Rede von Dieter Reicherter, Vorsitzender Richter am Landgericht a.D., auf der 677. Montagsdemo am 25.9.2023
Liebe Freundinnen und Freunde,
am vergangenen Samstag war ich bei einem Stadtspaziergang in Stuttgart. Wir waren auch im Stadtgarten, der erstaunlicherweise bis auf einen fürchterlichen trockengelegten Betonbrunnen noch als Ort der Erholung erhalten ist. Als wir einem Vortrag zur Jahrhunderte umfassenden Geschichte des Stadtgartens lauschten, prasselten plötzlich Kastanien auf uns. Und schon waren die Bilder des 30. September wieder in mir.
Zuallererst musste ich an Dietrich Wagner denken, dem damals vorgeworfen wurde, den Wasserwerfer mit einem Geschoss angegriffen zu haben. Zum Glück konnten wir nachweisen, dass er mit Kastanien geworfen und nichts beschädigt hatte. In den vergangenen Jahren konnten wir Dietrich und seine Frau Erika bei unserer Demo zum Jahrestag immer persönlich begrüßen. Vor wenigen Monaten durften wir noch mit ihnen Hochzeit feiern. Doch schon wenige Wochen später mussten wir Dietrich Wagner zur letzten Ruhe begleiten. Nach der Trauerfeier hatten wir noch mit Erika besprochen, dass sie heute unser Ehrengast sein sollte. Aber leider musste sie aus gesundheitlichen Gründen absagen.
Um so mehr freue ich mich, dass mein Vorredner Daniel Kartmann – wie Dietrich Wagner einer der Schwerverletzten – sich bereit erklärt hat, unsere Arbeit zu unterstützen und auch öffentlich aufzutreten. Dafür möchte ich ihm und auch seiner Familie ganz herzlich danken.
Zurück zu den Kastanien: Bekanntlich behauptete der damalige Innenminister Rech, der sich im Gegensatz zu Ministerpräsident Mappus um die Planung des Polizeieinsatzes nicht gekümmert hatte, abends im Fernsehen, wir hätten mit Pflastersteinen auf die Polizei geworfen. Tatsächlich waren vor dem Polizeieinsatz Pflastersteine im Schlossgarten gelagert. Dass Menschen aus unserer Bewegung diese Pflastersteine rechtzeitig weggeräumt hatten, ist dem Herrn Minister offenbar entgangen. Damit war ein möglicher Plan der Politik, unsere friedliche Bewegung als gewalttätig abzustempeln, gescheitert.
Und schon bin ich bei einem aktuellen Bericht der Stuttgarter Zeitung. Denn Tim Höhn, immerhin Nachrichtenchef der Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten, hat in einem Artikel geschrieben, der Schwarze Donnerstag, „als der Protest um S 21 eskalierte“, habe sich ins kollektive Gedächtnis der Stadt gebrannt wie die Stuttgarter Krawallnacht und jetzt die Gewaltexzesse von Eritreern. Das liest sich gerade so, als wären wir am 30.9. die Gewalttäter gewesen und nicht die Opfer. Herr Höhn hat offenbar schlecht oder gar nicht recherchiert. Sonst wäre ihm aufgefallen, dass später der Polizeieinsatz vom Verwaltungsgericht Stuttgart für rechtswidrig erklärt wurde. Auch hätte er unschwer herausgefunden, dass im Schlossgarten die Gewalt von der Polizei ausging – mit massiven Verstößen gegen die Vorschriften zum Einsatz der Wasserwerfer, des Pfeffersprays und der Schlagstöcke. Und offensichtlich ist ihm auch entgangen, dass auf Seiten der friedlichen Bürgerinnen und Bürger Hunderte von Verletzten, darunter auch einige Schwerverletzte, zu beklagen waren. Selbst Oberstaatsanwalt Häußler konnte nichts daran ändern, dass deswegen der damalige Polizeipräsident Stumpf zur Rechenschaft gezogen wurde. Ich hoffe mal, dass Herr Höhn zum Jahrestag des Polizeieinsatzes einen objektiven Bericht schreiben wird. Gern stehe ich ihm zur Verfügung mit Auskünften und brisanten Dokumenten.
13 Jahre sind eine lange Zeit. Aus unseren Erfahrungen haben wir gelernt und uns nicht einschüchtern lassen. Dennoch war ich entsetzt, als mir kürzlich ein Mensch aus unserer Bewegung erzählte, in jener Zeit habe er sich nicht getraut, nach Demos oder Aktionen allein den Heimweg anzutreten. Immer wieder habe er erlebt, dass Protestierende von Polizisten schikaniert worden seien. Dazu passt der geheime Rahmenbefehl zu Stuttgart 21, von dem ich hier schon öfter berichtet habe und der ein Misstrauen und eine Überwachungsmentalität der Verantwortlichen zeigt. Das ist mit Versammlungs- und Meinungsfreiheit in einer lebendigen Demokratie schlichtweg unvereinbar.
