Guten Abend, verehrte Protestgemeinde von Stuttgart,
ich grüße Sie hier auf dem Schlossplatz, wo sich die Herrschenden bis heute ein Schloss als Zentrum der Macht halten. Es gibt keinen besseren symbolischen Ort für ein Finanzministerium in einem Staat, in dem sich immer mehr feudalistische Auswüchse breitmachen. Vor dem neuen Feudalismus warnen selbst stolze Kapitalisten wie der amerikanische Superreiche Nick Hanauer, dessen Vorfahren einst vor den Nazis aus Cannstatt fliehen mussten.
Ich war ja schon bei etlichen Montagsdemos als Redner zugange, und natürlich ging es immer irgendwie um ein milliardenschweres Immobilienprojekt, das bis heute als Bahnhof kaschiert wird. Bevor ich aber diese Sätze hier aufgeschrieben habe, dachte ich mir: So viele Baustellen wie heute musste man beim Thema Stuttgart 21 noch nie gleichzeitig behandeln. Corona, der Krieg in der Ukraine, die Energiekrise und die sich anbahnende Klimakatastrophe machen uns endgültig klar, wofür dieses aus der Zeit gefallene Wahnsinnsprojekt S21 tatsächlich steht: Es ist das Symbol eines wirtschaftlichen Niedergangs und einer sozialen Erosion, die viel gefährlicher sind als jede andere Krise, die wir hier bisher erlebt haben. Dennoch gibt es heute Leute, die einfach sagen: Hauptsache, wir tollen Stuttgarter bekommt einen tollen Bahnhof. Der wird großartig, und die ganze Welt wird über die Kelchstützen des großartigen Herrn Ingenhoven staunen. Wir können stolz sein auf diese Stadt, die uns in unserem Kleingeist noch größer macht.
Liebe Freundinnen und Freunde, ich weiß nicht, was in Köpfen vorgeht, die dermaßen zusammenhanglos denken, um sich mit ihrem Lokalpatriotismus selber aufzuwerten. Ich glaube, diese Haltung hat etwas mit dem Typus des gegenwärtigen Eventkonsumenten zu tun. Der sagt sich auch angesichts eines Bau- und Zerstörungsevents: Wo ICH bin, ist alles richtig, sonst wäre ja ICH nicht hier. Wir sehen: Nie war das ICH so wichtig wie heute. weiterlesen →