Rede von Michael Becker, Kernen 21, auf der 582. Montagsdemo am 4.10.2021
Wenn Sie wie ich aus dem Remstal kommend nach Stuttgart Stadtmitte radeln möchten, z.B. wie letzten Donnerstag zur Gedenkdemo, stellt sich besonders in Bad Cannstatt die Frage, welche Streckenführung ist am wenigsten schrecklich? Für welche Herausforderung reicht das Nervenkostüm? Meistens fahre ich dann die alte B14 entlang, dort gibt es von Fellbach runter eine eigene Fahrradspur und bergab stinken die Autos auch nicht so arg. Auf Höhe der Taubenheimer Straße schrumpft der Radweg auf Lenkerbreite. Steht ein Laster neben Ihnen, gehen sie auf Tuchfühlung mit den Reifen. Vor dem Wilhelmsplatz will uns das „Radwegenetz“ nach links über die Daimlerstraße in Richtung Wasen leiten: das ist ein unfallträchtiger Umweg und kein Radweg. Also fahre ich auf der Straße weiter am Wilhelmsplatz vorbei unter der Eisenbahnbrücke durch, über die König-Karls-Brücke am Unfallschwerpunkt Leuze vorbei, Richtung Schlossgarten. Uff, fast geschafft!. Ein Skandal, dass sich unter der Eisenbahnbrücke Fußgänger und Radler einen schmalen Weg teilen müssen, während sich daneben die SUVs auf zwei Fahrspuren aalen!
Nun habe ich mir gedacht, fährst du mal über die hochgepriesene neue Fahrrad- und Fußgängerbrücke, die ach so elegant unter der neuen Eisenbahnbrücke über den Neckar hängt. Erste Enttäuschung: es gibt dort keinen Fahrradweg, lediglich einen Fußgängerweg, auf dem Fahrräder erlaubt sind. Zweite Enttäuschung: die Brücke endet vor der B10 und es gilt selbige über eine Ampel zu passieren. Eine Perlenkette an Lastwagen zieht an mir vorbei, und prompt, als nach gefühlter Ewigkeit die Bedarfsampel auf grün springt, steht ein LKW mit voller Länge auf dem Zebrastreifen und blockiert den Überweg.
Warum ist das so? Seit Gründung der Bahn AG wurde die Infrastruktur für Schienen- und Güterverkehr konsequent abgebaut. Im mittleren Remstal wurden alle Firmengleisanschlüsse abgebaut und die Bahnexpressstellen dicht gemacht, während nun zehn verschiedene Paketdienste CO2-treibend über die Straßen jagen. Parallel zu dieser Entwicklung wird mit dem Bau von Stuttgart 21 eine Infrastruktur erstellt, die eine Nutzung für den Güterverkehr ausschließt. Zwar wurde zum Frisieren der Kosten/Nutzen-Kalkulation für die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm die Streckennutzung durch leichte Güterzüge mit einberechnet, Bahn-Cargo-Chefin Dr. Sigrid Nikutta musste im SWR1-Leute-Interview allerdings einräumen, dass die Bahn keinen einzigen Zug hat, der dort fahren wird. Hier würde das Konzept Umstieg 21 Plus helfen. Dabei werden die Zulauftunnel in den Talkessel für die Güterlogistik umfunktioniert und somit Güterverkehr von der Straße auf die Schiene verlagert.
Und in einem weiteren Punkt verhindert Stuttgart 21 die notwendige Verkehrswende: Es verschlingt – ohne einen eigenen Nutzen zu liefern – die Milliarden, die für den Infrastrukturausbau dringend benötigt werden. Letzten Donnerstag wurde vom Verband der Verkehrswirtschaft ein von der Unternehmensberatung Roland Berger erstelltes Gutachten zur „Zukunft Schienengüterverkehr“ vorgestellt. Darin heißt es, um bis 2030 den Marktanteil des Schienengüterverkehrs von derzeit 18 auf 25 Prozent zu steigern, werden Gesamtinvestitionen in Höhe von 52 Milliarden Euro erforderlich sein. Davon entfallen alleine 32 Milliarden Euro auf den Ausbau der Bahn-Infrastruktur. Geld, das weder die Bahn noch der Bund selbst übrig haben werden, aber eine notwendige Voraussetzung ist, um den CO2-Ausstoß im Güterverkehr von 59 Millionen Tonnen im Jahr 2019 auf 31 Millionen im Jahr 2030 mindern zu können.
