Reden von Dr. Werner Sauerborn, Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21, und Dr.-Ing. Hans-Jörg Jäkel, Ingenieure22, auf der 559. Montagsdemo[1] am 19.4.2021
Liebe Freundinnen und Freunde,
eigentlich sollt Ihr wichtige Informationen aus unserer Arbeit, überhaupt aus unserer Bewegung, nicht als erstes aus der Zeitung erfahren; sondern hier, auf der Bühne der Montagsdemo, vor Ort oder digital, ist der richtige Platz. Dass das diesmal nicht geklappt hat, lag an uns. So habt Ihr vielleicht in der Stuttgarter Zeitung oder der bundesweiten taz bzw. in kontext von der Studie zur City Logistik lesen können, die wir am Freitag in einem Pressegespräch vorgestellt haben. Aber hier kommen die Infos aus erster Hand!
Worum geht es?
Wir kämpfen als Bürgerbewegungen ja auf vielen Ebenen: wir mobilisieren – wie hier, ziviler Ungehorsam ist ein Mittel, das wieder etwas stärker zum Zuge kommen sollte, wir sind aktiv in der juristischen Auseinandersetzung, wie beim Brandschutz und ziemlich sicher bei der Planfeststellung auf den Fildern, wir führen Gespräche mit Freund und Gegner, und von Anfang an haben wir immer Alternativen entwickelt. Anfang der 10er Jahre war es das Kopfbahnhofkonzept, an dem auch Gangolf Stocker mitgeschrieben hatte. Als sie gegen jeden Sinn und Verstand und Protest trotzdem angefangen haben zu bauen, war unsere Antwort 2016: Umstieg! Also nicht zurück auf Null, sondern jeweils das Beste machen aus dem, was gebaut bzw. zerstört wurde. Das Umstiegskonzept wurde zum argumentativen Besitzstand der Bewegung, von den Projektfreunden zumindest mit Respekt bedacht, was sie aber nicht hinderte, unbeirrt weiter Fakten zu schaffen.
Inzwischen ist ein Großteil der Tunnel gebohrt, und wo früher prächtige Platanen für gutes Klima sorgten, wachsen nun betonmonströse Kelchstützen aus dem Boden. Die Frage war also: wie kann das Gebaute umgenutzt werden, wenn S21 scheitert bzw. welche Antworten können dazu beitragen, dass es endlich scheitert?
Mit dieser Frage befasst sich seit längerem die Umstiegsgruppe des Aktionsbündnisses – in derselben Zusammensetzung wie bisher, verstärkt durch Hans-Jörg Jäkel und durch eine kleine Gruppe von Stadtplanungs- und Architekturstudenten um meinen Sohn Theo herum. Sie versuchen, die Lücke zu schließen, die unser Freund Peter Dübbers hinterlassen hat.
Schnell kam die Idee ins Spiel, Baugrube und Tunnel für ein System unterirdischer Güterlogistik zu nutzen. Hierfür gibt es in Vergessenheit geratene historische Vorbilder und neuerdings weltweit Modellversuche, die die neuen Möglichkeiten digitaler Steuerung – Stichworte: autonomes Fahren, sowie neue emissionsfreie Antriebstechniken – nutzen. Um es griffig zu sagen: es geht um eine High-Tech-Rohrpost. Gleich mehr von Hans-Jörg Jäkel dazu.
Unser Vorschlag ist nicht nur ein Ausweg aus der Sackgasse, in der S21 inzwischen steckt, sondern auch eine Lösung für die Verkehrssituation in der Stadt, wo immer mehr LKW-Lieferverkehr Klima, Gesundheit und Lebensqualität der Menschen beeinträchtigt – ein Problem übrigens, über das seit Jahren die Logistiker und Spediteure selbst, vertreten durch die IHK, klagen.
Überall, wo mit U-City-Logistik experimentiert wird, sind die größten Probleme das Graben neuer Röhren und der innerstädtische Platz für den Güterumschlag auf die letzte Meile. Der unschlagbare Vorteil unseres Konzepts: beides schon da!
