Die Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes, die öffentliche Debatte und die Auswirkungen auf Stuttgart 21

Rede von Bernd Riexinger, Mitglied des Deutschen Bundestages und des Verkehrsausschusses, auf der 719. Montagsdemo am12.8.2024

Liebe Freundinnen und Freunde,

jahrelang wurden die S21-Gegner und Gegnerinnen von den meisten Stadt-, Landes- und Bundespolitikern, wie auch den Medien nahezu komplett ignoriert. Stuttgart 21 wäre entschieden, das Bahnprojekt kommt, der Protest sei pure Nostalgie. Wen juckt es schon, dass der neue Bahnhof Unsummen verschlingt und den Bahnbetrieb zurückbaut, die Inbetriebnahme von Jahr zu Jahr verschoben wird und der Brandschutz trotz gegenteiliger Beteuerungen keinesfalls gesichert ist.

Jetzt auf einmal gibt es schon seit langem nicht mehr gekannte Angriffe auf die Befürworter des Kopfbahnhofes und die S21-Gegner*innen. Nachdem die S21-Gegner*innen die Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) begrüßten, spritzte der Hauptgeschäftsführer der baden-württembergischen Bauwirtschaft Thomas Möller Gift und Galle: „Eine solche Aussage ist an Zynismus nicht zu überbieten“. In Stuttgart würde große Wohnungslosigkeit herrschen. Vor allem bezahlbarer Wohnraum würde benötigt. Möller: „In dieser Situation ist das Stadtentwicklungsprojekt Rosenstein eine Riesenchance, die nicht verspielt werden darf“. Das Aktionsbündnis würde schlichtweg die Bedürfnisse tausender Wohnungssuchender ignorieren. Offensichtlich handelte es sich um Menschen, die selbst gut mit Wohnraum versorgt und daher von der katastrophalen Lage auf dem Immobilienmarkt nicht betroffen seien.

Auch der Oberbürgermeister der Stadt, Frank Nopper, geißelte die Bundesregierung, sprach von einem Zustand kollektiver legislativer Verwirrung: „Diese Gesetzesänderung mutet an wie ein Treppenwitz der Gesetzgebungsgeschichte. Sie würde in Zeiten größter Wohnungsnot den Bau von bis zu 5.800 innerstädtischen Wohnungen für rund 10.000 Menschen blockieren“.

Liebe Freundinnen und Freunde, bevor ich auf die Gesetzgebungsfrage eingehe, gestattet mir einige Bemerkungen zur Wohnungs- und Bebauungsfrage.

  1. Seit mindestens 50 Jahren fehlt es in Stuttgart an bezahlbaren Wohnungen. Das bisherige Nichtstun von Stadt und Land beim sozialen Wohnungsbau ist dafür verantwortlich. Auf S21 zu bauen, hieße die Wohnungssuchenden auf mindestens 2040 zu vertrösten, denn so lange würde es dauern, bis die ersten Wohnungen gebaut würden – wenn überhaupt. Das ist der bittere Treppenwitz, von dem Nopper spricht. Die Menschen in Stuttgart brauchen jetzt bezahlbare Wohnungen und nicht in 15 oder 20 Jahren.
  2. Wer glaubt ernsthaft, dass ausgerechnet in bester Citylage, angrenzend an den Rosensteinpark, bezahlbare Wohnungen entstehen? Das ist der zweite Treppenwitz.
  3. 2011 lag die Zahl der Wohnungsnotfälle in Stuttgart bei 2.800, jetzt liegt sie bei über 5.000. 100.000 Mieterhaushalte haben Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein. Der Bestand an Sozialwohnungen steigt kaum. Das ist Komplettversagen der Wohnungspolitik in Bund, Land und Stadt und leider kein Treppenwitz.
  4. Die Stadt hätte genug andere Möglichkeiten, Sozialwohnungen zu bauen: auf dem ehemaligen IBM-Gelände, dem EnBW-Areal und sogar auf dem sogenannten C-Areal, zwischen Nord­bahnhof und Pragfriedhof. Es ist absolut unverständlich, warum das nicht längst in Angriff genommen wird.
  5. In Deutschland stehen 2,5 Millionen Wohnungen leer. In Stuttgart sind es vermutlich bis zu 10.000. Die Stadt unternimmt wenig bis nichts, um diesen Missstand zu beseitigen, hat kaum Personal eingestellt, um den Leerstand überhaupt zu ermitteln. Außerdem stehen Bürogebäude leer, die längst zu Wohnzwecken umgebaut werden könnten.

