Rede von Peter Grohmann, Kabarettist, Autor und Gründer der ‚AnStifter', auf der 537. Montagsdemo am 9.11.2020
Was für ein Wochenende!
Herzlich grüßen wir nach Philadelphia, New York, Chicago: Wie hab' ich mich gefreut, als ich Euch gestern tanzen sah auf den Straßen – die Jugend und die von Black Lives Matter und Alte und Andersdenkende und Weiße Indianer ...
Donald Trump und sein Lügenpack – sorry – hat nicht erst in den letzten 4 Jahren die Fundamente der Demokratie angegriffen, Hass und Gewalt und Zwietracht gesät, die Menschen belogen und betrogen. Mit den gleichen und den neuen Lügen war er jetzt auch in der Lage, fast 70 Millionen Wählerinnen und Wähler zu überzeugen.
Richtig: Das ist einerseits dem großen Geld zu danken, andererseits hat Trump viele Menschen auf eine Art angesprochen, wie es die Demokraten nicht konnten.
Wer dreimal lügt, dem glaubt man doch. Die Wahrheit hat ein großes Loch.
Ja, ich weiß. Aber es reimt sich und dichtet. Wer sich von den Belogenen und Betrogen dann auch noch in einer Medienblase wohlfühlt, die auf Fakten pfeift, bleibt Trump treu.
Autoritäre Vorbilder, plumpe, dumme politische Antworten, kein Tag ohne Lügen. Wir sehen: Ein Geburtsort der Menschenrechte kann ganz schnell zum Grab für die Freiheit und Demokratie werden.
Schnell wird es Herbst im Abendland,
über Smog und Feinstaubwand
fliegt das erste braune Laub,
schmutzig, welk, und ganz schnell Staub.
Aus den Tälern und von Höhen,
pomphaft zog ein bunter Zug,
der ein breites Spruchband trug.
Darauf stand in steiler Schrift –
jahrelang sah man's so nie:
Freiheit und Demokratie!
Mehr als 70 Millionen AmerikanerInnen hatten sich mit Stimmzetteln bewaffnet und die Schnellfeuergewehre aus dem Kinderzimmer geholt: Jetzt geht's lo-hos....
Laut Trump haben Linke und Anarchisten und Terroristen die Wahl gefälscht, gelogen und die Stimmen gestohlen und jetzt die Macht übernommen. Ist das nicht wunderbar? Endlich ist wieder jemand da, uns finanziert, Daimler und Porsche werden enteignet, die Banken verstaatlicht: Anarchisten, Rotarmisten auf den Listen ...
Es war eine Wahl wie der Hochseilakt der Traber-Familie. Und fast so gut wie der Witz von Frank Nopper, ein Kandidat der Reichen und Schönen der Stadt, der Mann mit dem Witz vom Recht auf Wohnen. Aber was lernen wir daraus? Demokratie wächst eben nicht auf dem Grünstreifen der Regierungen oder im Park der Villa Reitzenstein. Zur Demokratie gehört der politische Streit, die Kontroverse, das Nachdenken und das Einmischen, das Nachfassen und das Nachfragen.
Es muss fetzen. „An allem ist zu zweifeln“, schrieb schon Karl Marx am 9. November 1867 auf lateinisch in das Poesiealbum seiner Tochter Veronika, als die ihn nach seinem Lebensmotto fragte. An allem verzweifeln, auch am Wahlergebnis? Mehr als 56 % reichen für eine Mehrheit links der Mitte, wenn wir wollen.
Bleiben wir kritisch. Denn ein Blick auf die Geschichte zeigt allerdings: Falsche Infos gehören schon immer zum Politikbetrieb, sonst wären wir ja nicht hier – ich geb‘ Ihnen mein Ehrenwort! Erinnern Sie sich noch an Diego Maradona? Der Fußballer? Hat bei der heiligen Jungfrau Maria geschworen, dass es die Hand Gottes war, die den Ball ins Tor schob. Oder nehmen Sie Adolf Hitlers Tagebücher. Sie wurden in der Pischekstraße im Stuttgarter Osten entdeckt. Alles gefälscht, erfunden, wie der Denkmalschutz am Bonatzbau oder der Naturschutz im Schloßgarten.
Damit komm' ich jetzt zum Kostenrahmen – Sagt zu allem Ja und Amen,
denn der Kostenrahmen steht – wie ihr seht – alles ist gut durchgerechnet,
selbst die 51 Züge! – Alles andere ist 'ne Lüge!
Meine Damen und Herren, momentan leidet ja Rom, Europa, Stuttgart, ja der ganze Erdball an Corona. Selbst diese Kundgebung könnte anstecken, sich für mehr Distanz zu den Mächtigen, für mehr Kritik und Solidarität mit den Betroffenen einzusetzen. Corona ist eben keine Erfindung von Bill Gates oder Soros, und wir haben auch kein faschistisches Corona-Regime, wie die Querfront behauptet.
