Rede von Steffen Siegel, Schutzgemeinschaft Filder, auf der 612. Montagsdemo am 16.5.2022
1994 – vor 28 Jahren – kamen einige ältere Herren auf die hirnrissige Idee, einen stolzen, funktionstüchtigen Kopfbahnhof durch einen schiefen, unterdimensionierten Darmbahnhof zu ersetzen, mit all den ständigen Verstopfungen, die einem Darm eigen sind, und sie beschlossen, die Gäubahnzüge von Zürich nach Stuttgart auf der dafür nicht ausreichend dimensionierten S-Bahntrasse durch Filderortschaften zum Flughafen fahren zu lassen.
Flughafenchef Fundel jubelte – das könnte ihm ja bis zu 1,5 Mio. mehr Fluggäste pro Jahr bescheren. Eine Mobilitätswende, wie sie unsere Enkel zwingend bräuchten, sieht allerdings ganz anders aus.
Und dann, 8 Jahre später, 2002, wurden die dazugehörigen Filderpläne zur Planfeststellung eingereicht. Das EBA lehnte das Ansinnen immer wieder konsequent als „nicht genehmigungsfähig“ ab. Nach weiteren 8 Jahren, 2010, erließ dann der von Bahnfragen relativ unbeleckte Minister Ramsauer eine eigenartige Ausnahmegenehmigung für diesen Schwachsinn auf Schienen, allerdings mit einer Befristung bis 2035. Diese Befristung wurde vor kurzem im Handstreich aufgehoben. Dagegen klagt die Schutzgemeinschaft Filder, bisher ohne Ergebnis.
Und so versuchte man mit dem Schlichter Heiner Geißler unseren Zorn abzumildern. Gut, er sagte einiges Richtige, z.B. die Gäubahn müsse „funktionstüchtig an den Hauptbahnhof angeschlossen werden“. Nur sagte er eben in seinem schlichten Schlichterspruch auch: „Die Gegner von Stuttgart 21 haben mit dem Kopfbahnhof 21 eine durchaus attraktive Alternative, es gibt jedoch ganz konkrete Nachteile. Der am schwersten wiegende Nachteil liegt darin, dass ... keine Planfeststellungen, also Baugenehmigungen vorliegen. Für Stuttgart 21 dagegen gibt es eine Baugenehmigung, und dies ist …gleichbedeutend mit einem Baurecht.“
Das sagte er 2010, und 12 Jahre später, heute, 2022, liegt immer noch keine Baugenehmigung für den Filderabschnitt und damit für ganz Stuttgart 21 vor. Und weil dies bereits damals die Leute erboste, inszenierte man 2012 das nächste Täuschungsmanöver, den sogenannten Filderdialog. Mit willkürlich ausgewählten BürgerInnen erhoffte man sich, dass „die Akzeptanz für das Vorhaben steigt“. Trotz aller üblen Tricks kam die überwiegende Zahl der Beteiligten zum Ergebnis: Lasst die Gäubahnzüge auf der schönen Panoramastrecke fahren und lenkt sie nicht über den Flughafen.
Bahn und Politik hatten dies so nicht erwartet und nach wenigen Tagen des Zögerns verkündigten sie: „Das Ergebnis des Filderdialogs ist die Beibehaltung der Antragstrasse.“ Hier wurde in unfasslicher Weise das tatsächliche Ergebnis auf den Kopf gestellt – es war eine üble Gaunerei.
Und dabei hatte es der Geburtshelfer von S21, Professor Heimerl, sehr deutlich gesagt: „Wir versündigen uns an unseren Kindern und Enkeln, wenn wir die Antragstrasse bauen, bei mehreren Zwangspunkten, und davon haben wir hier viele, kann das System kollabieren.“
Nach einigem Hin und Her wurde dann 2014 das Planfeststellungsverfahren für den Filderabschnitt 1.3 mit der Antragstrasse eröffnet. Es kam zu keinem Beschluss, da sich die Mischverkehrsstrecke als „unfahrbar“ erwies (Gutachter Steinborn aus Dresden).
