Die Auswirkungen des Allgemeinen Eisenbahngesetzes auf Stuttgart

Rede von Brigitte Lösch, MdL a.D., Bündnis 90/Die Grünen, auf der 731. Montagsdemo am 4.11.2024

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Alle,

herzlichen Dank für die Einladung, heute nach langer Zeit mal wieder auf einer Montagsdemo sprechen zu können.

Als ehemalige Stuttgarter Landtagsabgeordnete liegt mir Stuttgart 21 immer noch sehr am Herzen – und die Diskussion um das AEG, also das Allgemeine Eisenbahngesetz ist mir ein großes Anliegen.

Im Dezember 2023 wurde eine Änderung des AEG im Bundestag beschlossen, die der Bundesverkehrsminister eingebracht hat. Es ist ja nicht so, dass ein von der FDP geführtes Bundesverkehrsministerium nur Straßen baut, die keiner braucht – oder Schadstoffminimierung für einen Quatsch hält – nein, im Dezember 2023 schaffte es der geänderte Paragraf 23 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes tatsächlich durch sämtliche Institutionen – eine Änderung, die für den Schienenverkehr eine richtig gute Verbesserung darstellt.

In ihm wird die „Freistellung von Bahnbetriebszwecken“ geregelt, das heißt, dass stillgelegte Gleisflächen nicht einfach entwidmet werden können und beispielsweise überbaut werden. Dafür bedarf es zukünftig eines „überragenden öffentlichen Interesses“. Dieses „öffentliche Interesse“ ist nur unter sehr geregelten Voraussetzungen gegeben: Wenn die Neunutzung dem Klimaschutz dient, der Energieversorgungssicherheit, einer funktionierenden Gesundheitsversorgung oder auch der Landesverteidigung. Diese Nachricht hat in Stuttgart nun für große Aufregung gesorgt, denn durch diese Neufassung des Paragrafen 23 des AEG wäre eine Bebauung der Gleisflächen für das geplante Rosenstein-Areal nicht mehr möglich, da diese kein überragendes öffentliches Interesse darstellt.

Diese Tatsache hat nun für einige verbale Entgleisungen geführt, an vorderster Stelle beim Oberbürgermeister. Er bezichtigt die BundespolitikerInnen, die dem Gesetz zugestimmt haben, tatsächlich im Zustand kollektiver Verwirrung zu sein! Eine Frechheit! PolitikerInnen zu unterstellen, dass sie gar nicht genau gewusst haben, was sie da beschließen – eine Unverschämtheit, so etwas zu behaupten! Denn es kann doch vielmehr sein, dass sie genau gewusst haben, was sie da beschließen – und genau auch das gewollt haben.

Ich glaube, dass kann ich hier schon sagen, dass ich den Eindruck habe, dass der OB oftmals nicht so richtig tief in der Materie drinsteckt. Das hat man ja bei seinem Interview im SWR-Dokumentarbeitrag „Amt am Limit – der Staat vor dem Kollaps“ deutlich gesehen. Statt mit Sachwissen aufzuwarten, rastet er vor laufender Kamera aus, selbst die Stuttgarter Zeitung schreibt: „Fremdschämen für den OB“. Souverän sieht anders aus!

Wenn man inhaltlich nichts zu sagen hat, einfach loszupoltern, ist echt peinlich – und jetzt bezogen auf die Änderung des Eisenbahngesetzes gleich eine Verfassungsklage einreichen zu wollen, erscheint mir nicht nur peinlich, sondern unverhältnismäßig.

Um was geht es: Die Stadt Stuttgart strebt nun eine Verfassungsklage an, in der sie dem Bund vorwirft, dass die Änderung des AEG einen Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung darstellt. Dieser Antrag soll am Donnerstag im Gemeinderat beschlossen werden. Da frage ich mich, gehts nicht eine Stufe niedriger? Bisher hat Stuttgart den notwendigen Antrag auf „Freistellung“ – also Entwidmung – noch nicht einmal gestellt, weil das Gleisvorfeld aktuell noch für Bahnzwecke genutzt wird.

Ich glaube nicht, dass hier kommunale Planungshoheit ausgehebelt wird, sondern vielmehr ein Schwerpunkt auf umweltfreundlichen Schienenverkehr gelegt wird!

