Rede von Dr. Winfried Wolf, Verkehrsexperte, Journalist und Herausgeber von ‚LunaPark21′, auf der 535. Montagsdemo am 26.10.2020
Drei Annäherungen an das Werk, das in diesen Minuten ein paar hundert Meter entfernt, vor dem Stadtpalais, aufgestellt wird:
Annäherung 1: Der Zusammenhang von politischem Engagement, Komödie und Kultur.
Frage an Peter Lenk: „Bildende Kunst mit Biss hat Tradition und viele Gesichter: der Franzose Daumier und der Deutsche Grosz gehören dazu. Herr Lenk – wo liegen Ihre Wurzeln?“
Antwort Peter Lenk: „Eher bei Friedrich Dürrenmatt.“
Frage / Interviewer: „Der Plastiker beruft sich auf einen Bühnenautor?“
Peter Lenk: „Warum nicht? Mich interessiert seine These, dass man unser Leben eigentlich nur noch durch die Komödie begleiten oder ertragen kann.“ (Zitat aus der „Schweriner Volkszeitung“[1])
Genau das trifft hier in Stuttgart den Nagel auf den Kopf. Stuttgart 21 lässt sich nur als Komödie, als Satire, in einer Vermittlung durch Kultur „begleiten oder ertragen“. Anderenfalls versinkt man in Trübsal und Depression. Man verliert den Glauben an die menschliche Ratio und an die Veränderbarkeit der entmenschlichten Wirklichkeit.
Von Anfang an wurde hier in Stuttgart versucht, die sachliche Aufklärung über das Monsterprojekt, die wir seit 1995 betreiben, zu verbinden mit Witz, Kunst und Kultur. Bereits Gangolf Stocker legte als Organisator der ersten Demonstrationen gegen S21 Wert auf diese Verbindung. Wobei damals die Bühne oft aus einer Europalette bestand, platziert neben dem Nordflügel des Bonatzbaus.
Das setzte sich in der Hochzeit des massenhaften Widerstands fort. Als beispielsweise am 10. Juli 2010 der Rapper Max Herre vor tausenden Leuten in hochsommerlicher Hitze im Mittleren Schlossgarten auftrat – und die meisten Zuhörenden sich noch unter den Schatten der riesigen Bäume flüchten konnten. Oder als am 12. September im gleichen Sommer 90 Musikerinnen und Musiker, ebenfalls im Mittleren Schlossgarten, die 9. Sinfonie „Aus der neuen Welt“ von Antonín Dvořák spielten. Dutzende Kabarett-Leute und Künstlerinnen und Künstler aller Genres waren bei unseren Aktivitäten präsent: Der Jazzer Joo Kraus, der Sänger Konstantin Wecker, Christine Prayon, Georg Schramm, Arnulf Rating. Und dutzendfach Peter Grohmann, Volker Lösch und Walter Sittler.
Und das blieb auch so nach den Niederlagen, die wir einstecken mussten: nach dem miesen Schlichterspruch des Heiner Geißler, nach der manipulierten Volksabstimmung. Auf jeder Montagsdemo steht diese wunderbare Kultur gleichberechtigt auf der Bühne – so heute wieder Capella Rebella.
Man muss wohl sagen: Gerade in diesen oft bitteren Zeiten ist diese enge Verbindung von Widerstand und Kunst so wichtig. Wobei es selbst jetzt immer wieder eingestreute Höhepunkte gab. So als Bernd Köhler und seine ewo2-Leute im Frühjahr 2014 zusammen mit Walter Sittler, Egon Hopfenzitz und mir im Rathaussaal die Vorstellung „Zug der Zeit“ gaben – mit Liedern und Lyrik aus der Welt der Eisenbahnen. Oder am 29. Januar 2019, als die ZDF-„Anstalt“ so hervorragend ihre Satire und Aufklärung zu den Themen Bahn und Stuttgart 21 auf den Bildschirm brachten. Oder – und das ist gerade mal ein Jahr her! – am 8. Oktober 2019, als es oben im Theaterhaus mit mehr als 1200 Leuten die Kultur- und Polit-Veranstaltung zu „Zehn Jahre Montagsdemos“ gab.
Wir stimmen Lenk also zu: Mit Kunst, Kultur und Komödie lässt sich dieses Leben ertragen, muss dieses Engagement immer wieder aufs Neue gewürzt werden.
Annäherung 2: Der Bodensee und die „Imperia“.