Wer mit Wohnungen argumentiert und eine dermaßen miserable Bilanz beim sozialen Wohnungsbau vorzuweisen hat, kann nicht ernst genommen werden, wenn er ausgerechnet bei S21 sein Herz für die Wohnungssuchenden entdeckt.

Dazu kommt noch, dass das Gelände von S21 dringend als Frischluftschneise gebraucht wird. Stuttgart gehört heute schon zu den heißesten Städten Deutschlands. Die weitere prognostizierte Klimaerwärmung, die ebenfalls einer Politik des ‚Weiter so‘ und scheinbar unbegrenzten Wachstums geschuldet ist, wird für viele ältere und kränkere Menschen lebensgefährlich. Besonders betroffen sind davon einkommensärmere Familien, die an besonders verkehrsreichen Straßen und in Kessellage wohnen. Also die Menschen, die Nopper und andere jetzt auf einmal vertreten wollen.

Liebe Freundinnen und Freunde, aber nun zum eigentlichen Aufreger, der Änderung des Paragrafen 23 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes. Die wesentliche Änderung ist, dass Flächen, auf denen Eisenbahnlinien stillgelegt oder abgeknipst werden, nur dann anderweitig – in der Regel von anderen Trägern – bebaut werden dürfen, wenn es im überragenden öffentlichen Interesse ist. Überragendes öffentliches Interesse ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. In der Regel geht es dabei um Fragen der Verteidigung, um Infrastrukturmaßahmen wie Straßenbau oder Ähnliches, oder auch um Windkraftanlagen, nicht jedoch um Wohnungsbau. De facto wurde sogar in den Gesetzestext geschrieben, dass die Bahnflächen zur grundsätzlichen Aufrechterhaltung der Nutzung als Verkehrsfläche dienen müssen, und dass für eine Entwidmung ein Interesse vorliegen muss, welches das überragende öffentliche Interesse überwiegt.

Diese Interpretation legt wohl auch das Eisenbahn-Bundesamt zu Grunde, so dass die Bebauung der Bahnhofsgleisvorfläche nicht möglich ist. Ein harter und unerwarteter Schlag für die unbelehrbaren S21-Anhänger und vor allem für die Immobilienwirtschaft, die ja am meisten von der Bebauung profitieren würde.

Warum ist die ganze Sache erst jetzt ans Licht der Öffentlichkeit gelangt? Schließlich wurde die Änderung bereits im Oktober 2023 beschlossen. Vermutlich hängt das damit zusammen, dass die Änderung Teil des Gesetzes zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren im Verkehrsbereich und zur Umsetzung der EU-Richtlinie 2021/1187 über die Straffung von Maßnahmen zur rascheren Verwirklichung des transeuropäischen Verkehrsnetzes (TEN) war.

In diesem enthalten war auch die Liste von Neubauprojekten für Autobahnen, die priorisiert und beschleunigt genehmigt und gebaut werden sollen. Namentlich aufgeführt wurden 138 Autobahnprojekte. Eine Festlegung für verschiedene Infrastrukturprojekte des „überragenden öffentlichen Interesses“. Dabei geht um Vorrang vor anderen Regelungen, insbesondere Umweltauflagen, wie Habitatschutz, Artenschutz usw. Besonders sollen Erweiterungsbauten für Autobahnen erleichtert werden. Das hier formulierte überragende Interesse ist in diesem Falle kein Fort- sondern ein Rückschritt. Deshalb haben wir dem Gesetzespaket nicht zugestimmt, jedoch habe ich im Verkehrsausschuss deutlich gemacht, dass wir die Änderungen bei der Schiene begrüßen.

