Rede von Dieter Reicherter, Vorsitzender Richter am Landgericht a.D., auf der 624. Montagsdemo am 15.8.2022
Liebe Freundinnen und Freunde,
heute will ich eine Dichterlesung halten – wir sind bekanntlich das Land der Dichter und Denker. Deshalb fangen wir einmal mit dem Denken an, und ich frage euch: Ein Terrorist stellt die Anleitung zum Bau einer Bombe ins Internet und schreibt dazu: Ich weise darauf hin, dass der Einsatz von Bomben gefährlich und verboten ist. Ein anderer Terrorist baut nach der Anleitung eine Bombe und zündet sie im S21-Tunnel. Wegen mangelhaften Brandschutzes sind dann leider alle Zuginsassen tot. Der Terrorist, welcher die Bauanleitung veröffentlicht hat, wird wegen Beihilfe zum Mord angeklagt und verteidigt sich vor Gericht, er habe doch darauf hingewiesen, dass man keine Bomben einsetzen darf. Nun die juristische Frage an euch – wird der Angeklagte freigesprochen?
Nach dieser Einleitung wird es schwieriger, weil wir es nicht mehr mit Terroristen zu tun haben, sondern mit besonders anständigen hochbezahlten Staatsdienern. Und die besonders Anständigen raten ihrem obersten Chef, wie er vor einem Untersuchungsausschuss eine besonders gute Aussage machen soll. Sie schreiben ihm also auf vielen Seiten haarklein auf, was er sagen soll. Damit das auch in das Gesamtbild passt, schreiben sie in ihren Entwurf auch ganz genau, was alle anderen Zeugen gesagt haben. Ferner überlegen sie sich, welche Fragen an ihren Boss gestellt werden könnten, und was er dazu am besten sagen sollte. Der eine von ihnen schreibt sogar einen ellenlangen Vermerk darüber, was er selbst zur Entlastung des Chefs ausgesagt hat.
Nur zum Verständnis – wir reden von einer Zeugenaussage im Untersuchungsausschuss eines Landtags. Nach dem Gesetz müssen Zeuginnen und Zeugen dort genauso die Wahrheit sagen wie vor einem staatlichen Gericht und werden genauso bestraft, wenn sie lügen. Das wissen die braven Staatsdiener und schreiben deshalb in das Konzept für ihren Chef folgenden Hinweis: „Die vorgeschlagenen Aussagen sind lediglich eine Anregung. Sie spiegeln den Eindruck der bisherigen Zeugenaussagen wieder. Entscheidend für eine wahrheitsgemäße Aussage sind ausschließlich Ihre eigenen Erinnerungen.“ Ich frage jetzt nicht nach, ob die braven Staatsdiener bestraft werden können, falls ihr Boss sich an ihre Vorschläge hält und der Inhalt seiner Aussage nicht der Wahrheit entspricht.
So, das war jetzt relativ theoretisch. Für diejenigen, die noch nicht wissen, wovon ich rede: Ich berichte heute von Drehbüchern für Zeugenaussagen und von anderen Schweinereien, die sich im Jahr 2010 im Staatsministerium unseres Landes ereignet haben. Damals war Stefan Mappus von der CDU Ministerpräsident und hatte mit dem Polizeieinsatz vom 30.9.2010 im Schlossgarten selbstverständlich nichts zu tun. Jedenfalls war das die Meinung im Staatsministerium, als ein Untersuchungsausschuss des Landtags die Vorwürfe der Einmischung von Mappus aufklären wollte.
Und nun kommt meine Geschichte: Wie ihr vielleicht wisst, stelle ich gerne Anträge auf Akteneinsicht bei Behörden, um die Wahrheit herauszufinden. Im Zusammenhang mit dem genannten Polizeieinsatz stellte ich Ende 2012 auch beim Staatsministerium des Landes einen entsprechenden Antrag.
Für diejenigen, die es vergessen haben: Seit 2011 sind dort die Grünen an der Macht. Was nichts daran änderte, dass die Einsicht in viele Dokumente verweigert wurde. Allerdings konnten mein Mitstreiter Gert Meisel und ich in tagelanger Arbeit trotzdem Tausende von Dokumenten sichten und einscannen, die schon damals erheblichen Wirbel verursacht haben. Man denke nur an die Richterin, die aufgrund eines persönlichen Schreibens an Mappus als befangen enttarnt wurde und keine Strafsachen gegen S21-Gegnerinnen und -Gegner mehr bearbeiten durfte. Umso spannender war, was in Dokumenten steckte, die wir nicht sehen durften. Also legte ich zunächst einmal Widerspruch gegen die ablehnende Entscheidung ein. Daraufhin erhielt ich Zugang zu einem weiteren Teil der Dokumente. Für andere Unterlagen blieb es bei der Ablehnung. Nun blieb nichts anderes mehr übrig, als den Klageweg zu beschreiten.