Aber was tun in diesen Zeiten? Wach bleiben, gesund bleiben, oben bleiben! Nachdenken über neue Wege, über den Umgang miteinander und den „anderen“. Wir wissen: Zu Freiheit und Demokratie gehören Toleranz und Gleichberechtigung, Kreuzworträtsel, die Stuttgarter Presse und eine gesunde Portion Misstrauen gegen die Herrschenden und ihre guten Absichten. Und Information und Kritik und ein gutes Buch – nicht bei Amazon kaufen!
Zur Freiheit und Demokratie gehört die Teilnahme an Wahlen, der Kampf um Stimmen, Leserbriefe und Kontext, Kundgebungen und Demonstrationen und Mahnwachen.
Richtig, eine freie Presse, unabhängige Medien, die durch Kritik und Diskussion zur Meinungsbildung beitragen und Partizipation ermöglichen. Hallo, wo seid Ihr? Aber es reicht eben noch lange nicht, alle paar Jahre den Stimmzettel in den Urnen verschwinden zu sehen. Es reicht nicht, den Herrgott eine gute Frau sein zu lassen und alle paar Jahre lang mal wählen zu gehen – und dann auch noch grottenfalsch!
Aber jetzt, ungelogen, endlich zu den guten Nachrichten! Was für ein schönes Wochenende, was für schöne Wahltage! Gestern war's 14 Grad warm in Sonnenberg und nirgends Klimawandel, aber viele haben Grippe. Und weil jetzt alle Kneipen und Gaststätten geschlossen sind, muss man seine Martinsgans selber jagen. Vegane Jagdwaffen gibt es an der Mahnwache, wie in den USA. Dort aber ohne Mahnwache.
Apropos Sonnenberg, Möhringen, Vaihingen, viel Africom und Eucom. Bei unseren besten Verbündeten hatten sich mehr als 70 Millionen AmerikanerInnen mit Stimmzetteln bewaffnet und die Schnellfeuergewehre aus dem Kinderzimmer geholt: Jetzt geht's lo-hos.
Aber bleiben wir bei den dummen Gänsen und Gänserichen aus Degerloch. Denen geht es wg. Corona richtig dreckig. Erst dürfen sie frei herumlaufen, dann Gänsefett ansetzen – und dann ab in die Tier-Kadaveranstalt. Keine Gastwirte verkaufen keine Gänse. Allein in unserem Luftkurort auf den Fildern werden dieses Jahr über 1500 Gänse nicht verkauft und nicht gebraten.
Kein Geheule um die Keule – und kein Frust bei der Brust
Das ist wie Kapitalismus ohne Rotkraut und Semmelknödel. Stattdessen Sauerbraten und handgeschabte Spätzle. So ist das eben mit Angebot und Nachfrage: Altes Brot wird erst in der Vesperkirche weggeworfen.
Aber noch schlimmer trifft der Turbokapitalismus die Dänen: Tausend Nerzfarmen pleite – weil jetzt die niedlichen Tierle Corona haben. Ohne Scherz – trage niemals Nerz. Allein in Dänemark 150 Nerzfarmen geschlossen. 15 Mio. Tiere müssen getötet werden. Die große Sorge: Wird der Nerzmantel bei Breuninger exquisit jetzt günstiger oder teurer? Von Angebot und Nachfrage spricht ja auch Dr. Nopper. Das ist der, der jetzt auf dem Zahnfleisch daherkommt und zu Hausbesitzungen aufruft. Recht auf Wohnen, Recht auf Lügen.
Apropos Lügenpack. Das hat man Euch übel mitgenommen, das mit dem Lügenpack. Es ist eben doch nicht das gleiche wie Akkupack, Tetrapack, Service Pack, nicht im Doppelpack, nicht im Zehnerpack, Six-Pack, Fünferpack, Einerpack.
Als man unseren Freund Winfried Hermann 2013 fragte, ob er weiterhin gegen Stuttgart 21 sei, sagte er: „Als Minister einer Regierung, die sich dem Votum der Bevölkerung gestellt hat, kann ich das nicht. Die Verträge zu S21 gelten weiterhin. Mein Job ist es nicht, rumzumäkeln, sondern das Projekt kritisch zu begleiten und sicherzustellen, dass das Land nicht mehr als vertraglich festgelegt zahlt. Der Kostendeckel gilt.“
Das war am 30.11.2013. Pfeifendeckel!
