Rede von Tom Adler, Demoteam, auf der 740. Montagsdemo am 13.1.2025
Liebe Passant*innen auf der Königstrasse, liebe Freund*innen der Bahn und insbesondere des Erhalts unseres klimaschonenden Kopfbahnhofs,
wir sind hier heute zur ersten Protestkundgebung 2025 gegen die Zerstörung des Schienenverkehrs zusammengekommen. Die erste Kundgebung im neuen Jahr ist immer ein Termin für einen Ausblick auf das, was wir in diesem Protestjahr erwarten können. Und das ist nicht wenig, das Jahr wird turbulent werden! Darüber will ich sprechen.
Wenn wir über unseren Kesselrand hinaus schauen, ist zwar wenig Licht am Horizont, an dem wir uns auf bessere Zeiten freuen könnten. Aber – trotz alledem! – gerade in der nächsten Nähe, hier in unserem Kampf, spüren wir tatsächlich Rückenwind, der Mut macht. Mut zum weiter Druck machen und dran bleiben! Auch darüber will ich sprechen!
Liebe Freund*innen, es ist auch ein Moment, wo wir vor dem Blick nach vorn den Blick zurück richten und uns erinnern sollten. An Menschen, die viele Jahre mit uns auf der Straße waren – und über die Peter Grohmann vor 2 Wochen in seiner Rede zum Abschluss des Protestjahrs 2024 so einfühlsam gesagt hat: „Den Himmel überlassen wir / Den Engeln und den Spatzen. So haben wir's gehalten, in diesem Jahr, dem alten. Es haben uns etliche verlassen in den kalten Tagen dieses Jahres, die Uhren waren abgelaufen, die Füße müde von den langen Wegen durchs Leben, von den Krankheiten der Zeit geschlagen.“
Stellvertretend für etliche gestorbene Aktive, erinnern wir uns damit an Wolfgang Weber. An ihn, den Organisator der Heidelberger Obenbleiber*innen – ihr habt sicher noch sein Bild im Kopf: der große Mann mit dem Bauhelm und dem Schild der Heidelberger Stuttgart-21-Gegner*innen in der Hand. Dass er nicht mehr da ist, ist ein großer Verlust für uns und die Heidelberger Freund*innen, und auch für viele andere, die sich wie er in seiner Stadt immer engagiert haben für ein ökologisches, soziales, den Menschen statt dem Profit verpflichtetes Gemeinwesen. Diese sind unentbehrlich, wie Bert Brecht einmal gesagt hat.
Er hat mit uns zusammen und über all die Jahre die Hoffnung nicht verloren – und „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn macht, egal wie es ausgeht.“ Mit diesem Satz von Václav Havel grüßen wir seine Familie und die Heidelberger Freunde, die heute wieder bei uns sind: herzlich willkommen euch Mitstreiter*innen aus Heidelberg auf der 740. Montagsdemo!
Liebe Freund*innen „Wir vergessen nicht wo wir herkommen und wo wir hinwollen.“ Das hat Angelika Linckh bei der 739. Montagsdemo so zutreffend gesagt. Das zeichnet uns aus. Wir wollen eine lebendige, wohnliche, menschenfreundliche Stadt.
Wir wollen keine eiskalte Profitmaschine wie Stuttgart 21! Für die haben sich schon viele in gut bezahlten Jobs verkauft, mit und ohne Wahlmandat. Und sie werden – anders als unser Protest! – vergessen werden.
Wer erinnert sich noch an die wechselnden PSU-Projektleiter? Wer erinnert sich noch an Wolfgang Drexler? Den „Mr. Stuttgart 21“ von der SPD. Hat sich frühzeitig vom Acker gemacht. Aber wir sind noch da! Wer erinnert sich noch an seinen Parteifreund und glühenden Stuttgart-21-Propagierer Klaus Schmiedel? Wegen Steuerhinterziehung verurteilt. Der ungefragt Gottes Segen auf Stuttgart 21 legen wollte. Was ja, wie wir wissen, doch gründlich gescheitert ist.
Für die peinlichen frühen und alle heutigen Stuttgart-21-Unterstützer wird eines Tages allesamt der jiddische Spruch gelten: „Nicht gedacht soll seiner werden“!
Und wir sind immer noch da. Weil wir Anstand haben. Und redliche politische Ziele. Und Konzepte – für eine menschenfreundliche Stadtentwicklung und einen guten Bahnverkehr. Und statt Pfefferspray, Wasserwerfer, Knüppel und Kettensäge: Argumente! Argumente, die sich allesamt bestätigt haben.
