Rede von Dieter Reicherter, Vorsitzender Richter am Landgericht a.D., und Eisenhart von Loeper, Rechtsanwalt, auf der 686. Montagsdemo am 27.11.2023
Liebe Freundinnen und Freunde!
In den letzten Tagen haben mich zahlreiche empörte und verzweifelte Rückmeldungen zu den Urteilen des Verwaltungsgerichtshofs erreicht. Deshalb erscheint es mir umso wichtiger, auf die erfreulichen Seiten des Prozesses einzugehen. Da war zunächst unsere gründliche Vorbereitung. Mir ist es ein riesengroßes Anliegen, denen zu danken, die uns bei den Klagen unterstützt haben. Das seid zunächst einmal ihr, die ihr uns nicht nur mit Worten angefeuert, sondern auch mit Spenden unterstützt habt. Das sind auch die Ingenieure22, die unendlich viel Vorarbeit zu den technischen Fragen geleistet haben. Das sind vor allem auch Dr. Christoph Engelhardt, Hans Heydemann und Roland Morlock, die im Gerichtssaal als unsere Sachverständige auftreten wollten. Dass sie daran gehindert wurden, lag nicht an uns.
Ich möchte aber auch der Schutzgemeinschaft Filder mit ihren Vorsitzenden Steffen Siegel und Frank Distel ganz herzlich dafür danken, dass sie als anerkannte Umweltvereinigung unsere Klage unterstützt hat. Einen besonders lauten Beifall möchte ich hören für unsere Rechtsanwälte Dr. Eisenhart von Loeper und Dr. Tobias Lieber, der zusätzlich für die Schutzgemeinschaft in die Arena gesprungen ist.
Wenn ich jedoch eine Person ganz besonders hervorheben will, so ist das Karlheinz Scherwinski, unser Charly. Er wurde das Symbol für unseren Kampf, den er stellvertretend für die vielen Behinderten geführt hat. Charly hat sich gegen die Arroganz der Verantwortlichen aufgelehnt und hat seine Rechte eingefordert. Er hat die beschwerliche Anreise nach Mannheim und den Aufenthalt im nicht behindertengerechten Gerichtsgebäude nicht gescheut. Mit unglaublicher Herzlosigkeit wurde Charly als Kläger und Mensch in der Verhandlung vollständig ignoriert. Hätte ich nicht an seiner Stelle das Wort ergriffen, die totale Einschränkung seines Lebensbereichs als Folge lebensgefährlicher Bahnreisen wäre gar nicht zur Sprache gekommen. Lieber Charly, wir sind dir unendlich dankbar für deine Bereitschaft, als Mitstreiter aufzutreten!
Nach so viel Lob und Dank kann ich euch nicht ersparen, aus der aufmarschierten Menge unserer Prozessgegner denjenigen herauszugreifen, der jeden anständigen Umgang mit uns hat vermissen lassen. Es handelt sich um Rechtsanwalt Dr. Peter Schütz, welcher ständig die Bahn mit ihren Tochterunternehmen vertritt. Der Tiefpunkt seines Wirkens war seine Aussage in einem Schriftsatz: „Einen Anspruch auf Transparenz der Planungen zum Brandschutz haben die Antragsteller ohnehin nicht.“ Ein Eigentor hat Rechtsanwalt Schütz auch damit geschossen, Christoph Engelhardt und Hans Heydemann jegliche Sachkunde abzusprechen. Denn beide waren am Tag zuvor zu einem Gespräch mit der Bahn zum Bahnprojekt in Frankfurt als Fachleute eingeladen
Auf unsere Bitte, persönliche Verunglimpfungen zu unterlassen, entgegnete Schütz, wir hätten der Bahn vorgeworfen, dass sie täusche. Das veranlasste uns zu der Erwiderung, dieser Vorwurf stamme gar nicht von uns, sondern von Ministerpräsident Kretschmann. Denn der hat in einer Rede öffentlich erklärt, bei Stuttgart 21 werde getrickst und getäuscht. Wir haben deshalb seine Zeugenvernehmung dazu beantragt. Zu sehen ist Kretschmanns Auftritt übrigens kommenden Donnerstag um 19:30 Uhr in der Kinothek in Obertürkheim, wo einmal mehr „Das Trojanische Pferd“ gezeigt wird.
