Rede von Martin Poguntke, Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21, auf der 711. Montagsdemo am 17.6.2024
Liebe Freundinnen und Freunde eines attraktiven Bahnverkehrs,
am vergangenen Dienstag haben rund 40 Mitstreiter*innen vor dem IHK-Gebäude in der Jägerstraße einen kräftigen „Lenkungskreis-Tango“ angestimmt. Der sogenannte „Lenkungs“kreis hatte nämlich – nach seiner nichtöffentlichen Sitzung – dort seine Pressekonferenz abgehalten. Ergebnis: Es passiert das, was im Grunde alle schon gewusst haben: Der Tiefbahnhof soll – bevor er endgültig den Betrieb aufnimmt – von Ende 2025 an ein Jahr lang mit allen möglichen Zugarten getestet werden. Und es sollen dann auch Testfahrten mit echten Zügen stattfinden – und immer wieder sogar mit echten Fahrgästen.
Ich kann mir schon die Lautsprecherdurchsagen in den Zügen vorstellen: „Verehrte Fahrgäste, dieser Zug wird in Stuttgart nicht im oberirdischen Kopfbahnhof halten, sondern im neuen Tiefbahnhof. Sie setzen die weitere Fahrt auf eigene Gefahr fort. Fahrgäste, die in Stuttgart umsteigen wollen, werden darauf aufmerksam gemacht, dass es noch keine direkte Verbindung zum alten Kopfbahnhof gibt.“
Meines Erachtens ist es der Bahn gar nicht vorzuwerfen, dass sie einen einjährigen Testbetrieb durchführen will – im Gegenteil. Vorzuwerfen ist ihr vielmehr, dass sie offenbar ernsthaft erwogen hatte, den realen Betrieb ohne(!) Testphase aufzunehmen. Es wäre ja völlig unkalkulierbar geworden, wann die Fahrt bei welchen Zügen klappt oder nicht klappt. Obwohl, das ist ja inzwischen bei der Bahn der Normalzustand geworden.
Was der Bahn vorzuwerfen ist – außer, dass sie offenbar allen Ernstes keinen Testbetrieb vorhatte – ist jedoch, dass sie das Märchen verbreitet, bereits nach einem Jahr Testbetrieb sei dann ein regulärer Betrieb möglich. Hallo? Habt ihr realisiert, dass hier das neue Zugsteuerungssystem ETCS eingebaut werden soll, eine der komplexesten Aufgaben der bisherigen Bahngeschichte?! Ihr sagt doch selbst – Zitat Infrastrukturvorstand Berthold Huber: „Stuttgart 21 ist die komplexeste Inbetriebnahme eines neuen Bahnknotens in Europa.“ Nicht nur, weil ETCS unglaublich komplex ist, sondern auch, weil der Stuttgarter Bahnknoten einer der komplexesten Deutschlands ist.
Und da frage ich: Wenn jemand, sagen wir, eine neue Betonmischung erfindet, probiert er die als erstes bei einem 20-stöckigen Haus aus? Nein, er wird doch erstmal bei einem 1- oder 2-stöckigen versuchen, ob alles klappt wie gedacht. Aber ihr probiert ETCS nicht erstmal an ein paar einfachen regionalen Kleinbahnhöfen aus. Nein, ihr macht eure ersten Gehversuche damit an einer der schwierigsten Stellen Deutschlands.
Dass das auf keinen Fall von Anfang an klappen wird und auch nicht schon nach einem Jahr, ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Das ist so sicher, dass ich einen Verdacht habe, den ich aber nicht belegen kann: Ich habe den Verdacht, die Bahn nimmt mit vollem Bewusstsein in Kauf, dass der Bahnknoten Stuttgart – und damit die Bahn bundesweit – auf lange Zeit nicht mehr richtig funktionieren wird. Die Autoindustrie sagt danke.
