Rede von Bernd Riexinger, Mitglied des Deutschen Bundestags Die LINKE, auf der 694. Montagsdemo am 5.2.2024
Liebe Freundinnen und Freunde,
sehr geehrte Damen und Herren,
es freut mich, dass ich heute wieder einmal hier sprechen darf. Es gibt nach einer turbulenten Haushaltswoche, die die Bahn massiv betrifft – oder besser gesagt trifft, einiges aus dem Bundestag und dem Verkehrsausschuss zu berichten.
Gestattet mir zuerst jedoch eine Bemerkung: Jedes Mal, wenn ich mit der Bahn am Stuttgarter Hauptbahnhof ankomme oder abfahren will, die ewig langen Wege vom oder zum Bahnsteig laufe und Stuttgarts bekanntesten Krater betrachte, frage ich mich: Wie lange wollen die Stuttgarter Einwohner*innen diesen Zustand noch hinnehmen? Massive Beeinträchtigungen und Erschwernisse des Bahnverkehrs, eine Bauruine als Bahnhof, Dauerstaus, Lärm, Baustellenverkehr, Fertigstellungstermine, die nicht eingehalten werden, Kosten, die längst ins Unermessliche gewachsen sind. All das scheint immer noch nicht auszureichen, um wenigstens ein Moratorium zu vereinbaren, neu nachzudenken und ein tragfähigeres Konzept zu entwickeln. Der alte Indianerspruch: wenn du merkst, du reitest ein totes Pferd, steige ab, scheint hier nicht zu gelten. Eher: Augen zu und durch, koste es, was es wolle. Den Preis dafür zahlen andere. Das ist verantwortungslose Politik, die wir nicht akzeptieren dürfen und nicht akzeptieren wollen.
Dieser Zustand, liebe Freundinnen und Freunde, wird noch länger anhalten. Der jetzt versprochene Fertigstellungstermin für 2025 kann nur symbolischen Charakter haben. Die dafür geplanten Feiern – und ein paar Züge werden auch durchfahren – dient eher dazu, die Bevölkerung zu beruhigen oder auch zu verschaukeln, als einer wirklichen Inbetriebnahme. Beim Bahnkonzern redet man heute von einer Gesamtfertigstellung frühestens 2027 oder – Zitat Stuttgarter Zeitung: im schlimmsten Fall 2030.
Eine Hauptursache dafür ist das stockende Vorankommen bei der Digitalisierung des Bahnknotens Stuttgart. Es ist das erste Pilotprojekt in Deutschland, das bis zu den Endhaltestellen der S-Bahnen reichen soll. Zuvor sollen 500 Netzkilometer auf die Steuerung mit digitalen Stellwerken und 450 Fahrzeuge umgebaut werden. Ein hochkomplexes Projekt, für das bisher keine Erfahrungen vorliegen, außer denen, dass es deutlich teurer und erheblich später fertig werden wird als geplant. Es ging kurze Zeit das Gerücht, dass die Bahn das Projekt stoppen will. Im Verkehrsausschuss wurde das jedoch dementiert. Auffällig ist jedoch, dass es beim Projektauftrag Verlängerungsoptionen bis Ende 2031 gibt. Dann wären 27 Jahre vergangen, seit die Stadt die Gleisgrundstücke von der Stadt für die Nutzung zum Wohnungsbau erworben hat. Das ist schon ein Schurkenstück besonderer Art.