Nun aber zu den Verhandlungen in Mannheim: Dort ging es plötzlich nur um die Klagebefugnis. Jede Erörterung zur Sache wurde vom Gericht unterbunden. Dabei waren beide Seiten in der Ladung aufgefordert worden, ihre Sachverständigen zum Termin mitzubringen. Für die Bahn war ein großes Aufgebot an Fachleuten erschienen, und wir waren gespannt, wie sich unsere Sachverständigen im Vergleich schlagen würden. Aber von Anfang an wurde deutlich, dass der Senat die Klagen an angeblich mangelnder Klagebefugnis scheitern lassen wollte. Was die Klagen der drei Privatpersonen anbetrifft, nämlich Charly, Werner Sauerborn und ich, wird unser Eisenhart, der wie ein Löwe gekämpft hat, euch informieren:
Eisenhart von Loeper:
Das Verfassungs-Versagen des VGH beim S21-Brand – was nun?
Liebe Mitwissende, Mitgestaltende in dieser Demokratiebewegung,
einzustehen für das Recht des Lebendigen, das war und ist es, was zählt. Doch im Denken des VGH, der unser Klagerecht gegen den Brand in S21-Tunneln verweigert, ist ein Verfassungsbruch zu sehen. Kurz die Gründe:
- Unsere Klagebefugnis folgt aus § 18 Abs. 1 Satz 2 Allgemeines Eisenbahngesetz (AEG), der lautet: „Bei der Planfeststellung sind die von dem Vorhaben berührten öffentlichen und privaten Belange einschließlich der Umweltverträglichkeit im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen“..
Der VGH verneint aber das Klagerecht, weil der Brandschutz im Planfeststellungsverfahren nur der Risikovorsorge diene, die nur auf die Allgemeinheit ausgerichtet sei. Der VGH ignoriert damit den Wortsinn „private Belange“. Und dies, obwohl es um höchste Existenzrechte geht. Dagegen verlangt das BVerfG eine „umfassende Schutzpflicht für das Leben“, der „Staat müsse sich „schützend und fördernd vor das Leben stellen“. Die vorbeugende Gefahrenabwehr ist also unerlässlich, damit das Höchstrecht auf Leben nicht zu spät kommt. Die Risikovorsorge vom Lebensschutz abzuspalten und damit für uns auszuschalten, ist also klar grundgesetzwidrig.
- Gegenanwalt Schütz will sogar eigenmächtig „eine Eintrittskarte“ für das AEG: Das Klagerecht zu versperren, ist aber Rechtsbruch. Denn wer in eigenen Rechten betroffen ist, hat nach § 42 Abs. 2 VwGO die Klagebefugnis. Die Schutznorm muss nur auch dem Schutz von Individualinteressen zu dienen bestimmt sein.
Der VGH missversteht „Risikovorsorge im Gegensatz zum Gefahrenabwehrrecht“. Diese VGH-Linie ist auch mit Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG unvereinbar, denn hiernach ist „alle staatliche Gewalt an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden“. Das ist eine klare Abkehr vom historisch schwersten staatlichen Unrecht der NS-Zeit und darf selbst durch Verfassungsänderung nicht aufgehoben werden.
- Selbst das Klagerecht durch „besonderes Näheverhältnis“ versagt der VGH, obwohl es für unsere Kläger als Stuttgarter, Bahncard-Nutzer und regelmäßiger Bahnnutzer, geeignet gewesen wäre, die Klagebefugnis zu eröffnen.
- Rechtlich zu fragen bleibt, ob beim Großprojekt S21 „eine Ermessensreduktion auf null“ angesichts einer atypischen Gefahrenlage beim Brand im S21-Tunnel besteht. Die neuen Fakten sind beim Brand im Tunnel mit 1757 Personen, dass er in 10 Minuten verraucht und weder die Selbstrettung noch die Fremdrettung für mobilitätseingeschränkte Personen möglich ist. Das Gericht hat unfassbar eine Zusammenschau der Lage des Einzelfalles und der Klagebefugnis abgelehnt. Rechtsstaat und Gerechtigkeit gebieten es aber, den Einzelfall zu würdigen.
In der Gerichtsverhandlung habe ich noch eingebracht, die Stärke der Justiz bestehe doch erst dann, wenn das Ergebnis stimmt, wenn es medial und öffentlich überzeugt. Wie will das Gericht überzeugen, wenn es die atypische hochgradig lebensgefährliche Lage der Kläger beim Brand im S21-Tunnel gar nicht klärt?
