Rede von Dieter Reicherter, Vorsitzender Richter am Landgericht a.D., auf der 570. Montagsdemo am 12.7.2021
Liebe Freundinnen und Freunde!
Als Motto für heute habe ich mir den Spruch ausgesucht „an ihren Taten sollt ihr sie erkennen“ mit der Forderung „Taten statt Worte“. Versprechen muss man halten. Das ist ein Zeichen von Glaubwürdigkeit. Im Koalitionsvertrag von Grünen und CDU für unser Land fand ich das Versprechen „Taten statt Worte“ allerdings nicht, sondern nur in einem Aufruf für die Müllsammelaktion der SPD Niestetal.
Bevor ich konkret auf die Zusatzprojekte zu Stuttgart 21 eingehe, die wir inzwischen als zweites Stuttgart 21 bezeichnen, möchte ich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021 erwähnen. Demnach können die Jungen gerichtlich einfordern, dass die jetzige Generation nicht über ihre Verhältnisse leben darf und künftigen Generationen auch etwas vom Kuchen übrig lassen muss. Konkret ging es um den Ausstoß von Treibhausgasen, aber selbstverständlich hat die Entscheidung eine viel weiter reichende Bedeutung.
Das Prinzip muss auf alles ausgedehnt werden, was wir künftigen Generationen wegnehmen oder welchen Mist wir ihr hinterlassen. Gerechte Aufteilung gilt selbstverständlich nicht nur für den noch hinnehmbaren Ausstoß von Treibhausgasen, sondern zum Beispiel genauso für Rohstoffe. Die Menschheit muss auch mit den endlichen Rohstoffen sorgsam umgehen und künftigen Generationen genügend davon übrig lassen. Auch Bauland gibt es nicht unbegrenzt. D.h., man muss immer abwägen, was unbedingt nötig ist und was man lassen muss. Wenn man etwas vom Kuchen wegnehmen will, muss man konkret sagen, an welcher anderen Stelle man das einsparen kann.
Unsere Regierungskoalition im Lande wurde gerade als gierige Schuldenmacher kritisiert. Im Koalitionsvertrag hat sie behauptet, Klimaschutz stehe an erster Stelle, und getönt: „Wir wollen Baden-Württemberg mit ganzer Kraft zum Klimaschutzland Nummer eins machen“. Denn Worte kosten nichts, Taten schon. Wer wie Kretschmann mit markigen Worten unverhältnismäßige Maßnahmen beim Kampf gegen Corona verlangt und dann mitten in der dritten Welle zur Förderung von S21 eine vier Tage dauernde öffentliche Erörterungsverhandlung in einer Messehalle zulässt, dem muss man auf die Finger schauen. Die Abhaltung eines Gottesdienstes oder von Schulunterricht wäre dort verboten gewesen. Für mich zeigt das einmal mehr, dass man beim Thema Stuttgart 21 buchstäblich über Leichen geht.
Abgesehen davon, dass die Maßnahmen zugunsten des Klimaschutzes im Koalitionsvertrag ausdrücklich unter Finanzierungsvorbehalt gestellt wurden, sind die gleichzeitig beschlossenen Zusatzprojekte zu S21 natürlich das krasse Gegenteil von Klimaschutz. Allen Ernstes hat der neue Amtschef des Verkehrsministeriums im Auftrag von Ministerpräsident Kretschmann gerade in einem Brief an Eisenhart von Loeper die Ergänzungsprojekte als Beitrag zum Klimaschutz gelobt. Man arbeite „gemeinsam sowie konstruktiv an einem leistungsfähigen Eisenbahnknoten 2040“. Schöne Worte statt Taten. Deshalb ist es an der Zeit, einmal das Ausmaß dieses Irrsinns darzustellen. Das habe ich mithilfe des euch bekannten Verkehrsberaters Karl-Heinz Rößler aus München versucht. Ich wünsche ihm baldige Genesung, denn er befindet sich gerade nach einem Schlaganfall in der Reha.
Und nun will ich euch mit Zahlen zum Wahnsinn der Zusatzprojekte bombardieren: Der Ausstoß von 730.000 t Treibhausgasen durch ihren Bau entspricht der Masse an Treibhausgasen, die sämtliche in Stuttgart zugelassene 300.000 Pkws erzeugen würden, wenn jeder mit durchschnittlich 1,4 Personen besetzt wäre und 11.000 km führe. Er entspricht auch dem, was sämtliche 125.000 Ulmerinnen und Ulmer im Jahr verursachen. Übrigens sind durch den späteren Betrieb entstehende Treibhausgase nicht eingerechnet, und Karlheinz Rößler ging nach dem damaligen Stand auch nur von der unterirdischen Ergänzungsstation mit vier Gleisen aus, während jetzt sechs Gleise gebaut werden sollen.