Wir brauchen doch jetzt dringend bezahlbare Wohnungen und nicht in 10, 15 oder vielleicht sogar 20 Jahren, wenn vermutlich die Bevölkerung schrumpft. Nirgendwo sind die Versäumnisse von Bund, Land und Stadt so groß wie beim Wohnungsbau. Gerade die Stadt Stuttgart hat nahezu jede Gelegenheit verpasst, um für die Menschen in der Stadt Sozialwohnungen zu bauen: das alte IBM-Areal in Vaihingen, das EnBW-Gelände am Stöckach, das Schöttle-Areal in Heslach. Es gäbe genügend Flächen, die endlich für Wohnungsbau in öffentlicher oder genossenschaftlicher Hand genutzt werden können. Und zwar für bezahlbare Sozialwohnungen, die ein Leben lang in der Mietpreisbindung bleiben. Außerdem Leerstand nutzen, gewerblichen Leerstand umnutzen, sanieren, statt abreißen, Gebäude aufstocken, anstatt wichtige Flächen verbrauchen. Das Nichtstun mit dem Warten auf Stuttgart 21 zu begründen, ist eine nahezu schon freche Begründung fürs Nichtstun.
Außerdem darf schon aus Klimaschutzgründen das Gleisgelände nicht bebaut werden. Alle Klimaexperten gehen davon aus, dass das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaschutzabkommens nicht mehr erreicht werden kann. Selbst 2 Grad sind nur mit sehr konsequenten und radikalen Maßnahmen erreichbar. Danach sieht es zurzeit nicht aus. Städte wie Stuttgart erwärmen sich dann jedoch um 4 bis 5 Grad und kühlen in heißen Sommermonaten nachts nicht mehr unter 30 Grad ab. Sprich ältere und kränkere Menschen laufen Gefahr, an der Hitze zu sterben, viele Menschen können in der Stadt nicht mehr leben. Das Gleisgelände ist eine wichtige Frischluftschneise, die dringend benötigt wird. Sie einem fragwürdigen Bebauungsprojekt zu opfern, ist gefährlich und verantwortungslos.
Liebe Freundinnen und Freunde,
ihr fragt euch sicherlich, wie ein solcher Dilettantismus, wie solche Fehlplanungen über den Zeitraum von dann drei Jahrzehnten möglich sind, ohne dass die politisch Verantwortlichen oder der Aufsichtsrat die Reißleine gezogen hat, oder das Management personelle Konsequenzen hätte ziehen müssen? Eine Ursache ist die Fehlkonstruktion der Bahn als Aktiengesellschaft. Damit unterliegt der Konzern dem Aktienrecht, das als Unternehmensziel von Aktiengesellschaften das Erzielen von Gewinnen festschreibt. Gleichzeitig wird dadurch die Bahn der direkten politischen Kontrolle durch das Parlament entzogen. Obwohl der Bund 100 Prozent der Anteile an der Bahn besitzt, sind die von ihm bestellten Aufsichtsräte weder gegenüber dem Parlament noch gegenüber dem zuständigen Verkehrsausschuss berichts- und rechenschaftspflichtig. Auch nicht die drei Bundestagsabgeordnete, die im Aufsichtsrat sitzen. Verwiesen wird auf die Geheimhaltungspflicht des Aktiengesetzes. Das ist völlig absurd! Das Parlament bestimmt die Bahnpolitik, bewilligt entsprechende Mittel – aber die dafür vorgesehenen Kontrolleure, die im Auftrag des Bundes überwachen sollen, ob die politischen Ziele umgesetzt und die Mittel sachgerecht verwendet werden, laufen außerhalb seiner politischen Kontrolle.
Wir lassen die Rechtsgrundlage dieser Konstruktion durch den juristischen Dienst des Bundestages prüfen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die bisherige Praxis dieser Prüfung standhält. Ich bin der Auffassung, dass ein bundeseigener Mobilitätskonzern durch die gewählten parlamentarischen Vertreter*innen kontrolliert werden muss und nicht durch die Ministerialbürokratie. Noch besser wäre die Bahn in eine Körperschaft öffentlichen Rechts umzuwandeln. Schließlich soll sie keine Profite erwirtschaften, sondern nachhaltige und bezahlbare Mobilität für alle ermöglichen. Mobilität ist nach meinem Verständnis ein Bestandteil der öffentlichen Daseinsvorsorge. Dort haben Profit und Wettbewerb nichts zu suchen.