- Als argumentativ beim VGH gar nichts mehr lief, bat ich spontan, eine Frage stellen zu können, die doch bei der Entscheidung einbezogen werden möge. Will der VGH wirklich die Inbetriebnahme von S21 ungeprüft zulassen, bis es zum Brandfall im Tunnel als worst case kommt, und hunderte Menschen verbrennen? Da war Stille im Saal.
Mein Fazit: Nein, wir sind mit Dieter Reicherter und mit euch auf der Zielgeraden zum Umstieg. Das Verfassungs-Versagen des VGH beim S21-Brandfall im Tunnel ist durch die Nichtzulassungsbeschwerde und durch Revision beim BVerwG aufzuheben – und dabei stets die Verfassungsbeschwerde im Blick zu halten.
Gemeinsam sind wir stark, Freundinnen und Freunde, denn wir verteidigen unsere Grundrechte, das muss uns gelingen.
Oben bleiben!
Dieter Reicherter:
Ich möchte ergänzend zur Klagebefugnis der Schutzgemeinschaft Filder Stellung nehmen: In der 50 Jahre alten Satzung ist als Aufgabe Landschaftspflege und Naturschutz aufgeführt. Längst aber hat sich ihre Tätigkeit weiter entwickelt dahin, den Menschen einen erhaltenswerten Lebensraum zu erhalten. Das hat auch das Umweltministerium in seinem Anerkennungsbescheid von 2015 so gesehen und auf den Einsatz gegen Lärm und sogar ausdrücklich auf die Information über Stuttgart 21 hingewiesen.
Doch all das hat den Senat nicht interessiert. Noch nicht einmal der Hinweis, dass im Brandfall hochtoxische Rauchgase durch das Tunnelportal auf die Filderebene geleitet werden und dort erhebliche Gefahren verursachen, nützte etwas. Wie die Gans auf den Apfelbutzen hat sich der Senat auf besagten Satz in der Satzung gestürzt. Und das, nachdem zuvor besprochen worden war, nach dem europäischen Recht sei die Klagebefugnis großzügig auszulegen und im Zweifel die Klagemöglichkeit einzuräumen. Deshalb kam die Verneinung der Klagebefugnis völlig überraschend.
Man muss es ganz klar sagen: Hätte die Schutzgemeinschaft mit der Begründung geklagt, der mangelhafte Brandschutz gefährde das Leben von sich im Fildertunnel ansiedelnden Fledermäusen, wäre sie klagebefugt gewesen. Weil sie aber zur Begründung der Klage nur auf die Gefährdung von Tausenden von Menschen hingewiesen hatte, war das nach Meinung der Richter nicht ausreichend. Eine verrückte Welt! Dabei hatten wir noch ausdrücklich erwähnt, dass es auch um Leben und Gesundheit der Feuerwehrleute von den Fildern gehe. Denn bei einem Brand müssen ja die Freiwilligen Feuerwehren ausrücken.
Das Ausmaß der Gefahr möchte ich gerade für den Fildertunnel kurz beleuchten: Speziell für den Einsatz bei Stuttgart 21 wurden neue Doppelstockzüge bestellt. Diese sollen zunächst in Dreiertraktion mit bis zu 2761 Personen im Zug fahren. Später sind sogar Züge in Vierertraktion geplant mit 3681 Menschen bei maximaler Belegung. Weil im Fildertunnel pro Richtung gleichzeitig drei Züge fahren sollen, handelt es sich also um über 11.000 Menschen, die im Brandfall im Tunnel evakuiert werden müssen. In keinem anderen Tunnel der Welt sind gleichzeitig derart viele Menschen unterwegs. Deshalb müssten für das Brandschutz- und Rettungskonzept hier ganz andere Maßstäbe angelegt werden, was aber nicht geschieht.
Dabei ist die Rechnung ganz einfach. Man muss gegenüberstellen die Zeit, welche bis zur vollständigen Verrauchung des Tunnels mit tödlichen Gasen vergeht, und die Zeit, welche zur Evakuierung der Zuginsassen benötigt wird.