Liebe Mitstreiterinnen, das größte Verdienst unserer Bürgerbewegung ist, dass heute jeder in Deutschland und nicht nur hier weiß: So wie in Stuttgart kann man nie mehr ein Großprojekt durchdrücken. Die Protestbewegung hat so gesehen mehr für Freiheit und Demokratie getan als die Auto- oder Fleischindustrie, Andreas Scheuer und Uli Hoeneß zusammen. Das erinnert mich an Heraklit, der an dieser Stelle noch nie zitiert wurde.
Heraklit von Ephesos war ein vorsokratischer Philosoph aus dem ionischen Ephesos. Sie erinnern sich: Türkei, Griechenland, Bankenkrise, Hilfspakete. Wie damals nach Leipzig und Dresden und zur Omi Glimbzsch nach Zittau: Dein Päckchen nach drüben.
Heraklit stellte sich die Welt in unablässiger Bewegung und Veränderung vor. Der alte Grieche unterscheidet daher zwischen wachenden und schlafenden Menschen. Durch den Widerstreit der verschiedenen Elemente entsteht eine Harmonie. Das Urprinzip war für Heraklit der Streit, der Streit als „der Vater aller Dinge“.
Ich sag's mal bissel anders als Friedrich Schiller oder Rockenbauch oder Heraklit: Um die Verfassung, die Grundrechte muss man kämpfen wie um den Erhalt einer Stadtmauer, also allen Willen daran setzen, um die räuberischen Feinde abzuwehren.
Wir haben halt, anders als beim Leipziger Allerlei gestern behauptet, kein „faschistisches Corona-Regime“. Wer sagt, dass im Lande Diktatur herrscht und Willkür, übersieht geflissentlich und absichtlich die Ermordung von Millionen Juden.
Der Kampf um unsere Freiheitsrechte, um Freiheit und Demokratie und Grundgesetz, muss stattdessen mit derselben Ernsthaftigkeit und Umsicht betrieben werden wie die Vorbereitung einer Demo oder ein Ausflug auf den Ätna oder die Gründung eines Kinderladens in Feuerbach. Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber drauf an, sie zu verändern. Wirklichkeit entsteht dann, wenn Menschen handeln.
Vivat hoch, die freie Republik!
Vor 102 Jahren, am 9. November 1918, wurde die erste Republik in Deutschland ausgerufen. Dieser 9. November als Schicksalstag symbolisiert die Hoffnungen der Menschen, ihre Erfahrungen und Enttäuschungen, ihren Aufbruch aus alten überkommenen Strukturen. Der Tag steht für den Fall der Berliner Mauer 1989, für die Reichspogromnacht 1938 vor 82 Jahren, der Tag symbolisiert aber auch unseren Streit mit den sogenannten Autoritäten, mit den Herrschaften im Landtag und im Rathaus. Er symbolisiert unsere Kämpfe um den Erhalt des Hotels Silber, um das Mahnmal für die Opfer des Faschismus auf dem Karlsplatz, um Wahrheit und Gerechtigkeit für die Verfolgten und Gefolterten in den Kellern der Gestapo in der Dorotheenstraße, in Dachau und Auschwitz und Theresienstadt ....
Der 9. November erinnert uns an das frühere wie an das gegenwärtige Versagen der Politik, an das Unvermögen, in der Opposition, in der Bürgergesellschaft und in den Bürgerbewegungen die wichtigste Triebkraft der Demokratie zu erkennen.
Am 9. November erinnern wir uns an Salomon Idler, den jüdischen Schuster, an die Schlotterbecks und Heinrich Baumann und Maria Zelzer, an Fritz Lamm und Charlotte Isler, an Hans Gasparitsch und Sara Rothschild und Betty Rosenfeld und tausend tausend tausend Ungenannte, an den Schriftsetzer Fritz Rück aus Heslach, der den württembergischen König und seinen Dackel nach Hause schickte.
Oder nehmen wir den 9. November 1967. Verdammt lang her, verdammt lang. Bei der feierlichen Amtseinführung des neuen Rektors der Hamburger Universität entfalten Studenten ein Transparent mit dem Spruch: „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“. Wie treffend! Der Spruch wurde Symbol der 68er-Bewegung. Wir haben uns auf den Weg gemacht, damals, vor 33 Jahren.
Uns vor uns, nochmal 33 Jahre zurück, 1934, am 16. November, wird der Dirigent Wilhelm Furtwängler in Berlin angespuckt, weil er sich für den von den Nazi verfemten Komponisten Paul Hindemith einsetzte. Die Berliner Hautevolee geht trotzdem in Konzerte.
Lieber Führer, sei so nett, zeige dich am Fensterbrett. Leipzig demonstriert oben ohne und die Polizei verschwindet im Dunkel der Nacht.
Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd
Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt
Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.
Dabei wissen wir ja:
Auch der Haß gegen die Niedrigkeit // Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht // Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit /
Konnten selber nicht freundlich sein. // Ihr aber, wenn es soweit sein wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist // Gedenkt unsrer
Mit Nachsicht.