Um diesen Punkt, also die Änderung des Eisenbahngesetzes, gab es keinerlei Diskussion. Vermutlich waren die Autobahnbauer FDP, CDU, AfD und auch die SPD so euphorisiert über die Beschleunigung beim Bau neuer Autobahnen, dass sie die Gesetzesänderung, die jetzt skandalisiert wird, gar nicht bemerkten. Auch die Grünen stimmten für das Beschleunigungsgesetz. Ich habe nochmal nach­geschaut, ob die Änderung des Eisenbahngesetzes bei der Anhörung der Sachverständigen durch den Verkehrsausschuss ein Thema war – war es nicht. Auch Tim-Oliver Müller, Hauptgeschäftsführer des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie, hatte dazu nichts gesagt. Das nur dazu, weil der baden-württembergische Geschäftsführer der Bauwirtschaft so große Töne gegen S21-Gegner gespuckt hat. Ich vermute, dass sich nicht einmal die Regierungsvertreter der Ampel bewusst darüber waren, was sie da ins Allgemeine Eisenbahngesetz reingeschrieben haben, und welche Folgen das z.B. für S21 hat.

Aufgefallen ist dies dann dem Deutschen Städtetag, der am 31. Mai 2024 alle Fraktionen informierte – außer uns. Der Brief wurde an Thomas Lutze geschickt, der vormals verkehrspolitischer Sprecher der Linken war, jedoch schon vor längerem zur SPD übergetreten ist. Der Städtetag hat offensichtlich keine aktuelle Personenliste, so dass ich diesen Brief gar nicht bekam. Der Städtetag beklagte sich, dass wichtige Baumaßnahmen verschiedener Kommunen gefährdet sind, weil das Eisenbahn-Bundesamt derzeit Freistellungsanträge für nicht mehr benötigte Bahnflächen zurückweise, selbst wenn bereits konkrete Veräußerungen mit den Städten vereinbart wurden. Der Städtetag fordert deshalb die Fraktionen auf, das Gesetz wieder zu ändern, und die Entwidmung von Bahnflächen deutlich niedrigschwelliger anzusetzen.

Bisher wurde das von keiner Fraktion aufgegriffen. Im Verkehrsausschuss war das seither kein Thema. Ich befürchte jedoch, dass das nicht so bleiben wird.

Es ist nur schwer vorstellbar, dass die vehementen Befürworter von S21 sich mit ihrer bisher härtesten Niederlage abfinden werden. Sie werden lautstark die Rücknahme der Änderung durch eine erneute Gesetzesänderung fordern. Ich befürchte, in der Ampel werden sie auf keinen Widerstand stoßen – im Gegenteil. Der Grüne Verkehrspolitiker Matthias Gastel sprach sich bereits öffentlich für praktikable Lösungen aus, was immer das konkret heißen soll.

Liebe Freundinnen und Freunde, es gibt mehr als genug Gründe, die oberirdischen Gleise zu erhalten. Die Stuttgarter wären mehr als schlecht beraten, einen funktionierenden Kopfbahnhof für ein unsicheres und dysfunktionales Projekt zu opfern. Eigentlich wäre die aktuelle Rechtslage ein guter Grund für alle Akteure, aus dem völlig aus dem Ruder gelaufenen Großprojekt auszusteigen. Ich befürchte jedoch, dass sie diese Brücke nicht betreten werden. Trotzdem ist die aktuelle Gesetzeslage ein Erfolg für uns. Das sollte uns ermutigen für den weiteren Kampf für einen erneuerten Kopfbahnhof!

Oben bleiben!

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