Es hat bis zum heutigen Verkehrsminister fünf Vorgänger und deren intensive Arbeit gebraucht, um die Bahn so herunterzuwirtschaften, wie sie heute dasteht. Da passt es ins Konzept, der Bahn bundesweit einen weiteren schweren Rückschlag zu verpassen, indem man auf solch fahrlässige Weise ein neues Zugsteuerungssystem einzuführen versucht. Ja, zu diesem ETCS gibt es sicher keine Alternative. Es ist sinnvoll, es bundesweit einzuführen. Aber doch nicht in einem solchen Hauruck-Verfahren und nicht als erstes hier in Stuttgart!
Ich sage immer: Wer die Bahn kaputt machen will, muss behaupten, sie verbessern zu wollen. Und das behaupten sie alle – allen voran der unselige Ronald Pofalla. Er war es ja, der 2020 plötzlich die vollständige Digitalisierung von S21 und allen umgebenden S-Bahn-Strecken aus dem Hut zauberte. Das war sicher eine gute Idee zur Förderung der Digital-Wirtschaft – aber der Todesstoß für ein alsbaldiges Funktionieren des zu kleinen Tiefbahnhofs. Immerhin hat man auf diese Weise Zeit gewonnen: Weil die Einrichtung von ETCS noch viele Jahr benötigen wird, wird man noch viele Jahre behaupten können, die mangelnde Leistungsfähigkeit von S21 liege am noch nicht vollständig umgesetzten Digitalen Knoten Stuttgart.
Jetzt schießen wir uns gerade wieder – zu Recht – auf die Bahn ein. Aber vergessen wir den Lenkungskreis nicht! Der könnte ja schließlich umsteuern. Aber er tut es nicht. Der Lenkungskreis lenkt nicht, er ist ein Durchwink-Kreis. Und das hat seine Gründe.
Das Projekt Stuttgart 21 ist ja eingefädelt worden, nicht, um den hiesigen Bahnverkehr zu verbessern, sondern um riesige Investitionen in die Bauwirtschaft nach Baden-Württemberg zu bringen. Vielleicht haben Sie’s auch noch vor Augen und Ohren, wie der damalige Ministerpräsident Teufel bei der Projekt-Vorstellung 1994 betonte, warum für das Projekt damals eine einmalige Chance bestand: nämlich wörtlich: „weil der Verkehrsminister in Berlin, Matthias Wissmann, ein ‚Stuttgarter‘ war, und weil zugleich der Bahn-Chef, Heinz Dürr, ebenfalls ein ‚Stuttgarter‘ war.“ Das bot die einmalige Chance, der Bahn ein „eigenwirtschaftliches“ Projekt aufs Auge zu drücken, das lediglich – so war jedenfalls die Absicht – der baden-württembergischen Wirtschaft Nutzen bringen sollte, aber für die Bahn ein unkalkulierbares Risiko darstellte.
Wer die Szene mit Teufel, Wissmann und Dürr noch einmal sehen und hören will – jetzt kommt ein kleiner Werbe-Block – der kann das z.B. am Donnerstag in einer Woche, am 27. Juni um 19.30 Uhr in der Kinothek in Obertürkheim tun. Da wird nämlich wieder der klasse S21-Film „Das Trojanische Pferd“ von Klaus Gietinger gezeigt. Herzliche Einladung dazu! Weitersagen! Es lohnt sich – nicht nur wegen des Films, sondern auch wegen dieses wunderbaren kleinen Kinos.
In diesem Film kommt auch Heinz Dürr zu Wort und gibt freimütig zu Protokoll, Stuttgart 21 sei ein „politisches“ Projekt, das die Gelegenheit für einen ganz neuen Stadtteil eröffne. Das hätten die Leute aber nicht verstanden. Und dann – jetzt wörtlich – „und dann ist das auf einmal ein Bahnhof geworden“.
Also: Stuttgart 21 ist ein rein baden-württembergisches Investitionsprojekt für die Bauwirtschaft, das auf Kosten der Bahn umgesetzt werden soll. Und da der Lenkungskreis ausschließlich aus Vertretern der baden-württembergischen Politik besteht, ist seine Aufgabe folgerichtig nur die eine: sicherzustellen, dass diese Investitionen auch wirklich in ausreichender Höhe nach Baden-Württemberg fließen. Also: weiterbauen, weiterbauen, weiterbauen!
