Den rücksichtslosen Egoismus der Stuttgarter Politik beenden

Rede von Johanna Tiarks, Fraktionsvorsitzende im Gemeinderat ‚Die Linke und SÖS‘, auf der 737. Montagsdemo am 16.12.2024

Liebe Freund*innen,

ich freue mich, dass ich heute hier sprechen kann, denn momentan geht es ja heftig zur Sache rund um Stuttgart 21 und die Bahnpolitik! Insgesamt können wir, denke ich, feststellen: das ist gut für unseren Kampf um den Kopfbahnhof, und es schadet umgekehrt den faktenresistenten Tunnelbau-Unterstützern!

Besonders faktenresistent, weil mit der Bau- und Immobilienindustrie eng verbandelt, ist die Spitze der Stadtverwaltung, namentlich Oberbürgermeister Nopper – und inzwischen aber auch der Baubürgermeister Pätzold. Sie wollen mit Unterstützung der Gemeinderatsmehrheit Verfassungsbeschwerde gegen den novellierten § 23 Allgemeines Eisenbahngesetz (AEG) einlegen – obwohl namhafte Juristen im Verkehrsausschuss des Bundestags am 2.12.24 erklärt hatten, warum sie und die Stuttgarter Tunnelparteien inclusive den Grünen damit scheitern werden!

Egal, sie haben ja gut bezahlte Anwaltskanzleien, die sie gegen hohe Honorare dabei unterstützen, und bei denen offenbar gilt: „Wer zahlt, schafft an!“

Genauso will es die Verwaltung und die Mehrheit im Rat scheint’s mit der nächsten Vernichtung von wertvollem Baumbestand auf dem sogenannten Stuttgart-21-C-Areal halten, Motto: legal – illegal – scheißegal, Hauptsache es dient Stuttgart 21!

Morgen Vormittag soll der Städtebauausschuss davon „Kenntnis nehmen“ – und das heißt: durchwinken! Er soll durchwinken, dass auf dem C1-Areal am Nordbahnhof bis Ende Februar 2025 134 Bäume gefällt werden, 51 davon mit Stammumfängen von über 80 cm – hier seht ihr, wie groß Bäume mit 80 cm Stammumfang sind! Was das für das Stadtklima bei der beschleunigten Klimaerwärmung bedeutet, könnt ihr euch vorstellen.

Und es gibt noch andere Gründe, warum auch wir als Fraktion ‚Die Linke und SÖS‘ da stopp sagen: die gefällten Bäume sollen auf dem „Rosensteinareal“ nachgepflanzt werden. Nach heute geltender Rechtslage ist dort weder Bebauung noch „Begleitgrün“ zulässig, sondern das Gleisvorfeld ist nach dem geltenden § 23 AEG für den Eisenbahnverkehr reserviert! Allein deshalb müssen die Fällungen unterbleiben!

Zum novellierten § 23 AEG habt ihr vergangenen Montag hier einen Bericht von Werner Sauerborn gehört. Er hat über die Anhörung im Verkehrsausschuss des deutschen Bundestags am 2.12. berichtet, denn er war von der LINKEN im Bundestag als Sachverständiger eingeladen worden, um dort zu sprechen. Ihr habt schon viel zu diesem Gesetz gehört, lasst mich noch einmal kurz rekapitulieren. Die Auseinandersetzung um den AEG § 23 ist eines der vielen Krisenmomente der Tunnelbahnhofsprofiteure und ihrer politischen Unterstützer*innen. Die Krise verschärft sich, und damit werden unsere Chancen, den Kopfbahnhof zu erhalten, momentan immer größer!

Werner Sauerborn wurde also eingeladen, im Verkehrsausschuss einen Gesetzentwurf der CDU zum § 23 AEG zu bewerten. Der CDU-Gesetzentwurf soll eine erst Ende 2023 beschlossene Neufassung dieses § 23 AEG wieder rückgängig machen. Denn der novellierte und somit heute geltende § 23 AEG hat das Potential, Bahnflächen für künftige Reaktivierungen und Ausbau von Schienenverkehr zu reservieren, um sie vor den Verwertungsinteressen von Bahnvorstand, Immobilien- und Bauindustrie sowie Kommunen zu schützen – in ganz Deutschland! Denn wenn eine Fläche der Bahn erst einmal verkauft und womöglich bebaut ist, ist eine Nutzung für Streckenreaktivierung oder für den Bau neuer Gleise so gut wie un­mög­lich. Ein einmal bebautes Gleisvorfeld unseres Kopfbahnhofs wäre für einen Ausbau des Bahnverkehrs verloren.

