Rede von Dieter Reicherter, Vorsitzender Richter am Landgericht a.D., auf der 733. Montagsdemo am 18.11.2024
Liebe Freundinnen und Freunde,
falls ihr die Überschrift der Rede „Schmierentheater Rosenstein – ein Wutbürger und 7 Fässer Wein“ gelesen habt, habt ihr euch vermutlich gefragt, ob ich jetzt übergeschnappt bin. Nein, so schlimm ist es nicht. Mir kam der Gedanke, dass ihr sicher einverstanden seid, wenn ich eine Woche nach Karnevalsbeginn die Narretei noch einbringe.
Ausgangspunkt für das närrische Treiben in Politik, Wirtschaft und Medien zur Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes, die den Bau des Rosensteinviertels nicht mehr erlaubt, war folgende Äußerung von OB Frank Nopper: „Ganz offensichtlich war sich der Bundesgesetzgeber bei der Novellierung des Paragraf 23 Allgemeines Eisenbahngesetz der Tragweite seiner Entscheidung nicht bewusst oder er befand sich jedenfalls mehrheitlich in einem Zustand kollektiver legislativer Verirrung“. Das klingt von vornherein populistisch und ist es auch. Nopper hat sich in diese Behauptungen immer weiter hineingesteigert und irgendwann war mir, spätestens nach seinem Auftritt im Fernsehen, klar, dass wir den echten Wutbürger gefunden haben. Also den einzigen, den es in Stuttgart gibt. Denn wir selbst sind ja Mutbürgerinnen und Mutbürger und keine Wutbürger.
Nun aber zu dem Gesetz: Offenbar begreift niemand die Zusammenhänge oder will nicht wahrhaben, dass es nicht nur von der Mehrheit des Bundestags beschlossen wurde. Vielmehr hat der Bundesrat am 24.11. 2023 der Gesetzesänderung zugestimmt. Das Protokoll kann man im Internet nachlesen. Und nun wird es interessant. In der Sitzung war es der Tagesordnungspunkt 10. Nun ratet mal, wer bei der Sitzung dabei war: Nicht nur unser Verkehrsminister Winfried Hermann, sondern auch unser Innenminister Thomas Strobl und Sozialminister Manfred Lucha. Sie haben den Beschluss nicht verhindert. Nur Schleswig-Holstein und Bremen gaben eine kritische Erklärung dazu ab. Interessanterweise hat Winfried Hermann zum nachfolgenden TOP 11 gesprochen. Er hätte also gerne auch bei TOP 10 den Mund aufmachen dürfen. Insbesondere gilt das aber für Innenminister Thomas Strobl von der CDU, die jetzt wegen der Gesetzesänderung aufheult. Thomas Strobl ist Rechtsanwalt, also Jurist, und muss offenbar nach der Definition seines Parteifreundes Nopper in der Sitzung umnachtet gewesen sein.
Übrigens habe ich inzwischen schon dreimal im Verkehrsministerium nachgefragt, ob denn Baden-Württemberg im Bundesrat dem Gesetz zugestimmt habe und wenn ja, warum. Obwohl wir vom Aktionsbündnis vor kurzem ein Gespräch mit Minister Hermann hatten und er versprach, mit uns in Kontakt zu bleiben, hat auch zuletzt mein Telefonat mit dem Persönlichen Referenten nicht dazu verholfen, endlich eine Antwort zu bekommen.
Insgesamt gehe ich davon aus, dass sowohl die Bundestagsabgeordneten als auch die Mitglieder des Bundesrats die Konsequenzen ihres Tuns nicht überlegt haben, weil sie so berauscht waren von den vielen Autobahnen, deren Bau gleichzeitig mit der Verschärfung bei der Freistellung von Bahngrundstücken beschlossen wurde.
Wenn man jetzt die ganzen öffentlichen Stellungnahmen aus Politik und Wirtschaft hört, so ist die Aufregung lachhaft. Den jeder Mensch, der sich informiert, erst recht, wenn er Verantwortung trägt, muss wissen, dass der Kopfbahnhof weiter gebraucht wird und die oberirdischen Bahnflächen gar nicht frei werden. Deswegen stellt sich die Frage, ob Wohnungsbau dort nicht mehr erlaubt ist oder das Gesetz wieder geändert werden soll, überhaupt nicht. Nur kann und will das offenbar niemand zugeben aus Furcht, als Gegner des Rosensteinviertels angegriffen zu werden. Und man will auch nicht einräumen, dass man bei S21 die Rechnung ohne den Wirt gemacht hat, als man sich ein neues Stadtviertel erträumt hat, das hauptsächlich auf Kosten der Bahn ermöglicht werden sollte. Keiner will es gewesen sein, denn wir sind ja immer gut in der Suche nach Schuldigen.
