zuzulassen und auch keine andere Form breiter demokratischer Beteiligung zu ermöglichen.
Mir ist sehr wohl bewusst, dass nach dem Urteil des Verwaltungsgerichts vom Juli 2009 und den gefällten Entscheidungen der Rechtsweg, abgesehen von den noch ausstehenden Planfeststellungsbeschlüssen, erschöpft ist. Rechtlich steht dem Baubeginn von Stuttgart 21 nichts mehr im Wege. Aber die politische Wunde ist zu groß und hat chronische Wirkung.
Vielen, die die Durchführung eines Bürgerentscheides alternativlos abgelehnt haben, ist inzwischen bewusst, dass dies ein großer demokratiepolitischer Fehler war. Bei einem derart tiefen und langanhaltenden Konflikt ist eine Abstimmung unter den Bür- gern der einzige Weg zur Erlangung bürgerschaftlichen Friedens, weil das Ergebnis – wie auch immer es aussieht – mehr als jede andere Entscheidung akzeptiert wird. Keine politische Entscheidung hat mehr öffentliche Legitimationskraft als eine von der Bürgerschaft direkt getroffene.
Deshalb schlage ich vor, das Versäumte nachzuholen, im Interesse des inner- städtischen Friedens und aller Konfliktbeteiligter. Ein Bürgerentscheid in Form einer Bürgerbefragung wäre der „dritte Weg“ zwischen der unbedingten Durchsetzung und der Forderung nach einem Moratorium, wie sie aktuell wieder von den Grünen erhoben wird – ohne dass damit klar wird, was nach dem Moratorium kommen würde.
Der Weg zu einer Bürgerbefragung
Da der Rechtsweg zur Durchführung eines Bürgerentscheides erschöpft ist, kann dieser nur durch eine Mehrheitsentscheidung des Gemeinderates in Form einer Bürgerbefragung zustande kommen. Das Ergebnis wäre zwar nicht verbindlich und kann von sich aus keine Rechtswirkung entfalten. Es hat aber eine heilsame Wirkung, weil niemand mehr an dem Ergebnis vorbeikäme. Eine solche Bürger- befragung wäre im Übrigen nichts neues in Deutschland, da beispielsweise die Ge- meindeordnung des Landes Niedersachsen sie sogar ausdrücklich – neben dem Entscheidungsinstrument eines Bürgerentscheides aufgrund eines Bürgerbegehrens - vorsieht.
Es muss auch im Interesse der Landesregierung und der DB AG liegen, ein solches Verfahren zu akzeptieren – und auch im Interesse aller im Stuttgarter Gemeinderat und im Landtag vertretenen Parteien, weil auch die Stuttgart 21 offiziell unterstützenden Parteien in ihrer Mitglieder- und Wählerschaft gespalten sind.
Im Falle einer Ablehnung von Stuttgart 21 durch eine Bürgerbefragung kämen vermutlich Vertragsstrafen auf die Landesregierung und die Stadt Stuttgart zu. Ob dies in Kauf genommen wird, wäre eine für die Bürgerinnen und Bürger mit abzuwägende Frage. Vielleicht sind aber diese finanziellen Folgen eines Ausstiegs niedriger als die nicht zuletzt finanziellen Folgen eines anhaltenden Konflikts. Hinzu käme, dass eine eventuelle Ablehnung von Stuttgart 21 ja nicht bedeutet, dass alles beim jetzigen Zustand bliebe. Dann müsste über Alternativen neue nachgedacht und diese erörtert und darüber entschieden werden – und finanzielle Forderungen von Vertragspartnern von Stuttgart 21 könnten möglicherweise durch alternative Aufträge komprimiert werden.“