Nicht umsonst wird deshalb im CDU-Gesetzentwurf regelrecht betont, dass es bei ihrem Gesetzentwurf auch um Stuttgart 21 geht: um die Profitinteressen der Immobilien- und Baukonzerne. Die sollen Vorrang haben vor dem notwendigen Erhalt und dem Ausbau von Schienenverkehr. Deshalb nennen wir den Gesetzentwurf der CDU auch ein Lex Stuttgart 21 – denn mit der heute gültigen Fassung könnte – wie Sie ja alle wissen – das Kopfbahnhof-Gleisvorfeld nicht einfach bebaut werden. Und damit wäre die wirklich allerletzte Legitimation des Tunnelbahnhofprojekts in der Öffentlichkeit dahin: der angeblich dringend nötige Wohnungsbau auf dem Gleisvorfeld, mit dem alle seit Jahren hausieren gehen, von OB Nopper und der CDU über die Grünen Gemeinderäte bis zur SPD in Stadt, Land und Bund. Auch der Bundeskanzler Scholz hat Nopper angeblich seine Unterstützung zugesagt.

Diese Scheinargumente sind von unserer Fraktion im Rathaus und hier auf der Bühne schon oft widerlegt worden, deshalb nur ganz kurz: erstens weiß niemand, ob Ende der 30er Jahre überhaupt zusätzliche Wohnungen gebraucht werden – eins wissen wir aber sicher: bezahlbare Wohnungen werden heute gebraucht! Und die könnten, zweitens, in wenigen Jahren zur Verfügung stehen, wenn die Stadt konsequent gegen Leerstand, Zweckentfremdung und Mietpreistreiberei vorgehen würde – was sie aber nicht tut, sondern die Immobilienfirmen sogar noch deckt, hofiert und in den Wohnungsbeirat als sachkundige Einwohner*innen einlädt. Und jetzt sitzen wir da also im Ausschuss und müssen uns immer die Kommentare von ‚Haus und Grund‘ oder der ‚IWS‘ (Verband der Immobilienwirtschaft) anhören.

Und welche Interessen die private Immobilienwirtschaft hat, kann man wieder einmal wunderbar an der Vonovia sehen: Rund 70 Mieter*innen haben jetzt kurz vor Weihnachten ein bitteres Geschenk erhalten. Sie bekamen einen Brief von Vonovia mit der Information, dass die Mietbindung am Jahresende ausläuft. Das heißt, dass die Mieter*innen künftig in frei finanzierten Wohnungen leben, und die Miete an die ortsübliche Vergleichsmiete angepasst wird. Was das bedeutet, könnt ihr Euch vorstellen. Jetzt sind Mieterhöhungen von bis zu 15% möglich!

Und die Stadt steht mal wieder daneben und sagt, dass sie nichts machen kann. Zwar habe man in zahlreichen Gesprächen versucht, die Mietbindungen zu verlängern, aber die Vonovia wollte nicht. Kein Wunder, hat sie doch eher Interesse daran, Geld in die Taschen ihrer Aktionär*innen zu stopfen, statt bezahlbaren Wohnraum anzubieten. Dabei sind diese 70 Wohnungen erst der Anfang. Nächstes Jahr sind es nochmal 1050 der 4500 Vonovia-Einheiten in Stuttgart.

Das wäre alles nicht nötig gewesen, hätte Rot-Grün 2012 die landeseigenen Wohnungen nicht an die Patrizia verkauft. Und die dann weiter, bis sie irgendwann bei Vonovia gelandet sind. Natürlich mit einem mehr als doppelten Wert! Und jetzt im Wahlkampf versprechen die Parteien wieder bezahlbaren Wohnraum! Nach der Wahl haben sie es dann vergessen und lassen die Mieter*innen ihre verfehlte Politik ausbaden.

Zurück zum Rückenwind, den wir Klima- und Kopfbahnhof-Schützer*innen momentan haben – ein Wind, der den S21-Unterstützer*innen kräftig ins Gesicht bläst: Das ganze Jahr über erleben wir schon eine enorme Mobilisierung in den Kommunen entlang der Gäubahnstrecke Zürich-Stuttgart für den Erhalt des Gäubahnanschlusses an den oberirdischen Kopfbahnhof. Die reicht bis tief in die CDU im Süden Baden-Württembergs hinein.

Eine Klage der Deutschen Umwelthilfe gegen die Gäubahnkappung unterstützt uns, und wird Mitte Februar vor Gericht verhandelt.

Und auch die Grünen im Süden Baden-Württembergs machen für die Gäubahn mobil. Sie haben auf ihrem Landesparteitag einen Beschluss durchgekriegt, dass die Gäubahnstrecke nicht gekappt werden darf, sondern oberirdisch an den Kopfbahnhof angeschlossen bleiben soll. Es ist schon eine kleine Sensation, dass das gelungen ist.