Und die einzelnen Vertreter von Landesregierung, Flughafen, Region Stuttgart und Stadt Stuttgart versuchen eben, dazwischen noch ihre je eigenen – und teils sehr konträren – Interessen unterzubringen: Rosensteinquartier, ÖPNV, Wirtschaftsförderung, Flughafenbahnhof mit Verbindung ins Gäu. Und der Landesverkehrsminister will irgendwie noch einen funktionierenden Bahnverkehr hinbekommen – ohne die Pläne der andern zu durchkreuzen – und plant deshalb das sogenannte Nahverkehrsdreieck, das den Verkehr, den der Tiefbahnhof nicht schafft, am Stadtrand aufnehmen und um den Tiefbahnhof herumführen soll.
Und weil er wohl zeigen wollte, dass er treu zu S21 steht, hat er sich dann mitten in der Pressekonferenz auf einmal heftig über die S21-Gegner empört: Die würden ständig den angeblich mangelhaften Brandschutz von S21 zum Thema machen, obwohl der doch zweifelsfrei gesichert sei. Ein richtiges Zörnle soll er wohl da bekommen haben.
Vielleicht müsste ihm mal jemand erklären, dass er irrt, wenn er meint, es reiche für den Brandschutz aus, alle Regeln beachtet zu haben – zumal ja immer nur die Minimalregeln eingehalten wurden. Das reicht bestenfalls, um bauen zu dürfen, aber nicht, um Züge fahren lassen zu dürfen. Dafür ist rechtlich unumstößlich notwendig – und das ist auch eine der Regeln des Eisenbahnbundesamts, dass der Nachweis geführt werden muss, dass dieser Brandschutz auch funktioniert. Also sowohl die Selbstrettung als auch die technischen Anlagen. Ohne diesen Nachweis reicht alles Regeleinhalten nichts – es gibt dann keine Betriebsgenehmigung. Und wenn doch, dann haben wir sehr gute Möglichkeiten, dagegen zu klagen.
Also: Der Lenkungskreis hat ganz offensichtlich die Aufgabe, auf Kosten der Bahn Investitionen nach Baden-Württemberg zu „lenken“ – daher vermutlich der Name – und nicht etwa, das Projekt selbst inhaltlich sinnvoll zu „lenken“. Was will man von einem solchen Lenkungskreis anderes erwarten als eben diese Märchenstunde, die letzten Dienstag in die nächste Runde ging: eine Pressemitteilung mit viel „soll“, „ist geplant“, „nach aktuellem Stand“ und „ist vorgesehen“ – lauter relativierende Floskeln, an denen schon heute abzulesen ist, dass all die schönen Versprechungen in den nächsten anderthalb Jahren sukzessive wieder kassiert werden.
Jedenfalls werden nach Darstellung der Bahn bis Ende 2026 Tiefbahnhof und Bonatzbau vollständig in Betrieb gehen und auch die beiden Wendlinger Kurven startklar sein. Bis Dezember 2026 sollen auch im Fernbahnhof am Flughafen erste Züge halten. Schon September 2026 soll die digitale Technik auf der S-Bahn-Stammstrecke in Betrieb gehen. Und sogar schon Mitte 2026 soll der Abstellbahnhof Untertürkheim seinen Betrieb aufnehmen.
Und: Von Frühjahr 2026 an soll der Gäubahndamm zurückgebaut werden, angeblich, um die Anbindung der S-Bahn an die Station Mittnachtstraße zu ermöglichen. Kein Wort, dass das technisch gar nicht nötig ist. Kein Wort, dass das – wegen der Klage der Deutschen Umwelthilfe – aller Voraussicht nach gerichtlich untersagt werden wird.
Wie gehabt: Träume eben und Märchen des S21-Gesundbeter-Kreises. Wir aber, liebe Mitstreiter*innen, wir aber bleiben auf dem Boden der Tatsachen und wissen, dass es nicht hilft, Fakten zu ignorieren. Mit der Physik kann man nicht verhandeln. Da hilft nicht mal beten. Glauben Sie mir!
Also: Wir bleiben oben!
Danke!