Deshalb sind wir nach 15 und mehr Jahren noch da und wir bleiben auch da! Weil das unsere Stadt, unsere Bahn, unser Bahnhof ist! Und weil unser beharrlicher Widerstand dazu beigetragen hat, dass sie nicht vertuschen können, dass sie mit dem „bestgeplanten Projekt“ kurz vor der „Eröffnung“ mehr Probleme haben als all die Jahre davor. Und dass wir hier in Stuttgart heute bessere Karten haben als die ganzen letzten Jahre!
Liebe Freund*innen, behalten Sie das bitte unbedingt im Gedächtnis! Und wehren Sie sich, ja imprägnieren Sie sich dagegen, dass die großen politischen Verwerfungen unserer Zeit das alles völlig überstrahlen!
Wenn man nur die Wahlplakate sieht, die die Straßen mit inhaltsleeren Sprüchen volltapezieren, und Rechtsextreme und fossile Lobbyist*innen sich die Hände reiben, weil ihre Lügen im öffentlichen Diskurs weiter verbreitet werden, während weiter die Brände um Los Angeles wüten. Obwohl 2024 einen neuen Temperaturrekord gebracht hat, obwohl das nächste „Valencia“ nur eine Frage der Zeit ist. Das droht das neue Normal der kommenden Jahre zu werden!
Vergangenen Woche wurde gemeldet, dass die größten US-Banken und BlackRock sich aus allen Klimaschutz-Organisationen zurückziehen und von Empfehlungen für klimaschonende Invests absehen. Sicher: Ihre bisherigen grünen Selbstverpflichtungen war vor allem Greenwashing – wie auch bei der LBBW, die unterm umgehängten grünen Mäntelchen Fracking und Kohleabbau finanziert.
Aber diese Ankündigung signalisiert mehr: dass BlackRock & Wallstreet erwarten, gar kein grünes Mäntelchen für ihre klimazerstörenden Profitmacherei mehr zu brauchen! Die Ampel-Reste, sowie Merz, Lindner, Wagenknecht und AfD signalisieren denen doch jetzt schon: Klimaschutzpolitik soll nur noch eine absolut untergeordnete Rolle spielen.
Das sagt uns, dass die vor uns liegende Zeit rau werden wird. Gegen dieses Rollback braucht es eine Gegenbewegung, die die Klimagerechtigkeitsbewegung, Mieter*innen, Sozial- und Umweltverbände und aufgeschlossene Gewerkschaften zusammen und hunderttausende auf die Straßen bringt wie vor einem Jahr.
Das ist noch nicht in Sicht. Davon wären wir ein kleiner Teil, denn wir haben mit langem Atem bewiesen, dass wir nicht nur Bahnhof, aber eben auch sehr viel von Bahnhof, Bahnpolitik und Verkehrswende verstehen. Auf diesem Politikfeld macht uns so leicht keiner was vor.
Und deshalb kommt jetzt nach dem kritischen Blick rundum: der Blick auf das, was uns Stuttgart-21-Gegner 2025 richtig zuversichtlich stimmen kann!
Das Projekt schlingert weiter von Krise zu Krise und kommt dabei dem „Eröffnungstermin“ nicht wirklich näher. Wenn der novellierte § 23 AEG vom Bundestag nicht wieder entschärft wird, ist die Gleisvorfeldbebauung Geschichte. Zum Glück für unsere Stadt!
Aber selbst wenn der heute absolute Schutz des Gleisvorfelds vor Bebauung durch Bundestagsbeschluss fallen sollte, haben wir weiter ausgesprochen gute Karten beim Kampf um den Erhalt der oberirdischen Gleise:
Denn erstens: der Tunnelunsinn wird immer unbezahlbarer. Das Zaubermittel zur Leistungssteigerung des Tunnelbahnhofs namens „Digitalisierung Stufe 3“ ist weiter nicht finanziert. Ob eine neue Regierung das ändern wird, steht in den Sternen. Milliarden Mehrkosten des Projekts können laut Gerichtsurteil nicht auf Stadt und Land abgewälzt werden. Der Stadtkämmerer weiß heute auch noch nicht, woher die 1,6 Mrd. Euro für die Erschließung des Phantomviertels Rosenstein kommen sollen.
Denn zweitens: der Eröffnungstermin Ende 2026 ist heute schon Utopie – weil der Untertürkheimer Abstellbahnhof und seine Verbindung zum Tunnelbahnhof nicht im entferntesten leisten, was versprochen wurde. Die Mängel sind so eklatant, dass die Bahn neu planen muss. Und das dauert, sagt die Bahn selber: „Die erforderlichen Planänderungen und die anschließende bauliche Umsetzung sind bis zur Inbetriebnahme von Stuttgart 21 im Dezember 2026 zeitlich nicht möglich“. Und es kostet wieder mehr.