Jetzt sind Parteitagsbeschlüsse ja nicht unbedingt als Verpflichtung für Parteimitglieder in der Regierung zu verstehen, sondern meist als Werbung für bevorstehende Wahlen, wie wir wissen: besonders bei den Grünen und der SPD! Ob der Beschluss von Ministerpräsident Kretschmann und Verkehrsminister Hermann also einfach souverän beiseitegelegt wird oder ob sich tatsächlich was tut – darauf sind wir alle gespannt! Ausdrückliches Ziel sei, „den Beschluss konkret in die Positionierung der Landesregierung einfließen zu lassen,“ sagte der Grünen-Landesvorsitzende Haggenmüller der Kontext-Wochenzeitung!

Wir werden es bald beurteilen können, ob Verkehrsminister Hermann nach dem Motto verfährt: „Der Landesparteitag bellt, die Stuttgart-21-Karawane zieht weiter“, oder ob Hermann den Beschluss umsetzt. Denn die Bahn will Anfang 2026 die Gäubahn kappen, und er müsste folglich für das komplette Jahr 2026 Schienenverkehr auf der Panoramastrecke zum oberirdischen Kopfbahnhof bestellen – und auch für die Folgejahre! Denn er hat, so die Berichte, dem Antrag ebenfalls zugestimmt!

Ja, liebe Freund*innen, das sind spannende Zeiten, AEG § 23 und die Gäubahn-Bewegung sind zwei der vielen Krisenmomente, die Sand ins Getriebe der Kopfbahnhofzerstörer bringen und unsere Chancen verbessern! Aber das ist noch nicht alles. Ihr wisst, dass die S21-Unterstützer*innen und die Bahn ein Wundermittel propagieren, das dem Tiefbahnhof Leistungsfähigkeit besorgen soll: Digitalisierung und ETCS! Es gibt mehr als genug Zweifel, dass das funktionieren kann. Aber die Projektpartner*innen streiten wie die Kesselflicker darüber, wer dafür bezahlen soll. Zuletzt am 6.12.24 im Lenkungskreis.

Dort konnten sich die „Projektpartner“ Bahn, Land, Stadt und Region nicht über die Finanzierung des sogenannten „Digitalen Knoten Stuttgart“ einigen. Und sind wie so oft auseinandergegangen, ohne einen Ausweg aus ihrer Misere präsentieren zu können. Wenn sich die Projektpartner heute, in diesem Stadium des Projekts, nicht einmal auf die Finanzierung der angeblich lebensrettenden Maßnahme zur Tiefbahnhof-Leistungssteigerung einigen können, dann zeigt das: Der Grund, auf dem politische Mehrheiten und Immobilien- und Baukonzerne immer noch ihr Projekt durchsetzen wollen, ist am schwanken. Aber wenigstens die geplanten Milliarden öffentlicher Gelder sollen weiterhin zuverlässig in die Konzernkassen gelenkt werden – durch ständiges Weiterbauen!

Dabei wäre es an der Zeit, den rücksichtslosen Egoismus der Stuttgarter Politik zu beenden. Es kann nicht sein, dass die Interessen der Immobilienhaie für die Mehrheiten im Gemeinderat wichtiger sind als die der Stuttgarter*innen.

Und nicht nur da hat sich einiges verschoben. Das sieht man auch gerade an der Diskussion über die Oper. Als eines der vielen Großprojekte, die die Ratsmehrheiten planen, um sich damit gleich mehrere Denkmäler zu setzen. So soll zudem die Schleyerhalle neu gebaut werden, die Villa Berg wird völlig überdimensioniert saniert, und dann steht auch noch das Konzertforum aus, um nur einige zu nennen. Wenn man diese Millionen für bezahlbaren Wohnraum ausgegeben würde, könnte man den Stuttgarter*innen wirklich helfen!

Stattdessen sollen wir jetzt aber am Mittwoch im Verwaltungsausschuss eine Haushaltssperre und eine globale Minderausgabe beschließen. Warum? Weil Bund und Land sich schlicht nicht an das Konnexitätsprinzip halten. Das heißt, sie bezahlen nicht, was sie bestellt haben. Und das ist schon perfide, geht es doch dabei auch um das Bundesteilhabegesetz. Das heißt, um Leistungen für Menschen mit Behinderung. Und bezahlen müssen es nun alle. Die gesamte Verwaltung muss nun Vorschläge machen, wo sie noch sparen kann. Und wie das ausgeht, können wir uns schon vorstellen. Gespart wird wie immer an Bildung, Sozialem und Kultur, und übrig bleiben die Pflichtaufgaben. Das ist vermutlich nur ein Vorgeschmack darauf, was uns mit der nächsten Bunderegierung erwartet.

Lasst uns weiter gemeinsam kämpfen gegen die Bau- und Immobilienindustrie und für einen klimagerechten Verkehr auf der Schiene mit einem Bahnhof oben!

Oben bleiben!

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