Bis zur Verrauchung sind es keine 10 Minuten. Die Evakuierungszeit beträgt ein Mehrfaches. Selbst die unzutreffenden Berechnungen der Bahn mit vielen Fehlern gehen von einer Mindestzeit von 15 Minuten für einen Zug mit nur 1757 Menschen aus. Dabei ist schon der Ansatz falsch. Aus vielen Berichten wissen wir, dass es unendlich lange dauert, bis die Evakuierung überhaupt anläuft. So hatten wir den niedersächsischen Landtagsabgeordneten Grosch, der ebenso wie unser Charly im Rollstuhl sitzt, als Zeugen dazu beantragt, dass er in einem liegengebliebenen ICE bis zu seiner Evakuierung zwei Stunden lang ausharren musste.
Leider kam es nicht zur Erörterung der Sache. Wir hätten gern Dr. Schütz auf die Richterbank steigen und zeigen lassen, wie schnell man aus einer Höhe von 90 cm auf den Boden klettern kann. Denn diese von uns ausgemessene Höhe der Richterbank entspricht dem Abstand zwischen der Tür eines ICE und dem Gleisbett im Tunnel, welcher beim Aussteigen überwunden werden muss. Doch das Gericht unterband jeden Versuch, Ausführungen zum mangelhaften Brandschutz und den enormen Risiken zu machen.
Seltsam war auch das Ende der Verhandlung am Dienstagnachmittag. Es wurde angekündigt, man wolle sich die Entscheidung nochmals genau überlegen und am Donnerstagmorgen bekannt geben. Falls man zur Annahme der Klagebefugnis komme, werde es einen weiteren Termin mit Sachverständigen geben. Doch man machte kurzen Prozess. Noch am Dienstag wurde im stillen Kämmerlein entschieden. Die Urteile wurden schon am Mittwochmorgen elektronisch an die Prozessbeteiligten übermittelt.
Wie geht es weiter? Die Richter haben gleich noch eine Hürde aufgebaut und eine Revision gegen die Urteile nicht zugelassen. Deshalb müssen wir nach Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe innerhalb eines Monats Beschwerde gegen die Nichtzulassung einlegen. Falls dann die Revision angenommen wird, geht es beim Bundesverwaltungsgericht in Leipzig weiter. Erst wenn dieser Rechtsweg ausgeschöpft ist, können wir Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht einlegen.
Aber wir werden durchhalten und weiter kämpfen. Wichtig neben dem juristischen Kampf ist aber auch, unsere Erkenntnisse in die Öffentlichkeit zu bringen. Auch dafür bitten wir um eure Unterstützung. Schön wäre es, wenn ihr euch an der Spendenaktion für Aktionsbündnis, Montagsdemo und Mahnwache beteiligen könntet.
Der vergangene Dienstag war nämlich nicht das Ende unseres Kampfes, sondern lediglich eine Etappe auf dem Weg, unsere Rechte auf Leben und Gesundheit einzufordern. Wie der Volksmund sagt: Wir hatten keine Chance und haben sie genutzt. Wir haben nicht zum Spaß geklagt. Wir sind eingesprungen, weil die Behörden versagt haben. Ohne weiteres hätte das Land klagen können, weil die Forderungen seines Regierungspräsidiums zum Brandschutz vom EBA abgelehnt wurden. Aber die Projektförderung ist Land und Stadt wichtiger als Leib und Leben ihrer Bürgerinnen und Bürger. Sie streiten sich lieber, wer den Mist zahlen soll.
Am Dienstag, 12. Dezember, um 10.30 Uhr gibt es die nächste Runde im Finanzierungsprozess beim Verwaltungsgericht Stuttgart. Da werden wir dabei sein und ihnen keine Ruhe lassen.
Denn wir wollen – oben bleiben!
Rede von Dieter Reicherter und Eisenhart von Loeper als pdf-Datei
Vielen Dank an die beiden Referenten, die über das Verfahren beim VGH berichteten.
Juristen können manchmal richtig kalt und abweisend sein, wenn ihnen der Stoff nicht gefällt oder sie keine Lust verspüren richtig in die Materie einzusteigen.
Umso mehr machen wir S21 Gegner dies und lassen auch nicht locker. Die staatlichen Gelder für Phantasieprojekte wie S21 werden immer knapper. Bald kippt das Projekt und wir können gute Alternativen vorschlagen.
So bin ich gerade dabei eine unnötige 4Mrd teure Güterstrecke zu kippen, weil der Rhein noch genügend Transportkapazität hat. Diese kann locker verdoppelt werden. Beratung bekomme ich vom Hafenchef in Basel. Er war zuvor in leitender Funktion bei der SBB tätig.