Und so griff man wieder in die unerschöpfliche Kiste der Tricksereien und Täuschungen und teilte ohne weitere Anhörung den Abschnitt 1.3 in zwei Teile a und b und behauptete, Teil a sei ohne weiteres Verfahren planfestgestellt und damit hätte man für ganz S21 eine Baugenehmigung. 1.3b, d.h. der angeblich unumstößliche Direktanschluss an den Flughafen, gehört offensichtlich nicht wirklich zu S21. Dagegen klagten wir erfolglos.
Und es wurde jahrelang weiter falsch gespielt: Man dachte an einen Bahnhof-Plus unter der Flughafenstraße, man erfand ein „Drittes Gleis“ am Terminalbahnhof mit einer wahnwitzigen jahrelangen Unterbrechung des S-Bahnanschlusses des Flughafens und Bernhausens. Ich erinnere an meine Montagsrede hier, mit dem Titel „Drittes Gleis – wieder Scheiß“. Es reimt sich halt auch noch so schön.
Der ehemalige Daimlerchef Edzard Reuter brachte vor zwei Jahren alles auf den Punkt: „Was Stuttgart 21 angeht ist alles erstunken und erlogen, auch die Volksabstimmung war ein Betrug und ein Verbrechen am demokratischen System“.
Und nun endlich, fast 20 Jahre nach der ersten erfolglosen Beantragung eines Planfeststellungsverfahrens 2002, wird der Abschnitt 1.3b erörtert, allerdings ohne die Diskussion über Alternativen ernsthaft zuzulassen. Bis heute gibt es kein Ergebnis.
Und plötzlich wird alles wieder auf den Kopf gestellt – aus dem Hirn des Staatssekretärs Steffen Bilger kriecht eine wirre Idee: Statt der unmöglichen Antragstrasse bauen wir einen 11,5 km langen doppelröhrigen Tunnel von Böblingen unter den Ortschaften und den Feldern hindurch bis zum Bahnhof unter der Messe. Bezahlen soll es der Bund. Die Bahn inszeniert wieder ein „volksnahes“ Schauprojekt: eine sogenannte „frühe Bürgerbeteiligung“ zum Pfaffensteigtunnel, eine geschickte Mogelei. Hier wird niemand beteiligt, es ist eine miserable, einseitige Kurzinfo, wo die Informanten behaupten, wir Gegner seien Schuld an all den Verzögerungen und Kostenerhöhungen. Es war eine Bürgerbeleidigung statt einer Bürgerbeteiligung.
Von Plieninger Seite aus sollen die insgesamt 23 km Röhren gebohrt werden. Unvorstellbare Mengen an Erdaushub würden dort während vieler Jahre anfallen. Eine gigantische Baustellenfläche würde Unmengen Felder ruinieren, über 300.000 LKW-Fahrten Erde fielen dabei an, und gigantische Mengen an Beton und Stahl müssten zugeführt, gelagert und verarbeitet werden – und das über 15 bis 20 Jahre.
Die Landwirte sind schon durch die Schnellbahntrasse entlang der inzwischen 8-spurigen (!) Autobahn extrem, z.T. in ihrer Existenz bedroht. Flughafenausbau, Messebau und jetzt noch S21 verschlingen einzigartig fruchtbare Felder, die im Zeichen der Klimakatastrophe unschätzbar wichtig sind. Ich kenne diese Flächen noch aus meiner Jugendzeit und mir kommen die Tränen, wenn ich z.B. auf der Messepiazza, einer trostlosen gigantischen Betonfläche stehe, unter der fruchtbarste lebendige Erde für alle Ewigkeit begraben wurde.
