Rede von Dieter Reicherter, Vorsitzender Richter am Landgericht a.D., auf der Demo zum 10jährigen Jahrestag des „Schwarzen Donnerstags“ am 30.9.2020
Liebe Freundinnen und Freunde!
An Gedenktagen soll man den Blick nicht nur nach hinten richten, sondern auch nach vorne schauen. Und weil vor zehn Jahren alles so unendlich traurig war und wir so unendlich ohnmächtig blieben, wollte ich ursprünglich heute die damaligen Eindrücke nicht mehr vertiefen. Aber sie sind nicht verblasst, und bei der Vorbereitung auf den heutigen Tag las ich so viele schreckliche Schilderungen, dass ich zwingend einige Zitate vorlesen muss. Nicht, um irgendwen anzuklagen, sondern um die Öffentlichkeit aufzurütteln. Denn unsere Erfahrungen zeigen, wie wichtig es ist, sich für Demokratie, Rechtsstaat, Gerechtigkeit einzusetzen, und wie brutal ein System zurückschlagen kann. Leider sind diese Werte auch heute noch gefährdet, vielleicht mehr denn je. Deshalb hat derjenige nichts verstanden, der behauptet, uns gehe es nur um einen Bahnhof.
Ich zitiere einfach nur aus mir zugegangenen Aussagen. Die Verfasserinnen und Verfasser sind mir alle bekannt:
„So ein aggressives und furchterregendes Auftreten der Polizei habe ich noch gar nie erlebt. Sorgenvoll und ohnmächtig sah ich dem Treiben zu. Es war mir nicht möglich, einen der Einsatzkräfte zum Zuhören zu bewegen. Sie waren unnahbar, mit Worten nicht zu erreichen, kein Gesicht war hinter dem Helm sichtbar. Ich kam mir unsagbar hilflos vor, dass die Tränen hochgekommen sind. Pfefferspray, Schlagstöcke, Wasserwerfer, Polizisten, dick Vermummte in Kampfanzügen und mit Helmen auf dem Kopf, hinter denen der Mensch nicht mehr gesehen werden konnte. Bei den verletzten Menschen war eine unglaubliche Fassungslosigkeit zu spüren, die auch trotz des körperlichen Schmerzes geäußert wurde: Was macht die Polizei mit uns? Wir sind doch friedlich.“
„Mit welcher Brutalität dabei vorgegangen wurde, war erschreckend. Alte und Kinder, gehbehinderte Frauen und Männer, alles wurde umgerannt, weggeknüppelt und angesprayt. Leute, die gefallen waren und am Boden lagen oder kauerten, wurden wie Kadaver weggezerrt. So etwas hatte ich bis dato nur im Film gesehen.“
„Im Getümmel wurde ich zu Boden geworfen und lag im Schlamm. Daraufhin kamen 2-3 Polizisten auf mich zu, hielten mich am Boden fest und ein weiterer sprühte aus ca. 50 cm Abstand gezielt Pfefferspray in mein Gesicht. Mit brennenden Augen und nicht in der Lage zu sehen, schleppte ich mich auf die naheliegende Wiese.“
„Ich sah, dass verletzte Menschen, die nichts mehr sehen konnten, an Körper und Gesicht knallrot, teils schrien, von Helfern gestützt, gebracht wurden. Ein Mann sagte mir, auf der Schillerstraße stünde ein Krankenwagen. Ich eilte dorthin. Der Sanitäter sagte mir, die Polizei hatte angeordnet, sie dürften nicht den Park betreten, die Verletzten sollten zur Schillerstraße gebracht werden. Ich antwortete, dass dies nicht möglich sei, die Menschen sehen nichts und haben große Schmerzen. Keine Reaktion des Sanitäters.“
„Die Wasserwerfer-Besatzung hatte beste Laune und zeigte das deutlich. Also ob sie sich Witze erzählten oder sich über uns lustig machten; jedenfalls sie zeigten uns so ihre Verachtung – als ob wir keine Menschen wären.“
„Der Wasserwerfer stand jetzt ca. 4 Meter von mir entfernt auf dem Weg. 2 Männer, einer groß, blond, ovales Gesicht, ohne Uniform, schoben das Rohr in meine Richtung. Ich dachte, sie zielen auf die Gruppe am Baum und auf keinen Fall auf mich einsam sitzende, alte Frau. Und dann traf mich ein harter Schlag mit ungeheurer Wucht auf Füße und Unterschenkel. Ich versank in einer Gischtwolke aus milchigem Wasser. Fassungslos und geschockt wurde mir klar, dass dieser Mann am Wasserwerfer mich ganz bewusst und gezielt „abgeschossen“ hatte.“