Im Schwabenland passt für denjenigen, den man als Übeltäter ausguckt, bekanntlich der Spruch „Oinr isch emmr dr Arsch“. Weil das für Nichtschwaben etwas deftig klingt, hier die Übersetzung ins Hochdeutsche: „Einer ist immer der Depp.“
In die Angst der Ahnungslosen fügt sich auch das als Gespenst an die Wand gemalte Bild einer Brache auf dem jetzigen Gelände des Kopfbahnhofs ein. Also, wenn man den Kopfbahnhof doch nicht mehr bräuchte, dann wäre es für Stadtklima und Artenschutz das Beste überhaupt, wenn dort eine Brache entstünde. In anderen Städten hat man damit sehr gute Erfahrungen gemacht und entscheidende Verbesserungen von Klima und Umwelt erreicht. Abgesehen davon haben wir ja in Stuttgart schon genügend Brachen, um die sich die Stadt nicht kümmert.
Aber wenn man weiter davon träumt, man könne das Rosensteinviertel doch bauen: Dann fragt sich, wie denn das Versprechen von günstigem Wohnraum erfüllt werden soll. Abgesehen davon, dass der Stadtkämmerer kein Geld für die 1 bis 2 Milliarden Euro zur Erschließung des Geländes hat, und es noch 20 Jahre bis zur Bezugsfertigkeit dauern könnte, hat die Stadt auch kein Geld zur Subventionierung der Mieten. Schon jetzt ist klar, dass die Bau- und Erschließungskosten immens hoch sein werden, und sich ein normaler Mensch die Mieten nicht leisten kann. Das betrifft nicht nur die schwäbische Hausfrau, sondern auch Krankenschwestern, Polizisten und andere.
Ich könnte noch viel dazu erzählen, warum die ganze Aufregung ein Sturm im Wasserglas ist und dass man den Kopfbahnhof weiter brauchen wird. Zum Beispiel auch deswegen, weil die Idee, die zentrale Funktion eines Hauptbahnhofs aufzugeben, nämlich die Verknüpfung sämtlicher Bahnlinien sowie der Busse und Stadtbahnen an einem Ort, genauso irre ist wie der Karneval. Der Gipfel der Verrücktheit ist das Nahverkehrsdreieck, dass also die Regionalzüge gar nicht mehr zum Hauptbahnhof fahren, sondern in Vaihingen, Feuerbach oder Bad Cannstatt enden und man sich dann mit S-Bahnen und Stadtbahnen zum Hauptbahnhof durchschlagen muss!
Meine Rede in närrischen Zeiten kann nicht ohne Bernhard Bauer, heute tätig als Märchenonkel für den Verein Bahnprojekt Stuttgart - Ulm e.V. mit Sitz im Lügenturm, enden. Bernhard Bauer war Amtschef im Verkehrsministerium unter Tanja Gönner und fleißiger Förderer von Stuttgart 21. Am 30.9.2010 hat er rechtswidrige Baumfällungen dadurch ermöglicht, dass er der Polizeiführung mitteilte, die Bäume dürften gefällt werden. Ein angebliches Fällungsverbot des Eisenbahn-Bundesamts sei ein Gerücht. In Wahrheit waren die Baumfällungen aber verboten, und der BUND hatte deswegen sogar einen Eilantrag beim Verwaltungsgericht gestellt. Und nun schreibt Bauer auf der Homepage des Vereins: „Der Durchgangsbahnhof kann deutlich mehr Zugverkehr abwickeln als der heutige Kopfbahnhof. Darüber hinaus wird der Bahnknoten Stuttgart in einem deutschlandweiten Pilotprojekt vollständig mit digitaler Leit- und Sicherungstechnik ausgerüstet. Damit kann die im Stresstest nachgewiesene Kapazität noch einmal deutlich erhöht werden.“ Dreister geht es nimmer!
Weil wir beim Fasching oder Karneval sind, darf natürlich das Markenzeichen der Capella Rebella „Wer soll das bezahlen“ nicht fehlen. Das ist ja sowieso ein Karnevalsschlager, trifft aber die Situation der Deutschen Bahn AG voll. Zum einen hat sie das Verwaltungsgericht Stuttgart verdonnert, die inzwischen 7 Milliarden Euro Mehrkosten von Stuttgart 21 alleine zu bezahlen. Ob die Bahn mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde zum Verwaltungsgerichtshof etwas ausrichtet, steht in den Sternen. Selbst wenn die Berufung zugelassen werden würde, dauert es weitere Jahre bis zu einem rechtskräftigen Urteil. Inzwischen laufen die Kosten davon, welche die Bahn sofort bezahlen muss. Nach dem Bruch der Ampelkoalition, übrigens auch eine närrische Geschichte, muss die Bahn außerdem damit rechnen, vom Bund viel weniger Geld zu bekommen als sie eingeplant hat. Man darf gespannt sein, ob sie dann bei Stuttgart 21 radikal spart oder den Bau sogar einstellt.
So, das war jetzt genügend Narretei. Wir wollen es ja nicht übertreiben und einfach nüchtern – oben bleiben!