Schönen guten Tag auf dem Schillerplatz,
verehrte Protestgemeinde von Stuttgart,
wenn ich mich richtig erinnere, wurde die Montagsdemo im Lauf der Zeit ein echter Wanderzirkus. Mal gastierte er am Bahnhof, mal im Schlossgarten, mal auf dem Marktplatz oder auf dem Schlossplatz. Dann gab es auch etliche Auswärtseinsätze, von Berlin bis Frankfurt am Main – und nicht zu vergessen die Demos, die mitten in den Wohnzimmern stattfanden, als Online-Aktionen in den Lockdowns.
Das Herumziehen von Ort zu Ort aber ändert grundsätzlich nichts an der Standfestigkeit der Mitwirkenden und an der Sache an sich. Während wir herumziehen, zieht sich dieses Profitmacher-Projekt namens Stuttgart 21 mit all seinen Pleiten, Pannen und Lügen immer mehr in die Länge – und verschandelt einen Ort nach dem anderen. Wenn ich das sage, denke ich nicht nur zurück an abgesägte Bäume oder einen verwüsteten Park. Und schon gar nicht bin ich der Meinung, alles müsse bleiben, wie es war und ist. So reaktionär und perspektivlos denken und handeln vielmehr die, die uns seit jeher vorwerfen, wir seien die Gestrigen. Dieselben Politiker und Geschäftemacher, die mit Dollarzeichen in den Augen ununterbrochen von Zukunft und Fortschritt faseln, verteidigen die Zustände und Verhaltensweisen einer Vergangenheit, die ihnen nichts, aber auch gar nichts für die Gegenwart beigebracht hat.
Bis gestern war drei Tage lang das Klimacamp im Stuttgarter Uni-Park aufgebaut, an einem in dieser Stadt nicht besonders bekannten Ort.
Die Geschichtsbewussten, die sich mit den Zusammenhängen von Vergangenheit und Gegenwart beschäftigen, wissen, dass im Uni-Park der Gedenkstein für die ermordete Widerstandskämpferin Lilo Herrmann steht. Und sie wissen, warum einst die Faschisten das ganze Land beherrschen konnten. Nämlich deshalb, weil viele, die sich konservativ nannten und für liberal hielten, nichts gegen die Nazis und deren Helfershelfer unternommen haben. Sie ließen die Völkischen gewähren. Der Antisemitismus in Stuttgart und im Württembergischen konnte sich vor allem auch deshalb ausbreiten, weil zu viele aus reiner Bequemlichkeit oder falsch verstandener Liberalität antisemitische Hetze duldeten und akzeptierten.
Damit wieder zum Klimacamp im Uni-Park. Die Partei, die das Thema Klima zu ihrem sogenannten Markenkern gemacht hat, sind die Grünen. Unter diesen Grünen – und an dieser Stelle kann ich sehr wohl differenzieren – gibt es welche, die sich vergangene Woche im Landtag bei der Wahl eines AfD-Kandidaten zum baden-württembergischen Verfassungsrichter ihrer Stimme enthalten haben. Damit haben sie einem den Weg geebnet, der einer nationalistisch und völkisch geprägten Partei angehört. Einer Partei, die mit Rechtsextremen zusammenarbeitet und den Köpfen der neuen Rechten als parlamentarische Handlangerin dient. Wer mithilft, ein derartiges politisches Klima zu schaffen, ist selbst gefährlich – und politisch auch in anderen Fragen nicht glaubwürdig. Wer für sich eine demokratische Gesinnung in Anspruch nimmt, darf sich niemals der Stimme enthalten und haltungslos zuschauen, wie Völkische und Nazis immer mehr Einfluss bei uns gewinnen.
Und da hilft es nicht, wenn nach jeder Kritik an der Partei die Replik kommt, man betreibe „Grünen-Bashing“. Es geht hier nicht um Bashing. Es geht darum, angesichts des gefährlichen Kulturkampfs von rechts vor dieser politischen Verantwortungslosigkeit im Landtag zu warnen. Der strategische geführte Kulturkampf der Rechten ist ein Angriff auf unsere Lebensweise und die liberale Demokratie. Und wer dagegen nichts tut, sondern sich rückgratlos enthält, hat nicht begriffen, was unsere Geschichte mit der Gegenwart zu tun hat. Die Rechten hingegen haben durchaus aus der Geschichte gelernt: Sie wissen auch heute, wie man vermeintlich politische Gegner für sich einspannt.
Albert Einstein hat gesagt: „Die Welt ist viel zu gefährlich, um darin zu leben – nicht wegen der Menschen, die Böses tun, sondern wegen der Menschen, die daneben stehen und sie gewähren lassen.“
Die Welt, das erleben wir in diesen Tagen, wird definitiv immer gefährlicher. So gefährlich, dass bei Unwetterkatastrophen viele Menschen ihr Leben lassen müssen. Um über diese Bedrohungen aufzuklären und gegen die politische Tatenlosigkeit zu protestieren, haben gerade junge Menschen aus verschiedenen Bündnissen ein Klimacamp eingerichtet. Ein solches Camp ist ein wichtiger Ort der Begegnung – gut ausgesucht in Stuttgart, wo der monströse Klimakiller Stuttgart 21 seit Jahren die Stadt verschandelt. Wo dieses zerstörerische Größenwahnprojekt von fast allen Parteien akzeptiert wird, weil es Profite verspricht.
Am Klimacamp der vergangenen Tage haben auch Aktivistinnen und Aktivisten von Stuttgart 21 mitgewirkt – das war und ist ein starkes Zeichen. Es gibt für die demokratische außerparlamentarische Opposition nichts Wichtigeres, als sich zusammenzutun, sich zu vernetzen – und sich damit für das Gemeinsame der verschiedenen Initiativen und Bündnisse einzusetzen. Solidarität ist nicht nur ein Wort.