Liebe Freundinnen und Freunde,
das Ergebnis einer turbulenten und ziemlich verkorksten Haushaltswoche sind konkrete Kürzungen im Haushalt für die Bahn. Unterm Strich werden 250 Millionen Euro bei der Güterbahn eingespart, deren Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem LKW damit weiter eingeschränkt wird. Der längst überfälligen Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene wird ein Bärendienst erwiesen. Im Jahr 2023 wurde kein einziger Kilometer Schiene für den Güterverkehr neu gelegt, kein Neubau, kein Ausbau, keine Streckenaktivierung und nicht einmal eine neue Oberleitung in Betrieb genommen – während das Straßennetz um 10.000 km gewachsen ist. Im Planungsbeschleunigungsgesetz 2023 wurden mit Zustimmung der Grünen 138 Autobahnprojekte in das beschleunigte Verfahren aufgenommen. Wer vor dem Hintergrund der größten Klimakatastrophe im 21. Jahrhundert noch neue Autobahnen baut, hat den Schuss nicht gehört.
Allein über 4000 Brücken müssen saniert werden, weil sie marode sind. Dafür wird das Geld gebraucht und für den massiven Ausbau der Bahn, aber doch nicht für neue Bundesstraßen und Autobahnen. Deshalb haben wir bereits mehrmals ein Straßenmoratorium beantrag. Eine Forderung – übrigens aus dem grünen Bundestagswahlprogramm, die jetzt mit Hilfe der Grünen regelmäßig abgelehnt wird.
Fast 50 Millionen werden bei der Schaffung von Fahrradparkhäusern an Bahnhöfen eingespart. Das ist besonders schlau für eine sinnvolle und nachhaltige Mobilitätswende.
Ursprünglich wurden bis 2027 40 Mrd. Euro für die Sanierung und den Ausbau der Bahn geplant. Das wäre auch dringend notwendig gewesen. Die tatsächlichen Sanierungskosten werden auf eher 100 Mrd. Euro geschätzt. Jetzt sollen es, nach dem für mich unverständlichen Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Einhaltung der Schuldenbremse, nur 27 Mrd. werden. Mehrere Medien berichten, dass nunmehr fast alle Neubauprojekte bei der Bahn auf der Kippe stehen würden. Die verbleibenden Mittel für die kommenden Jahre sollen offensichtlich nur noch in die Sanierung bestehender Trassen fließen. Kein Zweifel, es gibt Neubauprojekte – wie den Pfaffensteigtunnel – die überflüssig, ja sogar schädlich und kostspielig sind. Aber darunter sollen auch wichtige Projekte, wie der Zulauf für den Schweizer Gotthard-Tunnel zwischen Karlsruhe und Basel oder der Ausbau des Güter-Ostkorridors von Uelzen nach Halle fallen.
Einmal davon abgesehen, dass bisher nichts davon in den zuständigen Verkehrsausschuss gelangt ist, wäre das eine weitere Bankrotterklärung für das Erreichen der eigenen politischen Ziele der Ampel. Laut Koalitionsvertrag sollen Bahn und ÖPNV bis 2030 die zu befördernde Personenzahl verdoppeln, und beim Güterverkehr soll sich der Anteil der auf der Schiene transportierten Güter auf 25 Prozent erhöhen. Bereits heute steht Verkehrsminister Volker Wissing vor dem Scherbenhaufen seiner Politik. Gescheitert ist vor allem sein Ansatz, alles zu verbessern: den Autoverkehr, den LKW-Verkehr, die Bahn, den ÖPNV, usw. Die Nutzer*innen sollen dann entscheiden, welches Verkehrsmittel sie benutzen wollen. Dabei geht er fälschlicherweise von einer ständigen Zunahme des Verkehrsaufkommens aus. Eine Horrorvorstellung!