Das tat ich dann auch. Die einzelnen Urteile lasse ich weg und erwähne nur, dass sich das Verwaltungsgericht Stuttgart, anschließend der Verwaltungsgerichtshof in Mannheim, das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig und der Europäische Gerichtshof in Luxemburg mit meiner Klage beschäftigt haben. Übrigens beteiligte sich auch die Deutsche Bahn AG an dem Verfahren. Sie hat ja nichts Besseres zu tun. Kein Wunder, dass es bis zur jetzigen vollständigen juristischen Klärung fast 10 Jahre dauerte. Ein Teil ging jedoch schneller: Vor drei Jahren wurde mir die Einsichtnahme in die Kommunikationsstrategie des Landes zu S21 vom Bundesverwaltungsgericht zugesprochen. Dabei stieß ich auf die tolle Idee, dass man die Fantastischen Vier und den VfB Stuttgart als Werbeträger für Stuttgart 21 einspannen wollte.
Nun also habe ich endlich auch die Einsicht in die restlichen Dokumente des Staatsministeriums erkämpft. An dieser Stelle möchte ich mich sehr herzlich bei meinen Freunden Gert Meisel, Robert Vogt und Rechtsanwalt Frank-Ulrich Mann aus Freiburg für die Unterstützung im langen Kampf von David gegen Goliath bedanken!
Was aber stand in den fast zwölf Jahre lang geheim gehaltenen Unterlagen? Dabei ging es zum einen um die Unterlagen zum Untersuchungsausschuss wegen des Polizeieinsatzes vom 30.9.2010. Zum anderen handelte es sich um Dokumente zum sogenannten Schlichtungsverfahren unter Heiner Geißler. Vorab: die Unterlagen machten nicht gerade den Eindruck als ob sie vollständig seien. Wäre ich böswillig, könnte ich vermuten, dass manches Belastende nach der von der CDU 2011 verlorenen Wahl vernichtet wurde. Aber auch so war es schlimm genug.
Das Thema meiner Rede erinnert an Hollywood. In der Tat hätte ein Drehbuchautor die Geschichte nicht besser erfinden können. Da geht es doch tatsächlich um Menschen mit Bildung und Verstand – so nehme ich wenigstens an – die vor dem Untersuchungsausschuss als Zeugen aussagen sollten. Ein Zeuge muss alles wahrheitsgemäß berichten. Er darf nichts dazu erfinden und nichts Wichtiges weglassen. Das gilt für alle. Man dürfte also annehmen, dass auch gebildete Herren das wissen und sich daran halten. Die von mir eingesehenen Dokumente sprechen aber eine ganz andere Sprache. Demnach hat man sowohl für den damaligen Ministerpräsidenten Stefan Mappus als auch für dessen Staatssekretär Hubert Wicker regelrechte Drehbücher für ihre Vernehmungen geschrieben mit sogenannten Eingangsstatements sowie ausführlichen Informationen zu den Aussagen der anderen Zeugen. Man hatte es, wie sich aus den Dokumenten ergibt, extra so gelegt, dass die anderen Zeugen zuvor vernommen wurden und man ihre Aussagen berücksichtigen konnte.
Ob diese anderen Aussagen wahrheitsgemäß oder Teil eines Zeugenkomplotts waren, steht auf einem anderen Blatt. Jedenfalls war es mit diesen Informationen und Vorschlägen wunderbar möglich, die Aussagen von Mappus und Wicker entsprechend anzupassen. Neben den Drehbüchern für beide fand ich auch einen Vermerk, was Polizeipräsident Stumpf am besten sagen solle. Es ging um den Vorwurf, Mappus habe bei einer Besprechung am Nachmittag des 29.9.2010 im Staatsministerium Einfluss auf die Entscheidung genommen, den Polizeieinsatz am nächsten Tag von 15 auf 10 Uhr vorzulegen. Stumpf sollte aussagen, er habe sich schon vor der Besprechung für die Verlegung entschieden. Und das tat er auch.
Doch zurück zu Mappus. Im Drehbuch stand fettgedruckt Folgendes: „Hinweis für MP: Ihr in der Sitzung gemachtes Angebot, ggf. selbst mit verschiedenen MP´s zu sprechen, um zusätzliche Kräfte aus anderen Ländern zu gewinnen, wurde bislang von keinem Zeugen der Besprechung thematisiert“. Erstaunlicherweise erwähnte Mappus in seiner Aussage dieses Angebot nicht. Ich gehe davon aus, er hat das lediglich vergessen und nicht absichtlich verschwiegen.
Und dann leistete sich Mappus einen Freudschen Versprecher und erwähnte Protokolle des Polizeipräsidenten Stumpf. Dazu stellte der Obmann der Grünen Uli Sckerl ihm folgende Frage: „Habe ich Sie vorhin richtig verstanden, dass Sie Protokolle des Herrn Stumpf gelesen haben oder war das – – Sie hatten vorhin was von Kenntnisnahme von Protokollen über Aussagen des Herrn Stumpf gesagt.“
Die Antwort von Mappus dazu war: „Protokolle von Herrn Stumpf habe ich nicht. Nein. Also weder in der Vergangenheit gehabt, noch habe ich sie gegenwärtig." Tatsächlich waren ihm aber die Aussagen des Polizeipräsidenten Stumpf in allen wesentlichen Teilen aufgeschrieben worden.