Ich bin in Horb am Neckar geboren und dann ab meinem zweiten Lebensjahr in Weißenau bei Ravensburg aufgewachsen. Der 14 Kilometer entfernte Bodensee war für mich immer ein Sehnsuchtsort: In den frühen 1960er Jahren radelten wir als Jungs oft am Nachmittag oder am Wochenende dorthin. Und wenn wir etwas Geld gespart hatten, dann mieteten wir in Friedrichshafen oder Kreßbronn für zwei, drei Stunden ein Ruderboot. Fahrten mit dem Schiff gab es in meiner Jugend eher selten. Das galt als extravagant und zu teuer.
Seit mehr als zwanzig Jahren unternehme ich jetzt in jedem Jahr eine ausgedehnte Schiffsreise über den Bodensee – am liebsten auf einer der längsten Verbindungen, derjenigen zwischen Lindau und Konstanz. Oft zusammen mit meinem Freund Charly Schweizer. Wir kämpfen zusammen seit 1996 für den Erhalt des wunderschönen Jugendstil-Bahnhofs auf der Insel Lindau. Dieser Kopfbahnhof sollte – als eine Art Fall-out des Stuttgart-21-Projekts und der vergleichbaren Projekte in Frankfurt und München – im Zusammenhang mit der großangelegten Immobilienspekulation des Bahnchefs Heinz Dürr aufgegeben werden zugunsten eines Durchgangsbahnhofs in Reutin – am Rand dieser Bodensee-Stadt. Doch sein Standort auf der Insel konnte bis heute verteidigt werden.
Bei unseren ausgedehnten Schiffsfahren ist es ist für mich immer wieder aufs Neue ein bewegendes Erlebnis, in den Hafen von Konstanz mit einem großen Bodensee-„Dampfer“ hineinzutauchen – und rechter Hand diese 12 Meter hohe Figur begrüßen zu können: die „Imperia“. Diese stolze, schöne Dame hält in der einen Hand einen Schrumpel-Kaiser und in der anderen einen Hutzel-Papst. Ein Lenk-Kunstwerk, das das Erzbischöfliche Ordinariat in Freiburg als „geschmacklos und geeignet, den religiösen Frieden zu beeinträchtigen“ empfand. Ein Werk, das jedoch 75 Prozent der Menschen in Konstanz in ihr Herz geschlossen haben und als Wahrzeichen für ihre Stadt begrüßen. Eine zunächst illegal – mit Kühnheit und Schalk aufgestellte Skulptur, die heute Jahr für Jahr von hunderttausenden Touristinnen und Touristen bewundert wird.
Es war eine solche Bodensee-Schiffsreise im späten Herbst 2017, die mich auf den Gedanken brachte: Ich wende mich direkt an denjenigen, der dieses Meisterwerk geschaffen hat. Und so schrieb ich Anfang 2018: „Sehr geehrter Herr Lenk, seit 1995 bin ich engagiert gegen das absurde Projekt Stuttgart 21 [….] Nun berichteten mir meine Freundinnen und Freunde in Stuttgart (unter anderem Peter Grohmann) […], dass Sie seit geraumer Zeit an ein Kunstwerk zum Thema Stuttgart 21 gedacht […] haben. Mein Eindruck: Ein solches Werk könnte in der aktuellen Situation eine enorme politische Wirkung entfalten – und auch den bewunderungswürdigen Widerstand gegen Stuttgart 21 ermutigen…“[2]
Und Peter Lenk lud uns ein. Wenige Wochen später saßen wir zu viert bei ihm und seiner Frau Bettina in Bodman am Küchentisch – Angelika Linckh, Tom Adler, Werner Sauerborn und ich. Bereits im Herbst 2018 stand dann fest: Es wird in Stuttgart und zu Stuttgart 21 ein Lenk´sches Werk geben mit dem Titel „Chronik einer grotesken Entgleisung“ und „Schwäbischer Laokoon“. Anfang Januar 2019 wurde meine Website „lenk-in-stuttgart.de“ hochgeladen – unter anderem mit einem Aufruf von Erstunterzeichnenden, überwiegend aus dem zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen Stuttgart 21, aber auch mit Freundinnen und Freunden von Peter Lenk. Das Ziel: 100.000 Euro zur Finanzierung der Kosten für Material und Fremdarbeit des zu schaffenden LenkMals zum Thema Stuttgart 21.
