Stuttgart 21: Prellböcke und kein Geld – die Gerichte sollen es richten

Rede von Dieter Reicherter, Vorsitzender Richter am Landgericht a.D., auf der 658. Montagsdemo am 8.5.2023

Liebe Freundinnen und Freunde,

gleich zum ersten Thema: Bald müsste das schöne Lied „Auf der schwäbsche Eisenbahne“ umgeschrieben werden. Bei den „Haltstatione“ heißt es künftig nicht mehr „Schtuagert“, sondern „Vaihinga, Ulm ond Biberach“. Denn die Gäubahn soll für sieben, realistisch über zehn Jahre in Vaihingen enden. Technisch nötig wäre das nicht. Die Züge könnten weiter auf der wunderbaren Panoramastrecke fahren, wenn man sie nur ließe und wenige Millionen Euro in die Hand nähme.

Aber das passt nicht ins Konzept. Man will künftig die Gäubahn von Böblingen aus über die Filder – wegen täglich 70 Fluggästen – zum Stuttgarter Flughafen und weiter zum Kellerbahnhöfle führen. Diese unsinnigen Pläne haben zur Folge, dass täglich viele tausend Menschen in Vaihingen auf die S-Bahn oder Stadtbahn umsteigen müssen, um ins Stuttgarter Zentrum zu kommen. Und wer auf der Gäubahnstrecke über Stuttgart zu anderen Zielen reist, also zum Beispiel von Singen nach Berlin, der muss sich zur Weiterreise erst mal von Vaihingen zum künftigen Tiefbahnhof durchschlagen.

Geradezu in Wildwestmanier hat die Bahn angekündigt, sie wolle Prellböcke aufstellen, um jegliche Bahnfahrt auf der Panoramastrecke zwischen Vaihingen und dem Stuttgarter Kopfbahnhof zu verhindern. Dann könnte auch die S-Bahn bei Störungen die Panoramastrecke nicht mehr als Ausweichstrecke benützen. Erschreckend, dass das dem Bundesverkehrsminister Wissing unterstellte Eisenbahn-Bundesamt dem angekündigten Rechtsbruch tatenlos zusieht. Aber wieder einmal stehen die Interessen von Politik und Konzernen zur Durchsetzung von Stuttgart 21 gegen den Anspruch der Bürgerinnen und Bürger auf einen guten und zuverlässigen Schienenverkehr. Ungerührt lässt das EBA zu, dass Millionen Menschen aus dem südlichen Landesteil, der Schweiz und Italien vom Zugang nach Stuttgart und damit vom europäischen Schienennetz abgeschnitten werden sollen.

Der Politik und auch dem EBA geht es darum, S21 auf Biegen und Brechen durchzusetzen, damit die Stadt Stuttgart möglichst schnell das Gelände des Kopfbahnhofs bebauen kann. Dem wäre natürlich im Wege, wenn die Schienen der Panoramastrecke oben liegenbleiben müssten. Besondere Eile ist deswegen geboten, weil die Bebauung dieses Gleisvorfeldes für das Klima in Deutschlands heißester Stadt höchst schädlich ist. Der Boden wird versiegelt, die für die nächtliche Abkühlung des Stadtzentrums lebenswichtige Freifläche zugebaut, der Wind durch hohe Gebäude ausgebremst. Kurzum: Die grüne Lunge der Stadt wird zerstört. Je länger es bis zum Baubeginn dauert, desto mehr steht zu erwarten, dass die Ziele des Klimaschutzes eine Bebauung nicht mehr zulassen und das Projekt Rosenstein sterben wird. Das sind die wahren Gründe für die Blockadepolitik der Stadt Stuttgart. Das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 hat deswegen ausdrücklich dazu aufgerufen, von den Plänen zur Bebauung des Rosensteins Abstand zu nehmen. Schließlich will Stuttgart bis 2035 klimaneutral werden.

Die Deutsche Umwelthilfe hat nun einen juristischen Hebel gefunden, um gegen diesen Unfug vorzugehen. Darüber freuen wir uns! Sie ist ein sehr wichtiger Umweltverband, und ihre Ansicht hat Gewicht. Mit Prof. Remo Klinger hat sie einen sehr erfahrenen und erfolgreichen Rechtsanwalt an ihrer Seite. Er hat in einem Rechtsgutachten einer beabsichtigten Klage gegen die Abkoppelung der Gäubahn gute Erfolgsaussichten bescheinigt. Die Begründung ist, dass bei der Planfeststellung die Unterbrechung der Gäubahn für lediglich etwa vier Monate zugrunde gelegt und genehmigt wurde. Weil die Bahn unfähig war, den vorgesehenen Anschluss über den Flughafen rechtzeitig zu planen und zu bauen, kommt es nun zu der Situation, dass die Strecke für viele Jahre unterbrochen werden soll. Eine so lange Unterbrechung ist aber auf alle Fälle nicht genehmigt.

