Rede von Konrad Nestle, Mahnwache, auf der 628. Montagsdemo am 12.9.2022
Liebe Mitlernende an der „Volkshochschule auf der Straße“,
denn so möchte ich euch und mich heute Abend gerne verstanden wissen. Ich kann nur wenig harte Fakten bieten und gebrauche keine Namen, die Pfeifkonzerte auslösen. Ich möchte mit euch ein paar Gedanken durchgehen, die von der Klimakatastrophe ausgehen und – auch – mit S21 und dem Verkehr in der Stadt zu tun haben.
Fridays for Future fordern „System Change – not Climate Change!“ Was heißt „System Change“? Die Fridays bleiben vage, soweit ich sehe – es gibt gute Gründe dafür. Vielleicht sind sie einverstanden, wenn ich sage: wir brauchen ein System, das nachhaltig ist. Bei diesem inflationär und oft zur Täuschung verwendeten Begriff sollte man definieren, was das ist. Vorschlag: Nachhaltig kann genannt werden nur das, was späteren Generationen auf dem ganzen Planeten ein gutes Leben ermöglicht. Das heißt erst mal: Fehlentwicklungen (wie der viel zu hohe CO2-Ausstoß u. ä.) müssen sofort beendet werden; und ebenso: Viele Trends des vergangenen halben Jahrhunderts (vielleicht darüber hinaus) sind umzukehren.
Die Globalisierung mit ihren Handelsverträgen hat den Gütertransport rund um die Welt irrsinnig verstärkt. Auch ohne das gibt es Blödsinn genug: Mineralwasser von Frankreich nach Deutschland zu karren und umgekehrt, oder ganz ähnlich schmeckendes Bier von Süden nach Norden und andersrum, sind auffällige Spitzen. Ich meine aber mehr: den Ressourcenverbrauch aller Art, auch bei der Lebensmittelproduktion, und ebenso z.B. das Artensterben als Folge.
Letztlich geht es um die Frage: wie wollen wir leben? – in einer nachhaltigen Stadt, die wir nicht haben, und von der wir uns vielleicht noch wenig genauere Vorstellungen gemacht haben. Die Frage „wie wollen wir leben?“ ist im Grunde die Frage nach dem Glück. Claire Waldoff hat vor 100 Jahren sehr lustig davon gesungen: „Wat braucht der Berliner um glücklich zu sein?“ – ohne noch das Wort „Nachhaltigkeit“ gehört zu haben.[1]
Volksweisheit und Wissenschaft sind sich einig: Wenn Grundbedürfnisse erfüllt und Zukunftsängste vermieden werden, bringen mehr Geld und mehr Konsum kaum noch mehr Glück. Weniger ist mehr: „All You Need is Less“ ist ein Buchtitel von Niko Paech[2] . Wirtschaftswachstum ist nicht das Ziel, im Gegenteil. Deshalb ist z.B. die Ankündigung „Verdopplung des Bahnverkehrs bis 2030“ falsch (kommt ja auch von der DB): Sie enthält – unausgesprochen – die verheerende Annahme von der Notwendigkeit ewigen Wachstums. Diese Ankündigung schließt nämlich nicht aus, dass der Autoverkehr parallel zur Verstärkung des Schienenverkehrs zunehmen wird, dass also in der Summe der Verkehr noch mehr wächst. Umgekehrt wird's richtig: Halbierung des Autoverkehrs, für Personen und für Güter, bis 2030! Dann wären wir (für Güter) immer noch auf dem Niveau von 1991![3]
Dass das illusorisch ist, braucht ihr mir nicht zu sagen, aber dass es klimapolitisch wirksam wäre – da werdet ihr zustimmen. Vielleicht werden 2030 tatsächlich mehr Autos verschrottet als neu gebaut. Schön wär's – und nötig!
Eine Anmerkung zum 9€-Ticket verdeutlicht, was ich meine: Ich las mehrfach, dass nur 10% dieser Tickets dazu führten, dass in entsprechendem Umfang weniger Auto gefahren wurde, ein Teil war Mitnahmeeffekt von Leuten, die eh öffentlich reisen, der Rest bestand folglich darin, dass zusätzlicher Verkehr entstand. Auch zusätzliche Züge und Busse sind nicht klimaneutral.