Man kann spekulieren, warum die Regierung unter Kretschmann so lange die Herausgabe der brisanten Dokumente an mich blockiert hat. Wollte man die Vorgänger und jetzigen Koalitionspartner schützen? Jedenfalls sind alle etwaigen Straftaten inzwischen verjährt und man behält weiße Westen.
Und schon sind wir beim nächsten Thema. Es geht um die Unterlagen zum Schlichtungsverfahren. Dazu wurden mir zwei Vermerke vorgelegt. Beim zweiten sieht es so aus, als ob der Schluss fehlt. Aber mehr gibt es angeblich nicht.
Doch schon der erste Vermerk vom 10.11. 2010, überschrieben als vertraulich, hat es in sich und ist mit drei Seiten auch vollständig. Frei nach Goethes Faust, 1. Teil, sage ich: „Heiner! Mir grauts vor dir.“ Denn der Öffentlichkeit wurde damals weisgemacht, dass es sich um einen objektiven Faktencheck handelte und Stärken und Schwächen des Projekts objektiv geprüft werden sollten. Umso erstaunlicher ist der Inhalt dieses Vermerkes. Denn der belegt, dass die Landesregierung schon 2010 die Schwächen des Projekts kannte, welche ja bekanntlich von ihr im Schlichtungsverfahren bestritten wurden. Ebenso klar war der Landesregierung, dass die zu erwartenden Kostensteigerungen nicht finanziert waren und Land, Stadt, Bahn und Bund würden nachzahlen müssen. Ich erinnere daran, dass zur Volksabstimmung im Jahr danach das Gegenteil behauptet wurde und dass bis heute offiziell immer bestritten wird, die Projektbeteiligten müssten sich an den Mehrkosten beteiligen. Im Gegenteil ließ man sich verklagen mit der Behauptung, die Bahn müsse die Mehrkosten alleine tragen.
Besonders infam ist auch die Idee, die Behebung der schwerwiegenden Mängel des Projekts könne man in der Schlichtung als Kompromiss verkaufen und dann die Projektgegner für die Kostensteigerungen verantwortlich machen. Der Schlichterspruch sollte zu einer „Lebensversicherung“ für die Regierung umfunktioniert werden. Und er sollte zwischen Heiner Geißler und den Projektträgern sogar vorab vertraulich abgestimmt werden. Seine Vorschläge sollten uns Gegnern nicht Recht geben. Und das Fazit der Landesregierung lautete wörtlich: „Wir wollen und brauchen den Erfolg der Schlichtung.“ Deutlicher kann man nicht zeigen, dass es um Machterhalt und nicht um guten Bahnverkehr ging!
Bei dem Ganzen fällt auf, dass sich in all den Jahren nichts zum Besseren gewandelt hat. Genau wie damals werden auch jetzt schwerwiegende Mängel verschwiegen wie mangelnde Leistungsfähigkeit und fehlender Brandschutz. Und wieder werden Gründe erfunden, warum teure Nachbesserungen nötig seien. In diesem Fall ist es der Deutschlandtakt, der angeblich zu weiteren Zusatzbauten zwingt, die fast den gleichen Umfang wie Stuttgart 21 haben und deshalb von uns als zweites Stuttgart 21 bezeichnet werden. Ich erwähne nur den zerstörerischen und klimaschädigenden Pfaffensteigtunnel.
Immerhin können wir uns nach diesem aufschlussreichen Blick in die Trickkiste der hohen Herrschaften besser wappnen für den weiteren Kampf, der noch lange nicht zu Ende ist. Bei alledem sollen sie unten und wir – Oben bleiben!
Sehr geehrter Herr Reicherter!
Vielen herzlichen Dank für Ihre Zähigkeit und unermüdliche Ausdauer beim Entlarven dieser Herren im feinen Zwirn. Ich bezeichne unsere Volks-ver-treter schon lange als Marionetten der S21-Tunnelbohrer-, Bau-, Beton- und Immobilien-Lobbyisten. Und je teurer das S21-Projekt wird, umso größer sind die Brosamen, die vom Tisch dieser Herren fallen. Es riecht förmlich nach Korruption, auch wenn alles im Rahmen des gesetzlich Erlaubten geschieht.
….was unterscheidet Stuttgart von Hollywood?
In der Hauptstadt von the Länd(le) re“gier“en gewissenlose Sch(l)auberger als gewählte Volksvertreter. In Hollywood entstehen Märchen als filmisches Theater, -ebenfalls hochdotiert- allerdings mit Weltklasse Schauspielern von Beruf.
Ein Dankeschön an Dieter Reicherter für die unendliche Geduld,- auch wenn „wir“ alles ahnten- den Betrug an unserer Hörigkeit zur märchenhaften „Demokratie“ akribisch nachzuweisen.