Deshalb hat die Umwelthilfe beim EBA einen Antrag gestellt, der Bahn die Unterbrechung zu verbieten. Diese Befugnis hat die Umwelthilfe als anerkannter Umweltverband, weil die Sperrung massiv gegen die Klimaziele verstößt. Wird über den Antrag innerhalb eines Monats nicht entschieden oder wird er abgelehnt, so wird die Umwelthilfe dagegen klagen. Das EBA könnte natürlich auch dem Antrag folgen. Juristisch müsste sich dann ein Verfahren auf Änderung der Planfeststellung anschließen. Wegen der langjährigen Kappung der Strecke ist vor allem bei Pendlerinnen und Pendlern eine massive Verlagerung der Fahrten auf das Auto zu erwarten. Dies hätte so starke Klimaauswirkungen, dass voraussichtlich die Änderung nicht genehmigt werden kann. Deshalb müssten die Panoramastrecke und auch zumindest Teile des Kopfbahnhof erhalten bleiben.

Interessant ist, dass einige Städte an der Gäubahnstrecke und deren Oberbürgermeister – die meisten mit CDU-Parteibuch – das Vorgehen der Umwelthilfe unterstützen. Mehr oder weniger deutlich beklagen sie sich, sie seien bei der Volksabstimmung belogen und betrogen worden. Denn man hatte eine Verbesserung des Bahnverkehrs und einen funktionierenden Bahnknoten versprochen.

Genau wie sie wünschen auch wir der Deutschen Umwelthilfe einen juristischen Erfolg!

Und nun zum zweiten Thema, nämlich der Klage der Bahn gegen die Projektbeteiligten bei Stuttgart 21. Jupp Schmitz sang schon 1949: „Wer soll das bezahlen, wer hat das bestellt, wer hat so viel Pinke-pinke, wer hat so viel Geld?“ Sehr gute Frage: Bestellt haben das Land, die Stadt Stuttgart, die Region Stuttgart und der Flughafen Stuttgart, und die haben nicht so viel Geld. Deshalb sagen sie auf gut Schwäbisch: „Mir gäbbet nix“.

Zur Erinnerung: Die Politik spiegelte uns vor, das Projekt koste gar nichts, weil die Baukosten durch den Verkauf der freiwerdenden Grundstücke ausgeglichen würden. Nun ja, die Kosten stiegen von der ersten Rahmenvereinbarung 1995 mit damals 4.893 Millionen DM auf heute ca. zehn Milliarden Euro und das Ende der Fahnenstange ist noch längst nicht erreicht.

Konkret geht es nun um die Finanzierungsvereinbarung vom 30.3.2009. Dort ist geregelt, was die einzelnen Partner zahlen mussten, wobei von einem Finanzierungsbedarf von höchstens 4,526 Milliarden Euro ausgegangen wurde. Die Kosten wurden mit 3,076 Milliarden Euro veranschlagt. Davon sollte die Deutsche Bahn bzw. ihre Tochterunternehmen nur 1,3 Milliarden bezahlen. Den Rest sollten Land, Stadt Stuttgart, Verband Region Stuttgart, Flughafen sowie der Bund, auch mit Zuschüssen der Europäischen Union, bezahlen. Dabei hat man den Flughafen mit sage und schreibe 220 Millionen gemolken.

Interessant ist aber auch der zusätzliche Risikotopf für unvorhergesehene Mehrausgaben. Der macht noch weitere 1,45 Milliarden aus. Und da sieht die Aufteilung ganz anders aus: Land und Stadt sollen nämlich davon 820,6 Millionen und der Flughafen weitere 119,4 Millionen zahlen, zusammen also 940 Millionen. Das sind satte 65% des Risikotopfes.

Obwohl die Aufteilung der Kosten und des Risikotopfes haarklein geregelt ist, findet sich wegen der zusätzlichen Milliardenkosten in der Finanzierungsvereinbarung lediglich der Satz: „Im Falle weiterer Kostensteigerungen nehmen die Eisenbahninfrastrukturunternehmen und das Land Gespräche auf.“ Man fragt sich, wer damals an der Aushandlung dieses Vertrages beteiligt war und keinerlei konkrete Regelung getroffen hat. Offensichtlich war man besoffen vor Glück.

Weil die Gespräche keinen Erfolg hatten, will die Bahn mit ihrer schon Ende 2016 eingereichten Klage erreichen, dass sich die übrigen Beteiligten auch an den Mehrkosten beteiligen. Denn ihre Anteile an den ursprünglich angesetzten Kosten und am Risikotopf haben sie schon brav und vollständig bezahlt. Deshalb muss die Bahn schon seit Jahren auf eigene Kosten die Baufortschritte finanzieren. Nun soll das Gericht entscheiden, wer wie viel von den Mehrkosten bezahlt. Sollen Land, Stadt und Flughafen wie im Risikotopf 65% zahlen oder nur 32% wie bei der Aufteilung der ursprünglich angenommenen Kosten? Oder gar nichts? Und wieso wird auch der Verband Region Stuttgart verklagt, der seine festgelegten 2,2% an den ursprünglich veranschlagten Kosten bezahlt hat und am Risikotopf gar nicht beteiligt ist? Und warum ist in der Sprechklausel nur das Land erwähnt?