Da zudem auch die knappen planerischen Ressourcen durch den Bau von Stuttgart 21 in unnützer Weise gebunden sind, ist es nun dringend geboten, den Verkehrswendeblocker Stuttgart 21 mitsamt seinen Nothilfe-Zusatzprojekten wie Nordzulauftunnel, Winnie-Hermann-Ergänzungs-Tiefkopfbahnhöfle und Bilger-Gäubahntunnel aus dem Fahrplan zu streichen. Letzterer sorgt ja auch leider durch den Umweg über den Flughafen und das Abhängen von Herrenberg, und im weiterem Verlauf der Strecke nach Zürich durch das Umgehen des Verkehrsknotens Singen für eine erheblich Verschlechterung für Reisende und Pendler, die nicht mit hoch subventionierten Billigfliegern nach Malle fliegen wollen. Die Stuttgarter Zeitung vermeldete dazu am 2.10.2021: „Bund und Bahn haben sich auf die sogenannte Kostenabgrenzung geeinigt. Damit können die Planungen für den Tunnel beginnen. Allerdings steht die Zustimmung aller S-21-Partner noch aus“.
Ich vermute mal, da wollte Staatssekretär Bilger noch schnell den Sack zumachen, bevor sich in Berlin die Verhältnisse ändern und die Union womöglich noch das Verkehrsministerium verliert. Auf Landesebene scheint die Zustimmung gegeben, immerhin hat die grün-schwarze Landesregierung den Tunnel ja im Koalitionsvertrag beschlossen. Doch was heißt das schon, schließlich steht da ja auch das Winnie-Hermann-Ergänzungs-Tiefkopfbahnhöfle drin, von dem die CDU nichts wissen will. Dazu schrieb Christian Milankovic schon am 21.9.2021 in der Stuttgarter Zeitung: „Die CDU weist die politische Verknüpfung von Gäubahntunnel und Ergänzungsstation durch Matthias Gastel entschieden zurück“, sagt Thomas Dörflinger, verkehrspolitischer Sprecher der Landtags-CDU. Entscheidend für die Ergänzungsstation sei der Nachweis des verkehrlichen Bedarfs für den unterirdischen Kopfbahnhof. Der fehlt bislang noch. „Ohne diesen rechtsverbindlich vorgegebenen Nachweis gibt es keine Finanzierung aus dem Bundesverkehrswegeplan oder dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz und auch keine Planfeststellung“.
Beim Gäubahntunnel sei man hingegen weiter: „Der Nachweis, dass der Nutzen die Kosten überwiegt, ist erbracht und der Ausbau der Gäubahn ist im vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans verankert“. Was Herr Dörflinger dabei unterschlägt, nicht der Gäubahntunnel hat den Nachweis erbracht, sondern die ganze Strecke. Deren Ausbau wurde aber schon im Vertrag von Lugano 1996 mit der Schweiz beschlossen. Der Tunnel alleine würde nie rentabel werden.
Das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 und die Schutzgemeinschaft Filder lehnten den Tunnel und die weitere Streckenführung an Singen vorbei von Anfang an ab, und nun regt sich auch im Gäu der Widerstand. Ich zitiere aus dem Singener Wochenbalatt vom 27.9.2021: „Am Montag war der Zug ‚Connecting Europe Express‘ auf der Gäubahn von Stuttgart aus unterwegs gewesen. Diese Initiative der EU zum Jahr des Schienenverkehrs soll Werbung für das Reisen durch Europa mit der Bahn machen und dazu anregen, auch längere Strecken innerhalb Europas mit der Bahn zurückzulegen. Beim Halt in Singen zeigten die beiden Grünen Kreisrätinnen Saskia Frank und Nina Röckelein wie Markus Tittelbach vom Verkehrsclub Deutschland Flagge. Die Botschaft nach dem Wahltag war klar: ‚Ich hoffe, dass unsere beiden neuen lokalen Abgeordneten Lina Seitzl und Ann Veruschka Jurisch in Berlin dafür kämpfen werden, dass uns der Singener Bahnhof als Fernverkehrsknoten für die Region erhalten bleibt und wieder gestärkt wird!‘, twitterte Röckelein zur Aktion am Montagnachmitttag“.
Und genau da möchte ich gerne einhaken: Wir sollten nicht müde werden, die Absurdität eines Winnie-Hermann-Ergänzungs-Tiefkopfbahnhöfle und einer Bilgerschen Gäubahnstrecke zu geißeln, die letztlich ja eingesteht, dass S21 eine Fehlplanung ist.
Murks bleibt Murks, da helfen keine Pillen, auch nicht beim besten Willen! Es gibt keinen Sinn im Unsinn, mit Stuttgart 21 ist eine Verkehrswende unmöglich – und darum Projektende und keine weiteren Nothilfsbauwerke – und einfach:
Oben Bleiben!