Die Erfinder des Projekts haben im Jahr 2009 im Finanzierungsvertrag beschlossen, der Flughafen müsse „direkt“ angeschlossen werden. Der neue Tunnel würde aber nicht am Flughafen direkt enden sondern 27 m tief unter der Messe. Also erst mal mit dem Aufzug, wenn er denn funktioniert, hoch an die Erdoberfläche, dann 200 m mit Gepäck zum Terminal. Wäre es nicht viel direkter, wenn man in Vaihingen in die S-Bahn umstiege und dann direkt zum Terminal käme?
Doch nun zum neusten Schwachsinn, dem Pfaffensteigtunnel: Allein bei den Kosten wurde heftig getrickst. Die Bahn gibt die Kosten des Tunnels mit 970 Mio. € an. Wie immer „vergisst“ die Bahn das Einrechnen der Baupreisindices. Bei insgesamt mindestens 15 Jahren Planungs- und Bauzeit (Aussage Minister Hermann) liegen die Kosten bei sehr weit über 2 Mrd. Euro.
Die Planer sind wohl auch deshalb so scharf drauf, weil sie hoffen, der Bund bezahlt den Tunnel, und S21 würde nicht zusätzlich belastet, dabei geht es jedes Mal um Steuergeld – und das heißt letztendlich unser Geld. S21 wird in der Summe voraussichtlich weit über 15 Mrd. kosten. Dieser überflüssige Tunnel würde andere, wesentlich wichtigere Infrastrukturprojekte kannibalisieren.
Sie behaupten, nur mit diesem Tunnel werde die Umsetzung eines Deutschlandtaktes in Stuttgart möglich. Deutschlandtakt heißt, zur vollen oder halben Stunde sollen sich in einem engen Zeitfenster möglichst viele Züge nahezu gleichzeitig im Bahnhof Stuttgart aufhalten – und das auf 8 Gleisen. Da dies unmöglich ist, denken die Versager an über 100 Doppelbelegungen der Bahngleise am Tag. Bei kleinen Verspätungen – gibt es das bei der Bahn? – weiß man nicht, welcher Zug vorne steht. Das Chaos ist vorprogrammiert. Und der Pfaffensteigtunnel wird daran überhaupt nichts ändern.
Dabei beträgt die heutige Fahrzeit zwischen Stuttgart und Zürich ohne jegliche Ausbaumaßnahme der Gäubahn rund 3 Stunden und würde damit geradezu perfekt in den Deutschlandtakt zu vollen Stunden passen. Mit Neigetechnikzügen konnte schon vor Jahren eine Fahrzeit von 2 Stunden 38 Minuten erreicht werden. Mit einem durchgehend zweigleisigen Ausbau der Gäubahn nach Süden ist selbst ohne weitere Maßnahmen auf der Panoramastrecke eine – für halbstündlichen Taktverkehr taugliche – Fahrzeit von 2h 30m sicher machbar – und zwar ohne Abhängen von Böblingen und Singen und des gesamten westlichen Bodensees! Der Pfaffensteigtunnel ist dafür völlig überflüssig.
Die Finanzierungsvereinbarung muss und kann problemlos zugunsten des Erhalts der Panoramastrecke geändert werden. Wann endlich kehrt bei denen ein wenig Vernunft ein?
Das einzig richtige wären allerdings der Erhalt und die Modernisierung des Kopfbahnhofs und der Zuläufe sowie der rundum durchdachte Alternativvorschlag „Umstieg 21“ des Aktionsbündnisses mit seinem zukunftsträchtigen Logistikkonzept.
Die Stadt Stuttgart muss endlich ihre unsägliche Blockade des Erhalts oberirdischer Bahnsteige aufgeben und mit städtebaulicher Phantasie ihre Bebauungsprojekte anpassen. Gleise können übrigens auch überbaut werden!
Und wie steht es um das Klima?