Uns ist bewusst: Dieser Vorschlag hat etwas Revolutionäres. Es ist das Drehen an einem großen Rad. Damit niemand überfordert wird, war unser erster Schritt zu fragen: geht sowas überhaupt? Deswegen haben wir bei zwei namhaften Professoren aus der Logistikwissenschaft eine Plausibilitätsstudie in Auftrag gegeben. Die ist jetzt fertig und Hans-Jörg Jäkel wird sie Euch vorstellen:
Plausibilitätsstudie S21-Güterlogistik
In unserem Umstiegskonzept zeigen wir, wie viele der für S21 geschaffenen Bauwerke einer alternativen Nutzung zugeführt werden können. Einen Schwerpunkt bilden nun die im Stadtgebiet weitgehend fertiggestellten Tunnelröhren und die Baugrube der Halbtiefschrägstation. Die Grundidee für die Tunnel ist, diese nicht für eine Personenbeförderung mit sehr hohen – von der DB nicht mal für einen richtigen Brandfall simulierten – Risiken zu nutzen, sondern für eine Güterbeförderung im Nahbereich.
Große Teile des heutigen Europaviertels bildeten bis in die 1990er Jahre den Stuttgarter Güterbahnhof, der gemeinsam mit Personenbahnhof und Abstell-/Wartungsbahnhof unter der Leitung von Paul Bonatz vor 100 Jahren gebaut wurde. Der Güterverkehr wurde weitgehend ohne Konzept einfach auf die Straße verlagert und das Ergebnis ist halt die Stauhauptstadt Stuttgart.
Eine Lösung für den Güterverkehr, die allein vom Aktionsbündnis erarbeitet würde, könnte recht schnell von den Projektbetreibern mit fadenscheinigen Gründen vom Tisch gewischt werden. Deshalb wurde ein unabhängiges Gutachten bei Prof. Precht und Prof. Wilde von der Universität Coburg beauftragt – beide sind anerkannte Spezialisten für Güterlogistik. Ihr Auftrag lautete „Prüfung der Plausibilität einer auf die Stadt Stuttgart ausgelegten unterirdischen Güterlogistik … unter Nutzung der vorhandenen Infrastruktur des S2- Projektes“. Die Tunnelspinne und die Baugrube am Hauptbahnhof waren also unsere Vorgaben an die Gutachter.
In der Wissenschaft und auch bei aktuellen Pilotprojekten gibt es gut ausgearbeitete Lösungen zur unterirdischen Güterlogistik. Die beiden Professoren führen mehrere Beispiele an und finden den Ansatz von „Smart City Loop“ besonders geeignet, bei dem beladene Europaletten von einem Güterverteilzentrum an der Peripherie zu einem „City-Hub“ in der Innenstadt zur weiteren Feinverteilung transportiert werden.
Es wurden nicht gleich alle Tunnel von S21 untersucht, sondern zunächst nur der Tunnel nach Untertürkheim, der Fildertunnel und eine gleichzeitige Nutzung beider Tunnel. Letzteres ist besonders interessant, da bisher meist Punkt-zu-Punkt-Ansätze untersucht wurden. In jedem Fall bildet der City-Hub am Hauptbahnhof die zentrale Stelle für die Feinverteilung. Die Abschätzung des Transportvolumens nahmen die Professoren auf Grundlage der Einwohnerzahl vor. Für die Innenstadtbereiche ergeben sich ca. 200.000 Bewohner. Diese bestimmen den Umfang für eine nötige bzw. mögliche Güterlogistik, aber natürlich müssen auch Handel und Gewerbe berücksichtigt werden.
Durch wissenschaftliche Untersuchungen, aber auch aus den Unterlagen der großen Logistikdienstleister liegen umfangreiche Daten zum Versandvolumen sogenannter Packstücke für die gesamte Bundesrepublik vor. Daraus haben die Gutachter unter Berücksichtigung der besonders hohen Kauf- und Wirtschaftskraft in der Stuttgarter Innenstadt einen Umfang von 120 Mio. Packstücken ermittelt. Aber natürlich bekommt nicht jeder in der Innenstadt 600 Pakete. Da sind Lieferungen für Geschäfte und Gewerbe auch anteilig mitbetrachtet. Mit einer durchschnittlichen Verladung von immerhin 80 Packstücken auf einer Europalette mit einer vorgegebenen Maximalhöhe von 2 Meter ergeben sich für die Stuttgarter Innenstadt 1,5 Mio. Paletten im Jahr, die in die Stadt zu transportieren wären, aber auf dem Rückweg auch wieder Verpackung und Abfall mitführen könnten. Und dieser Wert passt ganz genau zu der Kapazität einer Doppelröhre des „Smart City Loop“-Ansatzes.