Sogar das S21-treue Verkehrsministerium nennt die nun von der Bahn vorläufig angestrebte Lösung „inkomplett und unbefriedigend“. Was von der behaupteten Inbetriebnahme im Dezember 2026 dann wohl noch übrig bleibt? Ein Auftritt für das Ballett in den völlig bahnverkehrsberuhigten Ingenhoven-Röhren?
Genaueres zum Abstellbahnhof werdet ihr demnächst von Jörg Jäkel hören, der das Untertürkheimer Desaster analysiert hat. Er ist auch eine treibende Kraft in der Pro-Gäubahn-Bewegung entlang der Gäubahnstrecke. Genau vor einem Jahr hat er schon hier seine Rede unter den Titel gestellt: „Die Gäubahn wird zum Schlüssel für den Erhalt des Kopfbahnhofs“.
Und drittens: ihr wisst, dass sich unter dem Pro-Gäubahn-Druck in den Anrainergemeinden im Süden Grüne und CDU schon für die Gäubahnanbindung an den oberirdischen Kopfbahnhof ausgesprochen haben. Im Norden von BW hapert es da noch, besonders faktenresistent sind da die Stuttgarter Grünen. Also wird der Druck weiter erhöht: bis in den Februar sind bereits Veranstaltungen geplant, bei denen Jürgen Resch dabei ist und unsere Fachleute – in Konstanz, in Böblingen, in Sulz, in Singen, in Rottweil.
Und Mitte Februar wird an drei Tagen die Klage der DUH gegen die Gäubahnkappung verhandelt. An drei Tagen! Das signalisiert, für wie ernst und stichhaltig die Klage vom Gericht genommen wird.
Notiert euch auch bitte für Stuttgart schon die Kundgebung von Pro Gäubahn am 23.1.2025 um 16 Uhr vor dem Rathaus, natürlich mit Jürgen Resch, Jörg Jäkel und Hannes Rockenbauch – und ganz wichtig: die Veranstaltung der Deutschen Umwelthilfe am 30.1.2025 im Stuttgarter Rathaus, Großer Saal – dort werden Benedikt Weibel, Claus Weselsky und Jürgen Resch das Umsteuern auf ihren „Plan B“ von der Politik fordern – also „oben bleiben“ statt Gleisabbau! Und damit eine Chance für eine wirkliche Steigerung des Bahnverkehrs im Knoten Stuttgart – ohne Gäubahnkappung, ohne Pfaffensteigtunnel und ohne Umsteigebahnhöfe-Quatsch in Vaihingen, Feuerbach und Cannstatt im sogenannten Gleisdreieck von Verkehrsminister Hermann!
Liebe Freund*innen, das alles sind für unseren Kampf 2025 um den Erhalt des Kopfbahnhofs gute Nachrichten! Wir hatten in Stuttgart doch oft das Gefühl, bei unserem Kampf auf verlorenem Posten zu stehen und nur noch trotzig die Stellung zu halten – während überall sonst das widerständige Leben pulsiert hat, vom Hambacher Forst bis zu „Deutsche Wohnen enteignen“ in Berlin.
Mir geht es heute eher umgekehrt: trotz vieler bedrückender Situationen beim Blick über den Kesselrand hinaus, haben wir hier gerade bei uns, in unserem Kampf, viel Grund zu Optimismus und sehen Licht am Horizont.
Bertolt Brecht schrieb im ebenfalls düsteren 1944 im Lied von der Moldau: „Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine“. Das ist die Melodie des langen Atems der Geschichte. Resignieren kommt für uns deshalb nicht in Frage. Denn Resignation ist genau das, was alle wollen, die nichts wollen beim Klimaschutz.
Ich will deshalb mit einem guten Vorsatz für uns alle für das kommende Jahr schließen: Lasst uns stets so handeln, dass wir Merz, Lindner, Scholz, Habeck und Co. und allen Tunnelparteien extrem auf die Nerven gehen! Und wie nervig kann da ein sturer Haufen von Obenbleibern von Konstanz bis Stuttgart sein, der sich schlicht weigert, zu resignieren?!
An uns soll es nicht liegen! Mit unserer Fähigkeit zum weiten Horizont und unserem Willen zum Durchhalten werden wir die Chancen des Jahres 2025 für den Kopfbahnhoferhalt nutzen!
Und Oben Bleiben!