Die zahlreichen Tunnelbauten bei S21 waren hinsichtlich der CO2-Produktion beim Bau von Anfang an schon nicht zu verantworten! Jetzt soll noch fast eine Verdoppelung der Tunnelstrecken erfolgen? Die Tunnellobby um Herrenknecht, Porr, Strabag/Züblin etc. hat wahrlich ganze, klimapolitisch aber unverantwortliche Arbeit geleistet!
Wenn, wie Hermann sagt, die Planung, Genehmigung und der Bau des Pfaffensteigtunnels 15 Jahre dauert, können wir davon ausgehen, dass es eher 20 Jahre werden, und dies bedeutet eine Stadtzerstörung ungeahnten Ausmaßes. Man bedenke: 1994 gab es erste Pläne, inzwischen soll S21 im Jahr 2025 fertig sein, was ja nie klappen wird, und dann noch die gerade erwähnten 15 bis 20 Jahre bis 2045 für die Filderpläne , d.h. alles in allem wird dieses Unsinnsprojekt von 1994 bis 2045 also 51 Jahre beanspruchen, wenn überhaupt. Über 50 Jahre für ein unterirdisch schlechtes Projekt! Wo gibt es das weltweit?
Und der direkte Zulauf der Gäubahnen zum Stuttgarter Bahnhof würde für 15 Jahre vollständig abgehängt und das bei der wichtigen Verbindung Zürich – Stuttgart. Der Plan zum Pfaffensteigtunnel ist nichts anderes als das Eingeständnis, dass alle bisherigen Pläne nicht klappen können.
Uns droht:
- die Zerstörung einer der besten Bahnhöfe mit raffiniertem Gleisgebirge zur kreuzungsfreien Ein- und Ausfahrt;
- eine Stadtzerstörung ungeahnten Ausmaßes;
- das klimawichtige Gleisvorfeld soll massiv bebaut werden – dann kocht es aber im Kessel;
- der auch durch S21 weiter gepuschte Flugverkehr tut ein Übriges;
- und noch was Einzigartiges: Der klimaschädliche 11,5 km lange Pfaffensteigtunnel wäre der längste Eisenbahntunnel Deutschlands. Zwischen Hannover und Würzburg liegt der bisher längste Eisenbahntunnel, der Landrückentunnel mit 10,78 km. Unser hiesiger, längster Tunnel, der Pfaffensteigtunnel ist dabei nur ein relativ kleiner Wurmfortsatz des gesamten Stuttgarter unterirdischen Tunneldarmgewirrs;
- offensichtlich schwimmen die im Geld – unserem Geld. S21 wird in der Summe voraussichtlich weit über 15 Mrd. € kosten
Zusammenfassung:
Im Grunde gibt es drei Optionen für die Gäubahnführung in unserem Bereich:
- Die Antragstrasse – im Mischverkehr betrieben – ist unfahrbar
- Der Pfaffensteigtunnel: er kostet mehr als 2 Mrd. und dauert 15 bis 20 Jahre. Die Klimakatastrophe lässt grüßen.
- Das einzig Sinnvolle ist der Erhalt der Führung der Gäubahnzüge nach Stuttgart auf der herrlichen Panoramastrecke: kostengünstig, rasch umsetzbar, Erhalt eines Notfallkonzepts für die S-Bahnen, bahntechnisch besser, sogar für den Deutschlandtakt von Vorteil usw.
Nun gut, die Herrenknechte und Grubes und Pofallas, die wahrlich genug verdient haben (nein, die haben es nicht verdient, allenfalls eingesackt) springen ab, um sich anderswo noch mehr auf Kosten der Steuerzahler und vor allem auf Kosten unserer Kinder und Enkel zu bereichern.
Mein Zorn will nicht abnehmen, und so werde ich weiterhin unermüdlich gegen dieses unterirdische, unheilbar fehlgeplante Kotzprojekt Stuttgart 21, diese Beleidigung für das aufgeklärte Menschengeschlecht, kämpfen.
Ich danke für euer geduldiges Zuhören
Oben Bleiben!
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