Der Volksmund sagt: Mitgefangen, mitgehangen. Die Projektpartner wissen seit vielen Jahren, dass die Kosten explodiert sind. Sie hätten deshalb ihre Beteiligung längst kündigen können wie unser Freund Dr. Eisenhart von Loeper unter Hinweis auf entsprechende Gutachten gefordert hatte. Aber nein, man stellt immer neue Anforderungen an die Ausführung. Gleichzeitig besteht der Verdacht, dass die Bahn die Kosten bewusst in die Höhe getrieben hat. Ich erinnere nur an die von der Financial Times aufgedeckte Korruptionsgeschichte, an die Postenschieberei bei Herrenknecht und andere Merkwürdigkeiten.

Falls die Klage der Bahn Erfolg haben sollte, ginge der Hickhack los, welche Kosten überhöht abgerechnet wurden und nicht zu erstatten sind. Zum Berechnen der Klagesumme nehme ich mal Gesamtkosten von 10 Milliarden an, obwohl es bestimmt mehr werden. Wenn es nach der Verteilung im Risikotopf geht, müssten Land, Stadt und Flughafen 65% der 5,5 Milliarden Mehrkosten bezahlen. Das wären schlappe 3,57 Milliarden.

Als Folge wäre die Stadt Stuttgart wahrscheinlich nicht pleite. Aber woher sie dann ihren Anteil von einer Milliarde oder mehr nehmen soll, ist mir ein Rätsel. Es wird wieder auf Einsparungen im sozialen Bereich und bei den Bediensteten der Stadt sowie auf einen Ausverkauf öffentlichen Eigentums hinauslaufen. Dafür könnte die Bahn, wenn sie tatsächlich 3,5 Milliarden durch die Klage erhält, 2.777 Bahnvorstände wie Richard Lutz mit einer Bonuszahlung von je 1,26 Millionen Euro beglücken. Ich schlage aber vor, dass das Geld auf alle 324.000 Bahnbedienstete aufgeteilt wird. Das macht pro Kopf eine Einmalzahlung von 10.800 Euro.

Selbstverständlich ist ein Heer von höchstbezahlten Rechtsanwälten an dem Prozess beteiligt und hat zehntausende Seiten Papier produziert. Wegen der Gerichts- und Anwaltskosten im mehrstelligen Millionenbereich müssen sich die Streithansel aber keine Sorgen machen. Denn letztlich bezahlen das ja wir.

Bei Gericht kommt es häufig vor, dass die Beteiligten zu einem Vergleich geprügelt werden. Fällt aber irgendwann ein Urteil, so geht das mit Sicherheit in die nächste Instanz. Eine Privatfirma müsste Rückstellungen vornehmen, um bei einer Verurteilung Zahlung leisten zu können. Das Land, die Stadt und die übrigen Beteiligten tun einfach so, als bestehe kein Risiko. Sie werden deshalb vor einem Scherbenhaufen stehen, falls es anders kommt.

Und nun mein Bericht zur heutigen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht. Spontan fiel mir das Lied von Billy Mo von 1965 ein: „Da sprach der Scheich zum Emir: Erst zahl’n wir und dann geh'n wir! Der Emir sprach zum Scheich: Zahl´n wir später, geh´n wir gleich!

Ich bin gespannt, wie die Gerichte das von Politik und Bahn angerichtete Chaos richten wollen. Kolleginnen und Kollegen, die in eine Verhandlung gehen, wünscht man bei Gericht „gute Verrichtung“. Diese gute Verrichtung wünsche ich ihnen für die anstehenden Entscheidungen und uns allen, dass wir

Oben bleiben!

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Eine Antwort zu Stuttgart 21: Prellböcke und kein Geld – die Gerichte sollen es richten

  1. Horst Ruch sagt:

    …wie immer bestens recherchiert Herr Reicherter. Dennoch fehlt meiner (nicht juristischen) Ansicht, ein 4-seitiges „Dokument“ vom 02.01.2013 von MP Kretschmann an den (einstigen)Vorsitzenden des Aufsichtsrates der DB AG Professor Dr.Dr.Utz-Hellmuth Felcht. Der MP verweist auf den einstimmigen Kabinettsbeschluss vom 13.September 2011, auszugweise wie folgt festgelegt. „Überschreiten die Kosten die vereinbarte Kostenobergrenze von 4.526 Milliarden Euro, einschließlich der Kosten, die sich aus dem Stresstest und dem Schlichterspruch ergeben, so beteiligt sich das Land an den Mehrkosten nicht. Dies gilt auch für das Risiko später auftretender Kostensteigerungen“ . Insofern scheint die finanzielle Sachlage aus der „sogenannten Volks(befragung)Abstimmung“ eindeutig. Zumal das Schienenprojekt S21 ein Eigenwirtschaftliches Projekt der BahnAG ist. Daß der Adressat nicht der „ehrbare Kaufmann“ Grube war, sondern der Aufsichtsrats-Vorsitzende kann doch wohl für den abgeschröpften Bürger vor Gericht nur eine Nebenrolle spielen. Oder wie oder was?

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