Rede von Konrad Nestle, Mahnwache, auf der 664. Montagsdemo am 26.6.2023
Neulich las ich, man solle fröhlich Utopien bauen, konkrete, d.h. solche, die zur Verwirklichung auffordern. Letztlich geht es immer um die Frage, wie wir leben wollen.
Dass Stuttgart 21 von Anfang an als Verbrechen an einer besseren Zukunft geplant war, wissen wir. Unter uns gab es schon immer viele, die gute Vorstellungen haben über den Verkehr der Zukunft und die Städte, die darauf eingerichtet sind. Daran möchte ich anknüpfen.
Der ganze Bahnhof ist zerstört – nein! Nicht der ganze, aber doch der Bonatzbau als der Ort, der Reisen und Da-Sein verbindet. Das Gleisvorfeld gibt es noch, zwar etwas gestaucht, aber doch. Und das muss erhalten werden!
Der neue Kopfbahnhof – wie wird der sein?
Wenn es den neuen Bahnhof dann mal gibt, komme ich vielleicht mit der Straßenbahn dort an, in einem Niederflurwagen – wie z.B. in Karlsruhe, und oberirdisch – wie z.B. in Bremen. Das neue Bahnhofsgebäude ist eben oder vielleicht mit leicht schrägen Rollbahnen – wie jetzt von der Königstraße in die Klettpassage – gut zu erreichen. Dort finde ich, wenn ich noch keine Fahrkarte habe, einfache, im ganzen Bundesgebiet einheitliche Fahrkartenautomaten, wenn ich nicht lieber mein Handy benutze. Aber auch digital erhalte ich eine Fahrkarte, die keine Datenspur hinterlässt. Immer sind aber auch gut informierte Bahner:innen dort, die beraten und Fahrkarten verkaufen können.
Die Preise sind niedrig, ein reiner Entfernungstarif, z.B. 10 Cent/km, unabhängig von Datum und Uhrzeit. Schleuderpreise, die mich für weniger als 20 Euro von Basel bis Usedom bringen, gibt es freilich nicht. Auch Bahnfahren verbraucht Ressourcen, die mir bewusst sein sollen. Aber bequemer und billiger als Autofahren aus früheren Zeiten – egal, ob mit Strom oder Mineralöl – ist es allemal, auch wenn Neffen und Großnichten mitfahren. Zu jeder Fahrkarte können bis zu fünf „Mitfahrkarten“ zu je 2% des Preises der Hauptfahrkarte mitgebucht werden. Auch „Trampen am Bahnhof“ ist also kein Problem!
Und weil Kinderräder und ein aufblasbares Schlauchboot mit in den Urlaub sollen, biegen wir von der Halle noch nach links ab, wo das und anderes Gepäck, das wir nicht in den Waggon nehmen wollen, einen QR-Code kriegt und von einem Roboter in den digitalen Packwagen befördert wird. Uns folgt eine Band, die mit ihren gesamten Instrumenten zum nächsten Konzert auf ihrer Tournee fährt. Sie hat eine Rundreisefahrkarte, mit der sie ihre 8 Auftrittsorte innerhalb von 2 Monaten nacheinander anfahren kann, mit beliebigen Zügen an beliebigen Tagen. Alles Gepäck kommt zügig zum Zug, auch bei großem Gewimmel auf den Bahnsteigen, denn der neue Kopfbahnhof hat wieder Gepäckbahnsteige wie früher alle großen Bahnhöfe. Das Gepäck sind wir los und haben so viel Zeit, dass es noch für eine Tasse Kaffee vor der Abfahrt reicht. Das Restaurant am Turm ist geräumig, ein Saal mit hoher Decke. Man kann beim Kellner bestellen, aber auch einfach auf seinen Zug warten, ohne zu konsumieren – wie ich in Leipzig ca. 1990 erlebt habe.
Dann schlendern wir zu unserem Zug. Da er deutlich länger als zwei Minuten hält, gibt es kein Gedränge. Die Kopfgleise sind von einem gläsernen, mit Photovoltaik bestückten Dach überspannt. Unterwegs schauen wir von oben auf die Gleise zwischen den Kelchstützen. Gerne würde ich runterspucken, auf die leider nicht rechtzeitig beendeten Bauten von S21, die betonierten Reste dieses Jahrhundert-Verkehrsverbrechens. Dort fahren noch etwa 1-2 mal pro Stunde Züge nach München über den Flughafenbahnhof. Mehr gehen nicht, da immer eine der beiden Röhren frei bleiben muss als Rettungstunnel bei einem Zugbrand. Mehr braucht es auch nicht, denn es gibt nur noch sehr wenige Abflüge in Stuttgart, weniger noch als im ersten Corona-Sommer 2020.
Unser Zug rollt über die alte Neckarbrücke durch Cannstatt in Richtung Esslingen. Rechts liegt das Daimlermuseum, das wichtiger geworden ist als zur Zeit seiner Erbauung. Denn Daimler ist fast nur noch Geschichte. Das große Modell im Erdgeschoss zeigt die Entwicklung der Industrie von der Lokomotivfabrik Esslingen – deren Gießerei noch im 21. Jahrhundert Teil der Autofertigung war – bis zum jetzigen neuen Güterbahnhof, von dem aus der Bedarf der Stadt an Waren leicht bewältigt werden kann – ein Bruchteil dessen, was Anfang des Jahrhunderts angeliefert wurde. All die Dinge, die auf ihrem kurzen Weg von der Herstellung zur Müllverbrennung niemanden glücklich machten außer die Aktionäre einiger Großkonzerne, fehlen. Die endlosen Reihen von LKWs auf den Autobahnen sind überflüssig geworden – und die Autobahnen gleich mit ihnen.
Zum Schluss was über meine Großnichte:
Sie hat das Wandern entdeckt. Um sich für das bestandene Abi zu belohnen, hat sie sich ausgedacht, den Olymp zu besteigen. Sie wohnt in Hohenstatt über dem Kochertal. Ihr Zielbahnhof in Griechenland heißt Litochoro. Die Verbindung ist schnell ermittelt: Mit dem Bus hinunter nach Abtsgmünd, dort fährt seit Jahren die im 20. Jahrhundert nie zu Ende gebaute Kochertalbahn von Schwäbisch Hall nach Aalen, von dort Regionalzug nach Stuttgart. Da wartet – wie früher – auf Gleis 16 der neue Hellas-Express, der von London nach Athen fährt (2. Zugteil nach Istanbul). Der bringt sie bis Thessaloniki, dann nochmal eine Stunde Regionalzug. Das Ganze dauert kaum länger als einen Tag.
Man fährt durch die österreichischen Alpen, dann durch die Ebenen und Berglandschaften der friedlich wieder vereinigten Bundesrepublik Jugoslawien. Die Fahrkarte samt Liegewagenreservierung ist in 10 Minuten gekauft. Anders als noch um 2023 sind internationale Fahrkarten kein Problem, denn überall sind die Bahnen wieder voll in öffentlicher Hand – in der BRD wurde die Verfassungsänderung von 1994 zurückgenommen. Natürlich jaulte die Autoindustrie und alle, die daran hingen, ganz fürchterlich, doch es setzte sich – ich erinnere: dieser Text handelt von einer Utopie – die Vernunft durch.
Das ging, weil wir damals oben blieben!