„Kurz bevor es uns erwischt hat, kam aus der Reihe hinter mir eine alte Frau durch den Wasserdruck an mir vorbeigeflogen, knallte auf dem Weg auf und rutschte dort noch ein Stück vorwärts. Ich glaube, so wirklich wurde mir erst da klar, wie hoch der Druck des Wasserwerfers eingestellt war und wie gefährlich das für uns werden könnte.“
Dass es aber trotz allem auch etliche Menschen gab, die unter ihrer Uniform Anstand, Menschlichkeit und Mitgefühl bewahrten, zeigen diese Beispiele:
„Die Polizei hat die Verletzungen, vor allem die Augenverletzungen durch Tränengas, sehr wohl mitbekommen. Teilweise wurden seitens der Polizisten Wasserflaschen unter die Menschen verteilt. Wasserflaschen, die zuvor in der Brusttasche der Uniformen steckten.“
„Wir beobachteten auch eine Polizistin, die Jugendlichen beim Auswaschen der Augen half, sowie einen Polizisten, der sich erkundigte, ob Hilfe nötig sei. Beide kamen in den Bereich der Waschbecken vor den Toiletten, wo zunächst viele Jugendliche selbst versuchten, ihre Augen auszuspülen.“
„Die Bilder von Herrn Wagner wurden immer wieder an die Polizeireihen gehalten, stundenlang vom Nachmittag bis in die Nacht. Hinter der Absperrung stand eine junge Polizistin, der unsere Gruppe das Plakat hingehalten hat. Ihr liefen Tränen über das Gesicht.“
Ich hoffe immer noch, dass solche Menschen mit Vorbildcharakter uns dabei behilflich sein wollen, die bislang unvollständig gebliebene Aufklärung voran zu treiben. Denn so vieles liegt noch im Dunkel der Lügen und des Schweigens. Im Interesse einer funktionierenden Demokratie führt aber kein Weg an schonungsloser Aufdeckung vorbei.
Zahlreiche Merkwürdigkeiten fordern endlich Antworten. Zum Beispiel auch die Frage, warum es überhaupt zum Polizeieinsatz kam. Denn die Deutsche Bahn AG hatte bis zum 30.9.2010 ihre Verpflichtungen aus der Planfeststellung zum Artenschutz nicht erfüllt. Sie hätte daher, als der Polizeieinsatz geplant und durchgeführt wurde, mit den Baumfällungen überhaupt nicht beginnen dürfen.
Und schließlich der Verdacht, es sei beim Einsatz auch darum gegangen, Gewalttaten friedlicher Menschen zu provozieren. Wenn ich mir die Aufzeichnungen und Berichte dazu ansehe, wie zu Beginn des Geschehens Jugendliche gezielt mit Stößen und Schlägen von Polizisten angegriffen wurden, halte ich die Vermutung nicht für abwegig. Jedenfalls ist vielen das Demonstrieren für immer ausgetrieben worden. Und es gibt massive Hinweise, dass zu Mitteln gegriffen wurde, die einem Rechtsstaat verboten sind.
Da muss ich noch auf den Polizeipräsidenten Stumpf eingehen, der sich im aktuellen SWR-Interview selbst bemitleidet. Am Schwarzen Donnerstag klang das anders. Stadtdekan Brock hatte Stumpf angerufen, um den Einsatz zu stoppen. Im Untersuchungsausschuss des Landtags berichtete er über Stumpfs Reaktion: „Laut sprach ich ins Telefon, dass ich mich sorge um die Menschen; Polizei und Demonstranten waren viel zu eng aufeinander; immer wieder die Schreie beim Einsatz der Wasserwerfer. Ich sagte wörtlich: Wissen Sie, dass dort 13-Jährige vor dem Wasserwerfer stehen? Und die Antwort war wörtlich: Dann nehmen Sie sie doch heraus.“
Die große Aufmerksamkeit, die uns und unseren Anliegen in diesen Tagen zuteil wird, lässt mich nach den schrecklichen Einzelheiten, die ich berichtet habe, trotz allem hoffen, dass unsere Opfer nicht vergebens waren. Aber wir vergessen nicht, weder die Täter noch die Verletzten. Unser Kampf nicht nur für einen guten Schienenverkehr, sondern auch für Klima und Umwelt, für Demokratie, für einen besseren Umgang der Staatsgewalt mit Bürgerinnen und Bürgern muss erfolgreich sein. Denn wir haben die besseren Argumente.
Deswegen rufe ich euch alle zum Schluss auf, den Mut nicht fahren zu lassen und weiter für unsere Sache kraftvoll einzutreten getreu Schopenhauers Erkenntnis: „Ich sehe nicht ein, warum ich, der Einfalt Anderer wegen, Respekt vor Lug und Trug haben sollte."
Und das geht bekanntlich nur mit – Oben Bleiben!
Grioßartig, lieber Dieter!
War da! Super Dieter.