21 Monate später haben rund eintausend Menschen mehr als 134.000 Euro für diese Arbeit gespendet. 866 von ihnen sind auf einer ersten Tafel – die Teil des LenkMals sein wird, namentlich aufgeführt. Und rund zweieinhalb Jahre nach unserem Besuch in Bodman und mehr als 1000 Tagen mit intensiver Arbeit seitens Peter Lenk für diese Skulptur ist das Werk vollendet – und morgen bei Lichte zu besichtigen. Ziemlich pünktlich vor – so fürchte ich – einem neuen Lockdown.
Dabei sollte bedacht werden: Die Oberen in Land, Region und Stadt – ob grün, schwarz oder rot politisch lackiert – wollten nie und nimmer eine solche Skulptur in Stuttgart begrüßen müssen. Sie setzten von vornherein darauf, dass diese Arbeit nie vollendet werden würde. Dass das Geld nicht zustande kommt. Sie sagten sich: Wer wird auch schon für ein Projekt spenden wollen – so ins Blaue hinein? Ohne Garantie, dass das Werk auch aufgestellt werden würde? Sie setzten darauf, dass Lenk und seine Unterstützerinnen und Unterstützer nicht den ausreichend langen Atem haben würden.
Doch Lenk und wir hatten diesen langen Atem. Und nach einem Dutzend Artikeln im „Südkurier“, in der „Süddeutschen Zeitung“, in der „Stuttgarter Zeitung“ – und vielen, vielen Beiträgen in KONTEXT – und nachdem die 100.00er Marke bei den Spenden überschritten wurde – , war es soweit: zähneknirschend gaben die Stadtoberen Ende September nach. Sie hatten die Wahl zwischen Pest und Cholera: Sollten sie sich bundesweit lächerlich machen, weil sie Satire nicht aushalten? Oder sollten sie sich stadtweit und bundesweit zum Gespött machen lassen, weil sie Bahnhof nicht können?
Dabei gaben sie dann noch lächerlich kleingeistig klein bei. Es gibt vor dem Stadtpalais keinen Lenk´schen Solitär „Schwäbischer Laokoon“. Vielmehr behauptet die Stadt, es gäbe jetzt ab morgen dort eine „Skulpturengalerie“ mit drei irgendwie gleichberechtigten Kunstwerken, darunter die Statue des letzten württembergischen Königs nebst Spitzer – der König und seine Hunde waren eben mal ein paar Monate Gassi hinter dem Palais. Und irgendwie würde da halt auch – rein zufällig – dieses Werk von Peter Lenk stehen.
Dritte Annäherung an Peter Lenk: Die Raubritter-Ruine, die kleine tapfere Kiefer und Stuttgart 21.
Im Jahr 2011 führte Susanne Stiefel von KONTEXT am Bodensee ein ausführliches Gespräch mit Peter Lenk. Dieser hatte Susanne vorgeschlagen, dieses Interview hoch oberhalb von Bodman zu führen, auf einem Berg, am Rande einer Burgruine. Es ging in dem Gespräch vor allem um Lenks Kunstverständnis. Er sagte damals unter anderem: „Ich betrachte mich als Chronist meiner Zeit. […] Ich provoziere nicht. Ich spiegele die Provokation. […] (Und) wenn ich hier oben stehe, denke ich an den Feudalismus. Das fließt dann in meine Kunst ein. Etwa beim Relief in Ludwigshafen.“ Das, so füge ich hinzu, unter anderem die „Global Players“ mit Angela Merkel zeigt, wobei die Kanzlerin dem VW-Chef die Stange hält. Weiter Lenk in diesem Gespräch: „Wo es um den modernen Feudalismus geht. Was früher die Ritter und die Kirche waren, das sind heute die Banken und die Politiker.“[3]
Wir können ergänzen: Was früher der unbarmherzige Nazi, Marinerichter und Ministerpräsident Filbinger war, der im badischen Wyhl mit Polizeigewalt gegen Bäuerinnen und Bauern vorging, die gegen das geplante Atomkraftwerk protestierten, das sind heute die Bahnchefs Dürr, Mehdorn, Grube und Lutz und die Bundesverkehrsminister Wissmann, Ramsauer, Dobrindt und Scheuer, die unbarmherzig den Stuttgarter Kopfbahnhof und große Teile der Stadt zerstören. Das war 2010 der Ministerpräsident Mappus, seine Verkehrsministerin Gönner und der Polizeipräsident Siegfried Stumpf, die am 30. September 2010 mit Polizeigewalt gegen die protestierenden Jugendlichen im Schlossgarten vorgingen und Dutzende Schwerverletzte zu verantworten haben.