Um diese Treibhausgase wieder aus der Atmosphäre zu entfernen, würden dicht an dicht stehende Bäume auf einer Waldfläche von rund 30 km² benötigt, die ein ganzes Jahr lang das Kohlendioxid der Luft entziehen. Dies entspricht der 55fachen Fläche des Stuttgarter Schlossgartens. Stattdessen könnte man auch Grünland anlegen, denn 1 Hektar bindet 6 Tonnen Treibhausgase. Da bräuchte man 121.666 ha Grünland. Das ist ziemlich genau die sechsfache Fläche der Stadt Stuttgart. Wenn man die Landkreise Böblingen und Enzkreis total platt macht und als Grünland anlegt, reicht es auch.
Der mit den zusätzlichen Bauten – vor allem fast 50 km weitere Tunnelröhren – verbundene Rohstoff- und Energieverbrauch entsteht vor allem durch die erforderlichen Unmengen von Beton und Stahl. Die Produktionsprozesse sind äußerst energieaufwändig. Auch die benötigten Rohstoffe sind von gigantischen Ausmaßen. Mit den mehr als 3,2 Millionen Tonnen reinen Betons könnte man 925 km Autobahn bauen.
Zur Betonherstellung sind 2,5 Millionen Tonnen Kies nötig, der nach dem Willen der Landesregierung aus der heimischen Produktion kommen soll, immerhin 1,6 % der deutschlandweiten jährlichen Förderung. Dafür müssten einige Hektar landwirtschaftlich genutzter oder mit Wald bestandener Flächen oder Naturschutzgebiete 5 m tief abgebaggert und zerstört werden. Das wird den Kiesmangel für den Bau weit dringenderer Vorhaben vergrößern und die Baukosten z.B. für Schulen und Krankenhäuser in die Höhe treiben. Diese Preissteigerungen beobachtet man bei allen Baustoffen. Auch die erforderlichen Stahlmengen werden deutlich teurer einzukaufen sein als bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung der Bauten zugrunde gelegt.
Zur Herstellung dieses Stahls werden gut 310.000 Tonnen Eisenerz in Schweden oder fernen Kontinenten abgebaut und hierher transportiert werden müssen. Dies entspricht etwa dem Gewicht sämtlicher in Kroatien lebender 4 Millionen Menschen. Mit dem Stahl könnte man stattdessen fast 300.000 Pkw der Marke VW Polo produzieren und mit den zur Stahlherstellung benötigten 97.000 Tonnen Steinkohle den Strombedarf sämtlicher Privathaushalte Stuttgarts für 3,5 Monate decken.
Wie immer kommt das Argument, durch diese Bauten spare man die Treibhausgase an anderer Stelle ein und die Wirtschaftlichkeit sei belegt. Dazu werden dann viele eingesparte Pkw-Kilometer unterstellt. Dumm nur, dass als Folge des geplanten Ausbaus der Gäubahnstrecke der Bahnhof Böblingen und der Hauptbahnhof Singen nicht mehr angefahren werden können. Durch die Bauarbeiten wird der Schienenverkehr viele Jahre lang beeinträchtigt werden. Ich behaupte, dass dann mehr Leute aufs Auto umsteigen werden als vom Auto auf die Bahn. Und dann wird getrickst mit der Umrechnung einer verkürzten Fahrzeit in Euro und Cent. Die entfällt aber zum Teil auf den Wegfall der Halte im Hauptbahnhof Singen und in Böblingen. Dazu habe ich den Vorschlag, die Züge nirgends halten zu lassen. Dann gibt es eine Rekordwirtschaftlichkeit. Zusätzlich wurden auch mehr Güterzüge auf der Gäubahnstrecke eingerechnet. Dumm nur, dass die Güterzüge gar nicht durch den extrem teuren Bilger-Tunnel fahren können. Wir erinnern uns an die leichten Güterzüge auf der Neubaustrecke Wendlingen – Ulm.