Zurück zur nachhaltigen Stadt. Sie ist eine Stadt der kurzen Wege: Bäcker um die Ecke, Kneipe im Kiez, Ausbildung und Arbeit zu Fuß oder per Rad oder eben durch ÖPNV erreichbar. Das war im späten 19. Jahrhundert Plan und weitgehend Realität – mehr dazu würde heute zu weit führen. Für die Gegenwart gibt es durchaus Initiativen mit Erfolg. Vor wenigen Tagen wurde ich aufmerksam gemacht auf „changing cities“[4]. Sie befassen sich v.a. mit mehr Sicherheit für Radfahrer und Fußgänger (aller Geschlechter) und berichten durchaus über lokale Erfolge.
Oder: In Barcelona soll im dicht bebauten Stadtviertel Eixample die Annexion von öffentlichem Raum durch das Automobil rückgängig gemacht werden. Es wurden „Superblocks“ („superilles“) gebildet. Dort sind Autos von Anwohnern und Lieferverkehr gestattet, bei einer Höchstgeschwindigkeit von 10 km/h. Im „Superblock“ gehört die Straße den Bewohnern, als Lebensraum, zur Erweiterung des Wohnzimmers, als Spiel- und Sportplatz, als Weg zum nächsten Lebensmittelgeschäft. Die Fußgänger gehen dort, wo sie auch vor 150 Jahren vorgesehen waren: wo sie wollen. Und damit stellen die Superblocks möglicherweise das radikalste Konzept in der zeitgenössischen Stadtplanung dar. Die Deutung der Straße als Lebensraum ist im Superblock die Regel, nicht die Ausnahme wie fast überall sonst auf der Welt.[5] Das Leben dort ist anders, seine Qualität besser. Gesellschaftliche Ressourcen, also erst mal Geld, werden anders verteilt. Auch beim Individuum geht das; das Brötchen darf etwas teurer sein, man spart's ja wieder beim Auto. Wenn man weiter denkt, wird gleich klar, dass das Verschiebungen in der ganzen Gesellschaft mit sich bringt. Natürlich. So zu tun, als könnte sich das Große (das Wirtschaften auf den Abgrund zu) ändern, ohne dass in unserm Alltag etwas anders wird, geht nicht, ist bloße Ideologie, leider auch grüne.
Die genannten Initiativen geben Hoffnung: Wichtige Änderungen, auch solche, die die Struktur der Stadt betreffen, sind möglich. Die genannten Beispiele betreffen freilich meines Wissens noch nicht den Güterverkehr, auch nicht den auf der letzten Meile. Also dazu.
Die Umstieg-21-Broschüre schildert (S. 8f.) – mit Zahlen – den Umfang innerstädtischen Güterverkehrs. Gerechnet wird nur, was auf Paletten transportiert wird. Das ergibt für Stuttgart mit seinen ca. 600.000 Einwohnern ca. 4 Mio. Paletten. „Auslöser dieser Fehlentwicklung sind langjährige, der gesellschaftlichen Kontrolle entglittene Veränderungen in der Herstellung, Verteilung und im Konsum von Gütern und Dienstleistungen“ (S. 8). So ist es. Ihr könnt ja mal versuchen zu schätzen, wie viele Kilo Einkäufe ihr monatlich nach Hause schleppt oder karrt (inkl. Getränkekisten usw.). In der nachhaltigen Stadt werden diese Mengen (im Schnitt) deutlich sinken müssen.
Der Güterverkehr für die nächsten 50 Jahre muss also für zukunftsfähige Verbrauchsmengen (und nur für diese) berechnet werden. Vieles kann weg – vgl., was ich vorhin zu „Glück“ sagte. Ich persönlich wäre unglücklicher, wenn ich soviel Auto fahren, Kleider kaufen oder solche Urlaube verbringen müsste wie manche meiner Nachbarn. Natürlich tauge ich nicht als Maßstab, doch klar ist „weniger ist mehr“, die Menschheit braucht einen sehr stark gebremsten Temperaturanstieg und dazu weniger Verkehr, vor allem viel weniger motorisierten Individualverkehr und geringeren Verbrauch von Ressourcen, vor allem extrahierter wie Öl und Metalle.