Liebe Freundinnen und Freunde, wenn ich jetzt hier die Frage stelle, warum S21 ursprünglich geplant worden ist, ist das wie Eulen nach Athen tragen – aber trotzdem: Es war doch so, dass das Bahnprojekt mit seinem neuen Tiefbahnhof und seinem neuen digitalen Bahnknoten das Schienennetz im Südwestern spürbar verbessern sollte – schnellere und bessere Verbindungen sind versprochen worden. Ach ja – und natürlich sollten sich die Kapazitäten vergrößern. Also wenn ich google, steht da immer Bau des neuen Hauptbahnhofs Stuttgart und Neuordnung des Bahnknotens Stuttgarts – da steht nix von Immobilienprojekt und Wohnungsbau!

Lasst mich auch etwas zum überall beschriebenen digitalen Bahnknoten sagen, der ja zur Leistungserhöhung bei den acht Gleisen beitragen soll: da hat sich doch tatsächlich der Ministerpräsident eingeschaltet und um ein Machtwort des Bundeskanzlers gebeten! In dem Schreiben von Kretschmann an Scholz im Juni heißt es, die Umsetzung des Projekts „Digitaler Knoten Stuttgart“ drohe zu scheitern. Erst damit würden in der ganzen Region Kapazitäts- und Leistungssteigerungen möglich. Obwohl der Bund der Bahn bereits 825 Millionen Euro dafür freigegeben hat, weigert sich die Bahn, das Projekt final zu beschließen und spricht von offenen Finanzierungsfragen. Der Bahnvorstand hat das Digitalprojekt per Gremienvorbehalt zunächst gestoppt. Wenn S21 ohne den erforderlichen Baustein 3 im digitalen Knoten in Betrieb genommen wird, leistet der Knoten nicht, was von ihm versprochen wurde, nämlich dass die Leistung und die Kapazität gesteigert würde.

Vom Machtwort des Bundeskanzlers habe ich bisher übrigens noch nichts gehört – und von unserem rührigen, sonst doch gern klagenden OB übrigens auch nichts. Sachverstand im Detail ist halt nicht so seine Sache. Beide – Bundeskanzler und Oberbürgermeister – halten zusammen mit Verkehrsminister Wissing eh für vordringlicher, den Straßenverkehr auszubauen. Und von alledem abgesehen: alle bisher in der Schweiz und Norwegen gemachten praktischen Erfahrungen mit ETCS und Digitalisierung zeigen, dass weder ein „digitaler Knoten“ noch ETCS Level3 die vorprogrammierte Minder-Leistung der 8 Tunnel-Gleise kompensieren werden. Von Leistungssteigerung gegenüber dem Kopfbahnhof ganz zu schweigen.

Das führt mich jetzt zu der Frage, ob es den S21-Befürwortern vielleicht doch gar nicht so sehr um den Schienenverkehr geht, sondern ob es doch nur ein Immobilienprojekt ist? Und, liebe Freundinnen und Freunde, deshalb ist die Aufregung um die Änderung des Paragraf 23 im AEG jetzt so groß, weil das Gesetz zu Recht feststellt, dass der Schienenverkehr oberste Priorität hat und nicht der Immobilien- und Wohnungsbau.

Was also tut jetzt der OB und die Stadtverwaltung? Sie fordern den Gesetzgeber Bund auf, die entsprechenden Paragrafen im AEG unverzüglich wieder zu ändern, da sie einen schwerwiegenden Eingriff in die kommunale Planungshoheit darstellten; diese Regelung würde in Zeiten größter Wohnungsnot den Bau von bis zu 5800 innerstädtischen Wohnungen für rund 10.000 Menschen unter Schonung der grünen Wiese in den Außenbezirken blockieren.

Diese Behauptung weise ich strikt aus zwei Gründen zurück:

  1. Der Vorwurf des Eingriffs in kommunale Selbstverwaltung ist für mich nicht stimmig: es wird zum einen doch vielmehr ein Schwerpunkt eben auf umweltfreundlichen Schienenverkehr gelegt, und
  2. mit dem Vorwurf der Blockade von Wohnungsbau wird natürlich sofort die Neiddebatte eröffnet – allen, die jetzt sozusagen gesetzestreu die Novellierung des AEG akzeptieren und sich somit gegen die Bebauung der Gleisflächen aussprechen, wird Zynismus und Ignoranz gegenüber Wohnungssuchenden vorgeworfen!