Was wir hier in Stuttgart bei dem Projekt Stuttgart 21 erleben – das ist Feudalismus und Raubrittertum pur: Geld spielt da keine Rolle – das ist ja das Geld der Steuerzahlenden, die als Leibeigene gehalten werden. Diese Bürgerinnen und Bürger Stuttgarts sind tributpflichtig – rund 700 Millionen Euro städtisches Geld flossen der Deutschen Bahn für Stuttgart 21 zu. Gewaltige weitere Summen an Tribut-Geldern drohen, wenn die Gerichte irgendwann entscheiden, die „Sprechklausel“ im Stuttgart-21-Vertrag bedeute, dass alle Beteiligten, Bahn, Land und Stadt, sich die gewaltigen S21-Mehrkosten von am Ende fünf und mehr Milliarden Euro teilen müssen.
Denkmalschutz und Wahrzeichen einer Stadt – das spielt hier keine Rolle. So wie der Mercedes-Stern sich auf dem Bonatzbau-Turm wie ein religiöses „in hoc signo vinces“ („In diesem Zeichen mögest Du siegen“) dreht, so soll ein Glas-Beton-Riegel eines Vier-Schweine-Sterne-Hotels aus dem Bonatzbau ragen, gut geeignet für „after work partys“, wie die Investoren – darunter der Schweinepriester Tönnies – verlautbaren ließen.
Klimaschutz, Deutschlandtakt, Kapazitätsabbau, 180 Gleisdoppelbelegungen am Tag – auch das interessiert diese Herren und die wenigen Damen nicht. Hauptsache die Grundstücke lassen sich für die Feudalherren des Otto-Konzerns, für deren Immobilientochter ECE, für die Mit-Profiteure Günther Oettinger und Friederike Beyer und für den S21-Fürstenhof-Architekten Christian Ingenhoven optimal verwerten.
Im Verlauf dieses KONTEXT-Porträts zog Peter Lenk, oben auf dem Berg mit Susanne Stiefel wandelnd, einen wunderbaren Vergleich. Und der geht wie folgt: „Da ist so eine kleine Kiefer an der Außenwand der Ruine. Die hat sich hochgekämpft an der Mauer. Die habe ich jahrelang beobachtet, ob sie es schafft. Wegen der bin ich hier raufgekommen, weil die mich ermutigt hat weiterzumachen.“[4]
Passt das nicht ausgezeichnet? Da ist diese Raubritterburg Stuttgart 21. Die Mauern sehen auf den ersten Blick kühn aus. Doch sie sind im Innern bereits bröselig, anhydrit-einsturzgefährdet. Da bietet kein Kelch wirklich Stütze. Und da hat sich ein Widerstand in die Mauern gekrallt. Dieser Widerstand hat sich immer wieder aufs Neue hochgekämpft. Das konnten wir jahrelang beobachten. Was heißt da beobachten?
Das sind wir selbst! Und wir schaffen das!
Es gilt doch weiter: Wessen Bahnhof? Unser Bahnhof! Wessen Stadt – unsere Stadt!
Und wie diese Kiefer, so werden wir:
OBEN BLEIBEN!
Anmerkungen:
[1] Erschienen in der Wochenendbeilage der Schweriner Volkszeitung vom 20. Juli 1996; Interviewer: Manfred Zelt. Wiedergegeben in: Peter Lenk, Skulpturen, Bilder, Briefe, Kommentare, Konstanz (Verlag Stadler). 6. Erweiterte Auflage 2017, S. 218.
[2] Brief vom 30. Januar 2018.
[3] Interview mit Peter Lenk, geführt von Susanne Stiefel, erschienen in KONTEXT am 28. September 2011, als Beilage in der Taz am 1. Oktober 2011.
Dr. Winfried Wolf ist Chefredakteur von Lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie. Jüngste Publikationen: Abgefahren – Warum wir eine neue Bahnpolitik brauchen (zusammen mit Bernhard Knierim; Herbst 2019) // Verkehrswende – ein Manifest (zusammen mit Carl Waßmuth; Februar 2020) // Corona, Kapital, Krise – Plädoyer für eine solidarische Alternative in den Zeiten der Pandemie (zusammen mit Christian Zeller und Verena Kreilinger, Septemer 2020). Und seit dem 26. Oktober 2020: Stuttgart Verkehr 2030 – eine Stadt für die Menschen (zusammen mit Heiner Monheim und Wolfgang Hesse).
Websites: www.winfriedwolf.de und www.lunapark21.net