Leider ist die Annahme naiv, endlich hätten die S21-Befürworter erkannt, dass die Kapazität des Tiefbahnhofs nicht ausreicht. Die Ergänzungsstation wurde vielmehr als Kuhhandel aufgenommen: Akzeptierst du mein Projekt, dann stimme ich deinem zu. Es wäre also übertrieben, bei den Verantwortlichen Vernunft und Einsicht zu vermuten. Ich bin mir nicht so sicher, ob sie immer das Beste für die Allgemeinheit im Sinne haben. Geschockt hat mich der ausgezeichnete Bericht im SWR-Fernsehen zu der Kumpanei einiger CDU-Politiker mit der Diktatur in Aserbaidschan. Da geht es auch um Korruptionsvorwürfe. Es tauchen dabei nicht nur Bundestagsabgeordnete auf, die schon mit Provisionen bei Maskengeschäften zu überteuerten Preisen aufgefallen sind, sondern zum Beispiel auch unser EU-Kommissar Günther Oettinger und der Tunnelbohrer Herrenknecht, der die Pipeline für Aserbaidschan bauen durfte. Und schon frage ich euch, wem die zusätzlichen Bauten mit Kosten von über fünf Milliarden Euro wohl nützen werden. Wie man dabei den untauglichen Brandschutz lösen will, habe ich auch nicht gehört.
Die Lösung ist aber ganz einfach: Man führt die Gäubahn weiter über die Panoramastrecke und lässt den Kopfbahnhof oben. Der Umweg über den Flughafen ist absolut unnötig. Wenn oben ein viel größerer leistungsfähiger Kopfbahnhof besteht, der abgerissen und darunter kleiner gebaut werden soll, muss ich von Irrsinn reden.
Ich bin fest davon überzeugt, dass das Zubauen der wichtigen Frischluftschneise den Zielen des Klimaschutzes und eines erträglichen Stadtklimas total widerspricht. Es würde Menschenleben nicht nur gefährden, sondern zahlreiche Opfer fordern. Bei der Planung vor 30 Jahren hat man sich dazu offenbar keine Gedanken gemacht. In 10 oder 15 Jahren aber werden die Planungen nicht mehr umgesetzt werden können. Notfalls werden das die Gerichte stoppen.
Der frühere Stadtklimatologe Prof. Dr. Jürgen Baumüller meint, das Ergebnis der abgeschirmten Lage des Stuttgarter Zentrums sei eine meist niedrige Windgeschwindigkeit und somit ein schlechter Luftaustausch im Tal. Die Luftverschmutzung in Stuttgart sei eng verbunden mit der Belüftung der Stadt und der Erhalt der Frischluftschneisen sei entscheidend. Dazu wirft er einen Blick in die Vergangenheit. Weil ich nicht Bundeskanzler werden will, möchte ich ausdrücklich klarstellen, dass die Zitate nicht von mir, sondern von ihm stammen.
Schon um 1700 schrieben Oberrat und Rentkammer an den Herzog, „man habe die Stadt wegen des engen Thales und des schlechten Wassers von jeher für ungesund gehalten, neue Gebäude würden aber den Zufluss frischer Luft noch mehr verhindern.“ Und 1884 klagte der große Dichter Nikolaus Lenau, die Stuttgarter Luft sei „nichts als die Ausdünstung des Teufels“. „Die Luft ist zwischen diesen fleißigen und abgeschwitzten Weinbergen so dumpf und matt, so verbraucht und beschmutzt, als wäre sie durch meilenlange Windungen von Eingeweiden hindurchgegangen, ehe man sie in Nase und Lunge bekommt.“
Nach diesem Bogen aus der Vergangenheit bis in die Zukunft darf ich noch ankündigen, dass das Thema auch eine große Rolle beim Klimacamp in Stuttgart in knapp zwei Wochen, nämlich vom 23. bis 25. Juli, spielen wird. Wir werden uns am Klimacamp beteiligen und haben uns eine Aktion ausgedacht. Dazu will ich heute noch nichts verraten. Ihr werdet aber rechtzeitig informiert werden.
Wir verlangen für künftige Generationen, dass ihnen ein Stück vom Kuchen bleibt. Das heißt, keine Milliarden Euro verpulvern, keine Millionen Tonnen Rohstoffe vergeuden, keine Hunderttausende Tonnen Treibhausgase in die Luft blasen, keine fruchtbaren Filderböden und Frischluftschneisen mit Beton versiegeln, nicht unseren oberirdischen Kopfbahnhof und die Panoramastrecke abreißen!
Denn wir wollen mit unseren Kindern und Enkeln nicht in den Abgrund gerissen werden, sondern –
Oben bleiben!