Rede von Peter Grohmann, Kabarettist, Autor und Anstifter, auf der 576. Montagsdemo am 23.8.2021
Wessen Stadt? Wessen Geld? Wessen Zorn?
„Durch Einigkeit wachsen selbst kleine Dinge, durch Zwietracht werden die größten zerstört“ – was für ein schöner Spruch! Gilt er Laschet und Söder oder etwa gar den Armen oder Reichen unter uns? Es ist der Wahlspruch der Concordia-Versicherungen mit Sitz in Hannover, die auch Löcher im Bau versichert, vor Hochwasser an der Mosel und im Ahrtal schützt, nicht aber vor Feuersbrünsten in Kalifornien, Italien, nicht vor Schleimplage im Marmarameer, abgeholzten Urwäldern am Amazonas, vor Steppenbränden oder schmelzenden Gletschern in Sibirien.
Bei der Concordia denke ich an die Siegessäule auf dem Schloßplatz, zu Ehren des württembergischen Königs Wilhelm I, an die zahlreichen Demonstrationen und Kundgebungen auf diesem Platz gegen unlauteres Schweigen, gegen das Herz der Finsternis, gegen die Tiefstapler von Stuttgart 21, an die Kundgebungen für Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit und das Ende der Monarchie.
Mein alter Freund Bischof Desmond Tutu sagte mir mal: „Peter, vielleicht hilft dir unsere Erfahrung weiter: Wir schwarzen Südafrikaner hatten das Land, und die Weißen hatten die Bibel. Sie zeigten uns die Bibel und baten uns, für einen Augenblick die Augen zu schließen. Als wir die Augen wieder aufmachten, war ein Wunder geschehen: Die Weißen hatten das Land, und wir hatten die Bibel.“
Und auch das erinnert mich an Stuttgart 21 und die vielen Presse- und Fernsehberichte, und die diversen Wahlen und Volksabstimmungen: Wir sollten für ein paar Augenblicke die Augen schließen. Als wir sie wieder öffneten, waren 300 alte Bäume weg und ein ganzer Park, und der Bonatzbau demoliert und das Gleisvorfeld verscheuert und verscherbelt und die Verantwortlichen waren auch weg.
In der Heilbronner Stimme war neulich auch von einem Wunder zu lesen: Die gläubige Journalistin war extra nach Stuttgart gefahren – leider noch vor dem Streik unserer Lokführer – und hatte Michael Pradel getroffen, Technik-Chef der Bahn. Die Kollegin fällt fast in Ohnmacht vor Ehrfurcht und schreibt: „Wenn Stuttgart 21 das Paradies auf Erden für Bauingenieure ist, ist (Michael) Pradel so etwas wie der Türwächter und der liebe Gott in einer Person.“ Da wundern sich selbst Atheisten, und ich frage: mein Gott, warum hast du uns verlassen und bist zu Bahn gegangen?
Der Herr weiß natürlich, dass Stuttgart 21 ein Klimakiller ist, aber er will sich noch nicht direkt einmischen. Alles muss man selber machen. Anders als einige Medien, die inzwischen sogar den Beton anbeten, wissen die Götter, dass es die Menschen selbst sein müssen, die die Welt verändern.
In einer aktuelle Studie sagt das Weltkinderhilfswerk, dass unsere Kinder die Haupt-Leidtragenden des Klimawandels sind, Langnese hin oder her. Rund eine Milliarde von ihnen sind durch die Folgen „extrem stark gefährdet“. In den vergangenen Jahren haben sich durch den Klimawandel die Wanderungsbewegungen vervielfacht – vergessen wir bitte nie, dass unsere Vor-Vor-Fahren über Afrika aus Sibirien nach Untertürkheim gekommen sind. So gesehen sind wir letztlich sogar alles Russlanddeutsche.
Wir alle haben unsere Träume. Sie sind ganz verschieden. Der gemeinsame Traum war aber immer: Nach den Träumen rechtzeitig wieder aufzuwachen, sich auf den Weg zu machen. Nein, nicht in die Paradiese, nicht zu den Siegessäulen, sondern in die Realität.
Momentan – wem sag' ich das – schaun zu viele weg. Aber Menschen wie Ihr werden zum Gesicht einer Stadt, zum Gesicht einer Bewegung. Die ein Gesicht haben, haben auch ein Rückgrat. Die ein Rückgrat haben, haben einen aufrechten Gang. Die einen aufrechten Gang haben, kennen den langen Weg. Die den langen Weg kennen, brauchen einen langen Atem. Die einen langen Atem brauchen, brauchen die frische Luft. Die, die frische Luft brauchen, kämpfen darum jeden Atemzug
Nein, die Kämpfenden werden nicht weniger. Schaut auf die Jungen vom Friday for Future, die neuen 100 000. Die sind nicht vom Himmel gefallen. Die gibt es, weil es Leute wie Dich, wie Euch gibt, Menschen, die mit unendlicher Geduld jahrzehntelang predigen, aufklären, erzählen, berichten, Bilder und Worte und Beispiele liefern. Sei Du einer vom Ihnen. Sei Du einer von denen, die nicht müde werden.
„Wir sind auf der Welt, um die Wirklichkeit zu ändern“, schrieb mir meine Omi Glimbzsch aus Zittau ins Poesiealbum. Das hab' ich eingesehen, aber es dauert eben etwas länger.
Wir sehen mehr beim Klimastreik am 24.9.2021. Ich grüße die, auf aufrecht gehn, ich grüße die, die laut werden, die handeln: ich grüße mit Euch die streikenden Kolleginnen und Kollegen bei den Eisenbahnen,
ich grüße alle, die oben bleiben!