Das ist Stand der Wissenschaft. Die taz berichtete am 19.4.2021 über eine Studie zu klimapolitisch notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen; die Studie ist bei der Heinrich-Böll-Stiftung erschienen.[6] Dort wird argumentiert (S.9), eine sozial-ökologische Transformation sei nötig, „bei der es in erster Linie darum geht, weniger zu produzieren und zu konsumieren, aber sehr wohl auch darum, konkrete menschliche Bedürfnisse zu befriedigen und dem Gemeinwohl zu dienen, indem man Kooperation, Fürsorge, Solidarität und Nachhaltigkeit fördert, um ein gutes Leben für alle zu erreichen.“ Menschliches Wohlbefinden könne durch – nicht trotz – geringeren Verbrauch steigen. So könnten Menschen nicht nur akzeptieren, weniger zu verbrauchen, sondern auch zu einem System zu wechseln, das nicht auf dem Zwang zu ewigem Wachstum basiert. Das Gerede vom „Verzicht“ wäre unnötig. Die Autor:innen befürchten, dass auch die fortschrittlichsten bestehenden Programme zur Begrenzung des Temperaturanstiegs „keinen nachhaltigen, sicheren und auf Teilnahme beruhenden Weg bieten, eine unkontrollierte Klimakrise zu verhindern“ (S. 13). Technologische Lösungen (gemeint sind wohl z.B. E-Autos oder Wasserstofftechnologie)[7] seien nicht aussichtsreich und ihrerseits mit ökologischen Risiken verbunden. Der Globale Norden sei verantwortlich für die Klimakrise und müsse daher handeln, indem Verbrauch und Produktion reduziert werde.
Der Güterverkehr nahm zwischen 1990 und 2014 weltweit um 60% zu (S.43). Ursache ist v.a. die Produktion in Billiglohnländern für den Globalen Norden. Die Handelsmenge lässt sich ohne Verlust an Lebensqualität reduzieren. Die Studie bietet eine lange Liste von Maßnahmen dazu, z.B. Regionalisierung von Produktion und Verbrauch oder längere Nutzungsdauer der Produkte.
Was heißt das alles für uns als Bewegung? Wir können ausprobieren, wieviel wovon wir zum eigenen Glück brauchen. Natürlich reicht das nicht, wir als Verbraucher haben zu wenig Macht. Wir als Bürger:innen brauchen ein konkretes Bild von der nachhaltigen Stadt der Zukunft. Daraus leiten sich Forderungen an die Politik ab.
Die Berechnungen für die Bedürfnisse der nachhaltigen Stadt können wir, die Anti-S21-Bewegung, nicht alleine erstellen, so wenig wie die Ingenieure22 ein alternatives Baubüro für S21 sein können. In staatlichen Behörden bestehen aber durchaus Kapazitäten; vielleicht müsste man dort Aufgaben austauschen. Manchmal wäre bloßes Zuhören schon viel. Darüber sprach Dieter Reicherter letzte Woche, als er von den Einwänden des städtischen Amts für Umweltschutz gegen die Rosensteinplanung berichtete. Wenn diese von Anfang an bekannt gemacht worden wären, hätte im öffentlichen Raum eine Debatte stattfinden können – ein Stück Demokratie. Wir können Einsichtnahme manchmal erzwingen; sie müsste zu entsprechenden Planungen führen – schließlich ist es unser Staat, oder?
Ich verabschiede mich mit
„Oben bleiben und weiterlernen!“
[1] https://www.youtube.com/watch?v=H3ndWMWrpFQ
[2] http://www.postwachstumsoekonomie.de/ Hier finden sich sehr lesenswerte einführende Texte und Hinweise auf aktuelle Vorträge
[3] Winfried Wolf per E-Mail an mich
[4] https://changing-cities.org/aktuelles/page/4/
[5] https://www.pressenza.com/de/2020/11/in-barcelona-entsteht-eine-der-groessten-fussgaengerzonen-europas/
[6] Bernhard Pötter „Ein Flug alle drei Jahre“, in: taz vom 19.4.2021, S. 9.
Die Studie von Kai Kuhnhenn, Luis Costa, Eva Mahnke, Linda Schneider, Steffen Lange: A Societal Transformation Scenario for Staying Below 1.5°C. https://www.boell.de/de/2020/12/09/societal-transformation-scenario-staying-below-15degc. Übersetzungen aus dem Engl. von mir – K.N.
[7] Zu letzterem hat Winfried Wolf ein kleines Buch geschrieben: Winfried Wolf: Mit dem Elektroauto in die Sackgasse. Warum E-Mobilität den Klimawandel beschleunigt, Promedia, Wien 2019, ISBN 978-3-85371-450-8.
Zu dem neuen Buch von Winfried Wolf:
Mit dem Elektroauto fährt man bekanntlich nicht nur in die Sackgasse, auch etwas schneller auf den Friedhof, besonders wer hinten in der Nähe der Batterie sitzt.