Ein Blick zurück im Zorn hilft uns und unserem Kampf aber wenig. Ich will deswegen euren Blick in die Gegenwart lenken. Denn schon vor dem Schwarzen Donnerstag und am Tag der Polizeigewalt ging es nie nur um einen Bahnhof, sondern immer auch um Erhalt von Natur und Umwelt sowie um einen guten und klimaverträglichen Bahnverkehr. Die zum Teil Jahrhunderte alten Bäume im Schlossgarten und später im Rosensteinpark, die dem sinnlosen und teuren Projekt Stuttgart 21 im Wege standen, konnten wir zwar nicht retten. Mit Stolz dürfen wir aber in Anspruch nehmen, die Themen Umweltschutz und auch Artenschutz vorangebracht zu haben. Gerade hier in Stuttgart wäre der Protest von Fridays for Future und anderen, den wir immer unterstützen, ohne diese Erfahrungen nicht denkbar. Denn es geht bei den Protesten nicht darum, abstrakt eine bessere Politik und Bewahrung der Schöpfung zu fordern, sondern man muss immer konkret den Finger in die Wunde legen. Und das bedeutet, dass wir weiter bei Stuttgart 21 auf die Risiken und Gefahren hinweisen. Die explodierenden Kosten, der Finanzierungsprozess beim Verwaltungsgericht, die mangelhafte Leistungsfähigkeit, der nicht funktionierende Brandschutz, die Kappung der Gäubahn und die Märchen zur Einführung von ETCS bieten genügend Stoff. Und jetzt hat die Bahn auch noch bemerkt, dass im Berliner Hauptbahnhof, der noch nicht mal 20 Jahre alt ist, die Bahnsteige zu schmal und überhaupt die Flächen zwischen den Gleisen zu klein sind. Jetzt frage ich mal ganz naiv, ob die Bahnsteige im Kellerbahnhöfle größer sind?
Nun aber zu unserem Kampf, eine lebenswerte Umwelt zu bewahren und sie gegen das unsinnige Immobilien- und Bahnprojekt zu verteidigen. Denn nicht nur das Stadtklima, sondern insbesondere auch die Tier- und Pflanzenwelt sind in Gefahr. Jeder Wissenschaftler und jeder Sachkundige bestätigt uns ganz klar, dass in Zeiten des Klimawandels die Bebauung des Gleisvorfelds mit dem Stadtviertel Rosenstein ein Frevel ist. Man muss es deutlich sagen: Wenn es an rechtsverbindliche Bebauungspläne geht, stehen die Klimaschutzgesetze direkt entgegen. Während zum Beispiel Mannheim im Rahmen der Bundesgartenschau eine große Fläche entsiegelt und begrünt und dadurch eine Senkung der Temperaturen um 3 bis 4 Grad erreicht hat, wird die Stadt Stuttgart mit der Bebauung und Versiegelung genau das Gegenteil bewirken. Nicht genug damit, im windarmen Talkessel wird der Luftaustausch nach internen Dokumenten des Amtes für Umweltschutz ab einer Höhe der Bebauung von 10 Meter bis zum Erdboden total blockiert. Hinzu kommt der Verlust von zahlreichen auf der Roten Liste stehenden Tier- und Pflanzenarten, die sich dort im Laufe von über 100 Jahren angesiedelt haben. Ganz abgesehen davon, dass durch die Folgen der Bebauung die angrenzenden Parkflächen massiv beeinträchtigt würden. Ähnliches gilt übrigens auch bei einer Stilllegung der Panoramastrecke, die die Stadt ebenfalls bebauen will. Wir sagen Nein zu diesen Verbrechen gegen Klima und Umwelt und kämpfen schon deshalb weiter.
Gerade konnten wir auch den Skandal um die Rostrohre öffentlich machen. Viele Jahre wurde durch die blauen Rohre Rostbrühe ins Erdreich, in das Grundwasser und in den Neckar gespült. Wir wiesen auf das Versagen der Kontrollen hin. Die zuständigen Behörden haben offensichtlich weder die Verwendung korrosionsbeständiger Rohre, wie sie der Planfeststellungsbeschluss vorgeschrieben hatte, überwacht, noch Wasserproben entnommen, die leicht bewiesen hätten, dass die versprochene Trinkwasserqualität ein Märchen war.
Wenn ihr abergläubisch seid und 13 für eine Unglückszahl haltet, kann ich gerne mit einem optimistischen Blick in die Zukunft dienen. Denn dann kann das 14. Jahr nur besser werden und wir schauen selbstbewusst in eine bessere Zukunft, in der wir weiter
Oben bleiben!