Im nächsten Schritt haben die Gutachter die Wirtschaftlichkeit abgeschätzt, also die notwendigen Investitionen und erreichbaren Erlöse gegenübergestellt. Sie haben dabei die im Rohbau fertigen Tunnelröhren beachtet, aber natürlich ist für ein weitgehend automatisiertes Transportsystem mit der entsprechend notwendigen kurzzeitigen Zwischenlagerung eine aufwändige Fördertechnik erforderlich, und auch der Betrieb verursacht Kosten. Die Untersuchung erfolgte für den Untertürkheimer Tunnel, aber auch für den Fildertunnel und die Kombination. Für Untertürkheim ergaben sich bei einer angestrebten Ausschöpfung des oben ermittelten Transportvolumens von 70%, also etwa 1 Mio. Paletten im Jahr ein notwendiger Kostensatz von 6 €, der als durchaus wettbewerbsfähig eingeschätzt wird. Eine Anlaufphase mit nur 30% Auslastung würde Förderung und städtische Rahmenbedingungen benötigen, da etwa 14 € pro Palette erforderlich sind. Wir von der Umstiegsgruppe schlagen deshalb vor, analog zum ÖPNV auch einen ÖGNV, also einen öffentlichen Güternahverkehr mit einer entsprechenden Förderung zu untersuchen.
Zusammenfassend kommen die Gutachter zum Schluss, dass das untersuchte Konzept plausibel und auch wirtschaftlich darstellbar ist. Sie haben auch die volkswirtschaftlichen Aspekte der Lösung bewertet, also die eingesparten LKW-Kilometer und die Reduktion des CO2-Ausstoßes. Mit der Zielauslastung von 70% können 1,6 Mio. LKW-km wegfallen und 750 t CO2 werden pro Jahr eingespart. Beim Anlauf reduziert sich diese Zahl natürlich.
Wie in einem positiven Gutachten üblich, werden auch weitere Schritte vorgeschlagen. Das ist einerseits die Anfertigung einer vertiefenden Machbarkeitsstudie und andererseits der Ausbau des für Stuttgart möglichen Systemgedankens, also die Einbeziehung der weiteren Tunnel und von Zwischenstationen, etwa am Großmarkt in Wangen und in Möhringen. Ebenso könnten nicht nur Lieferungen für Endverbraucher und den Einzelhandel, sondern auch die Werksverkehre im Raum Stuttgart untersucht werden.
Den Abschluss der Präsentation des Gutachtens bildete eine Folie der Professoren, auf der sie den – durch die unterirdische Güterlogistik möglichen – Rückbau einer 6-spurigen Straße auf nur 3 Spuren darstellen. Dort erkennt man auch, dass dafür nur ein Tunneldurchmesser von 4 Meter erforderlich ist. Die großen Tunnel von S21 bieten also optimale Erweiterungsmöglichkeiten und lassen weitere Nutzungen zu. Das alles führt dann zum Umstiegskonzept: Güter in die Röhren und oben Platz für Menschen schaffen!
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Wie wichtig gerade jetzt Alternativen zu S21 sind, zeigt sich in den Koalitionsverhandlungen zwischen Grün und Schwarz: wie Getriebene, phantasielos und unfähig zum Umdenken, scheinen sie aufs Weiter-so zu setzen, mit ihren milliardenteuren, klimabelastenden sogenannten „Ergänzungsprojekten“. Man kann nicht „Klima, Klima und nochmal Klima“ proklamieren und dann mal so nebenbei weiter zig Tunnelkilometer beschließen, deren Bau Hundertausende Tonnen Treibhausgase emittieren würden.
Wie geht’s jetzt weiter? Seit einem Jahr arbeitet die Umstiegsgruppe mehr oder weniger intensiv an Entwürfen, wie ein wiederhergestellter Kopfbahnhof aussehen könnte, und wie die Flächen der Baugrube genutzt werden könnten. Ich hoffe, wir werden Euch das Umstiegs-Update dann in einigen Wochen vorstellen können.
Aber auch jetzt schon ist klar, dass es nicht nur eine Notwendigkeit für einen Baustopp, sondern auch eine plausible Alternative gibt.
Wir bleiben dran – und OBEN!
[1] ab 21.12.2020 wegen Corona-Pandemie jeweils Montags, 18 Uhr, wieder online:
https://www.parkschuetzer.de/videos/