Für das solidarische Miteinander brauchen wir Orte der Begegnung. Nicht nur dann, wenn wir Demos auf dem Ordnungsamt anmelden. Ein Ort der Begegnung ist, dies nebenbei, seit jeher ein Bahnhof – allerdings nicht mehr, wenn er zerstört wurde wie in Stuttgart. Dieser Ort hat das Menschliche eingebüßt. Vielen von uns, die sich gegen das Immobilienprojekt Stuttgart 21 engagieren, geht es aber nicht nur um einen Bahnhof. Es geht um den Umgang mit dieser Stadt. Um den Umgang mit Menschen. Mit Menschen, die immer heftiger unter dem Mietenwahnsinn und der Wohnungsnot leiden.
Wie aber geht die Politik mit dieser Stadt um? Weil Sozialarbeit vernachlässigt wurde, weil eine humane Auseinandersetzung mit den Menschen im neoliberalen Denken keinen Platz hat, greift man zu den drastischen Mitteln der Verdrängung. Und da wird es gelegentlich buchstäblich komisch: Ausgerechnet in der Stadt, die ihre Staffeln oder Stäffele als Wahrzeichen preist, ließ der neue OB die attraktivste Treppe im Zentrum eigenmächtig sperren – die Freitreppe am Schlossplatz. So sollen junge Menschen vertrieben werden. Genauso eigenmächtig, wenn auch juristisch legitim, sprach derselbe OB mit seinem nicht minder realitätsfremden Ordnungsbürgermeister sogenannte Verweilverbote am Feuersee und auf dem Marienplatz aus. Der oberste Neue aus Backnang ist inzwischen ja bekannt als wandelnde Chefsache.
Die Pointe dieser provinziellen Politik der Hilflosigkeit und Ahnungslosigkeit aber ist die Muckibuden-Nummer: Die Rathaus-Chefs ließen Kraftmaschinen auf den Kleinen Schlossplatz stellen. In diesem Geist haben einst die Kommissköpfe unter unseren Turnlehrern ihre Zöglinge behandelt – nach dem Motto: Mehr Liegestütze, dann vergehen euch schon alle anderen Lüste.
Was eigentlich bilden sich die Rathaus-Herren ein? Sie glauben, sie könnten mit öffentlichen Räumen umgehen, wie es ihnen passt. Sie denken, die Stadt gehöre ihnen. Und ein Beispiel für den verantwortungslosen Umgang mit der Stadt ist das Metropol-Gebäude.
Ihr erinnert euch, liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter: Im vergangenen Dezember stoppte der Montagsdemozug zu einer Aktion vor dem Metropol in der Bolzstraße, wo einst Stuttgarts erster Bahnhof und das legendäre Hotel Marquardt standen. Damals war schon bekannt, dass die Kinos im Metropol schließen würden. Das Haus, einst im Besitz der Stadt, war bereits von ihrer Eigentümerin, der Union Investment, an ein Boulder-Unternehmen vermietet worden. Ein Ort mit einzigartiger Geschichte soll jetzt zur Kletterhalle umgebaut werden. Angesichts dieser politischen Unkultur könnte man tatsächlich die Wände hochgehen.
Schon an diesem Donnerstag um 18 Uhr treffen wir uns auf dem Kleinen Schlossplatz zu unserer 8. Kundgebung zum Thema Metropol. Gerade jetzt, da wir ständig mit faschistischen und rassistischen Attacken konfrontiert werden, braucht diese Stadt ein Haus der Begegnung. Einen Ort des internationalen Dialogs für spartenübergreifende Kunst. Einen Ort, der Grenzen öffnet. Wir wollen keine Stadt, die Bauzäune und Mauern aufstellt, um Menschen auszuschließen und zu vertreiben. Konflikte löst man nicht mit Polizeigewalt und Video-Überwachung. Da läuft zurzeit ein ganz falscher Film in dieser Stadt. Gute Filme gehören ins Metropol.
Als Mahnmal gegen die Zerstörung des öffentlichen Raums steht nach wie vor Stuttgart 21. Wir müssen uns mit anderen zusammentun, um Orte der Begegnung zu schaffen. Ein weiteres Beispiel dafür ist die Initiative Solidarische Nachbarschaft Schoettle-Areal, die sich für eine menschengerechte Nutzung frei werdender Gebäude des Landes in Heslach einsetzt. Dieses Bündnis erarbeitet Pläne für ein dringend notwendiges Quartier mit bezahlbaren Wohnungen, mit sozialen und kulturellen Räumen und kleinen Läden.
Liebe Protest-Gemeinde: Wir brauchen noch viel mehr Camps, um für ein humanes, ein halbwegs gerechtes Klima in unserer Stadt zu kämpfen. Und auch diese Montagsdemo ist nach wie vor ein wichtiger Ort der Begegnung. Ein Ort der Aufklärung und des Dialogs. Ob wir heute auf dem Schillerplatz stehen oder morgen auf dem Schlossplatz, spielt keine Rolle. Wir müssen unseren Platz auf der Straße verteidigen, um laut zu sagen, was in den Parlamenten schief läuft und verbrochen wird.
Lange lebe der Wanderzirkus der außerparlamentarischen Opposition!
In diesem Sinne: Auf der Straße bleiben!
Die Treppe am Schlossplatz würde gesperrt, weil die Jugendlichen alle Coronaregeln massiv ignoriert haben. Ich finde es sehr s ha de, dass Joe Bauer sich hier mit den Querdenkern auf eine Stufe stellt. Auch den Vergleich unseres Protestes mit dem Widerstand im dritten Reich finde ich unsäglich.