Aber liebe Freundinnen und Freunde, genau diese Reaktion ist doch eigentlich zynisch, denn würde die Bebauung der Flächen des Rosensteinquartiers die jetzt existierende Wohnungslosigkeit lösen? Diese Argumentation ist doch ein Witz – da wird die Antwort auf ein aktuelles brisantes Thema einfach in die Zukunft verschoben! Frühestens Mitte bis Ende der 2030er Jahre könnte mit der Bebauung der Gleisflächen begonnen werden, wie es dann in Stuttgart mit Wohnungen aussieht, das kann heute noch niemand sagen. Wir brauchen doch jetzt Aktivitäten, schon jetzt gibt es ungenutzt brachliegende Flächen in Stuttgart: was ist mit dem ENBW-Areal, was ist mit der Brache hinter der ehemaligen Bundesbahndirektion? Warum ist das C-Areal im Rosensteinquartier nicht schon längst entwickelt?

Warum höre ich nichts vom OB, wenn es darum geht, den FDP-Bundesminister Buschmann aufzufordern, für besseren Mieterschutz zu sorgen und das „möblierte Wohnen auf Zeit“ zu verhindern, wie am Samstag in der Stuttgarter Zeitung berichtet.

Wir brauchen jetzt bezahlbaren Wohnraum für Familien und nicht Zukunftspläne für schicke Zweizimmerappartements und eine Phantomdebatte über bezahlbaren Wohnraum 2030!

Liebe Freundinnen und Freunde, für mich gibt es keinen Grund, eine Verfassungsklage einzureichen, und keinen Grund, am Zustand der Bundestagsabgeordneten zu zweifeln, denen der OB ja in respektloser Art einen Zustand kollektiver legislativer Verwirrung attestiert hat. So hat doch der baden-württembergische Bundestagsabgeordnete Michael Theurer – seinerzeit noch Staatssekretar im Bundesverkehrsministerium – ganz klar die Rechtsauffassung des AEG bestätigt, nämlich dass Wohnungsbau keinen vorrangigen öffentlichen Belang darstellt, um die Flächen zu entwidmen.

Und es stellt sich weiterhin die Frage, ob der Oberbürgermeister seinen Vorwurf der „kollektiven legislativen Verwirrung“ ausweiten möchte auf die Mitglieder im Bundesrat, wo am 24. November 2023 dem Tagesordnungspunkt 10 – also Aussprache zur Änderung des AEG – ohne Aussprache zugestimmt wurde. Vertreten waren in dieser Sitzung der Verkehrsminister Winfried Hermann sowie der Innenminister Thomas Strobl. Nur zwei Länder, Bremen und Schleswig-Holstein, haben ihre Erklärungen zu Protokoll gegeben, warum sie sich enthalten. Hätten da nicht der Verkehrsminister und vor allem auch der Innenminister, der ja Jurist ist, erkennen müssen, welche Konsequenzen das in ihrer Anwesenheit beschlossene Gesetz haben wird? Und dann von Vertrauensbruch zu sprechen, das find ich schon ein dickes Ei!

Wenn ich all die Vertrauensbrüche der S21-Befürworter aufzählen müsste, stände ich morgen noch da. Ich glaube, der größte Vertrauensbruch war die Finanzierung – und vor allem auch die falschen Zahlen bei der Volksabstimmung!

Liebe Freundinnen und Freunde, lasst uns gemeinsam unser Schienennetz vor kurzsichtigen Freistellungsaktionen schützen und gemeinsam für eine ökologische Verkehrswende einstehen, die den Verkehr von der Straße auf die Schiene bringt.

Dabei gibt es ausreichend Gründe – die Gäubahn habe ich jetzt noch gar nicht erwähnt – also es gibt ausreichend Gründe, die oberirdischen Gleise zu behalten!

Oben bleiben!

Rede von Brigitte Lösch

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