Eine nachhaltige und zukunftsgerichtete Verkehrspolitik, wie sie andere Länder und Städte versuchen, würde sich auf andere Prämissen stützen:
- Vermeidung von Verkehr durch Städte und Kommunen der kurzen Wege. Möglichst viele Wege, Arzt, Apotheke, Bürgeramt, Einkaufen, können zu Fuß oder per Fahrrad erledigt werden. Der Rest erfolgt durch einen gut ausgebauten und perspektivisch kostenfreien ÖPNV.
- Der Güterverkehr wird von der Straße auf die Schiene verlagert.
- Die Bahn und dabei bevorzugt der Regionalverkehr werden massiv ausgebaut und verbessert. Prestige- und Gigantonomieprojekte wie Stuttgart 21 werden eingestellt, und das Geld für eine sinnvolle Mobilitätswende eingesetzt.
- Jeder Mensch bekommt ein Mobilitätsangebot, das ihn von A nach B bringt, ohne ein Auto besitzen zu müssen.
- Nachweislich führen niedrige Preise zum Umsteigen vom Auto auf die Bahn. Es ist deshalb völlig unverantwortlich, dass noch nicht einmal das 49-Euro-Ticket finanziell über 2024 hinaus abgesichert wird. Dabei fordern wir schon lange, flächendeckend ein 29-Euro-Ticket anzubieten und für Menschen ohne Einkommen einen Einstieg in den Nulltarif. Mit der Streichung des Dienstwagenprivilegs, der Diesel-Subventionierung und der Abschaffung der Steuerfreiheit für Flugkerosin wäre das mehr als finanziert.
- Die Flächen, die in den Innenstädten durch die Autos belegt werden, werden dringend zur Begrünung benötigt. Die Lebensqualität und der Schutz vor der Klimaerwärmung steigen, wenn mehr blau und grün in die Städte kommt.
Liebe Freundinnen und Freunde,
wer hätte vor 5 Jahren gedacht, dass eine mutige Bürgermeisterin die Straßen an der Seine autofrei macht, dass in der Pariser Innenstadt für panzerähnliche SUV 18 Euro in der Stunde Parkgebühren bezahlt werden müssen, dass mehr und mehr Blocks autofrei gestaltet werden? Davon sind wir im Land großer Automobilkonzerne meilenweit entfernt. In Stuttgart, wo jeder Parkplatz, der reduziert wird, zum Herzkollaps der bürgerlichen Kräfte führt, und einem Oberbürgermeister, dem erst nahegebracht werden muss, welche öffentlichen Verkehrssysteme in der Stadt angeboten werden, haben wir noch einen weiten Weg vor uns.
Es gibt keinen Zweifel: Heute würde Stuttgart 21 nicht mehr gebaut. Eine Mehrheit der Stuttgarter ist nach wie vor gegen das Projekt. Viele glauben jedoch nicht, dass es noch gestoppt werden kann. Das wird sich erst noch weisen. Bis heute gibt es kein Brandschutzkonzept, die technischen Probleme sind riesig, die Kapazitäten reichen für den Bahnverkehr nicht aus, die Resilienz ist keinesfalls gesichert und eine Fertigstellung ist noch in weiter Ferne.
S21 ist jedoch mehr als nur ein Bahnhofsprojekt, es ist ein Symbol für eine gescheiterte Verkehrs- und Bahnpolitik. Gerade die Frage, ob eine nachhaltige Mobilitätswende gelingt, ist eine Schlüsselfrage für die Lösung der Klimakrise. Gerade der Verkehr verfehlt die eigenen Klimaziele jedes Jahr krachend. S21 steht deshalb in einem weit größeren Zusammenhang und für die Zukunft ganzer Generationen, die heute für Klimaschutz auf die Straße gehen. Deshalb ist es so wichtig, dass hier Montag für Montag demonstriert wird, dass es keine Ruhe gibt, dass für eine lebenswerte Zukunft gekämpft wird. Schon Friedrich Schiller hat gesagt: Nur die Sache ist verloren, die man verloren gibt. Noch ist nichts verloren.
Oben bleiben!