Rede von Christoph Strecker, Richter a.D. und Autor, auf der 283. Montagsdemo am 10.8.2015
Die Justiz im gesellschaftlichen Konflikt
Das Projekt Stuttgart 21 ist gerichtlich abgesegnet. Wer noch grundsätzliche Bedenken geltend macht, erfährt, dass hierüber bereits vom Verwaltungsgerichtshof in Mannheim durch die Bestätigung des Planfeststellungsbeschlusses 1.1 für den Bahnhof und die Talquerung durch Urteil vom 6. April 2006 abschließend entschieden worden sei. Hat sich die Justiz also auf die Seite der Projektbetreiber und ihrer Lakaien geschlagen? Die Sache ist komplizierter.
Wenn ein Gericht über einen Streit zu entscheiden hat, kommt es nicht in erster Linie darauf an, dem komplizierten Sachverhalt und allen damit verbundenen Problemen gerecht zu werden, sondern den Fall irgendwie vom Tisch zu bekommen. Das ist ein Gebot der Selbsterhaltung – irgendwie muss die Arbeit ja erledigt werden – und auch der Wertschätzung im System Justiz. Die Zahl der Erledigungen – vor allem darf es keine Rückstände geben! – ist messbar, deren Qualität hingegen kann immer kontrovers beurteilt werden.
Nun stelle ich mir vor, mir käme als Richter Stuttgart 21 auf den Tisch in Form einer Klage gegen den Planfeststellungsbeschluss 1.1 betreffend den Hauptbahnhof und die Talquerung. Das Projekt ist in Abschnitte zerlegt worden, dieses ist der erste. Bei Fernstraßen ist Abschnittsbildung in der Regel vernünftig, jeder Abschnitt für sich kann ein Fortschritt und sinnvoll sein, am vorläufigen Ende wird auf die bisherigen Straßen ausgewichen. Bei der Bahn ist das nicht so. Wenn die Züge am Ende nicht in Ulm ankommen, ist der Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs für die Katz. Wie gut, dass ich mir die Sinnfrage, wozu das Ganze denn gut sei, gar nicht stellen muss. Als Richter muss ich nicht fragen, ob und unter welchen Voraussetzungen das Projekt als Ganzes je zu realisieren sei. Ich muss ja nicht über das ganze Projekt entscheiden, sondern nur über einen Abschnitt.