Rede von Joe Bauer, Stadtflaneur und Journalist, auf der 525. Montagsdemo am 17.8.2020
Schönen guten Tag vor dem Rathaus,
der noch amtierende OB, ein Schultes namens Fritz Kuhn, hat diesen Marktplatz hier mal als das „Wohnzimmer der Stadt“ bezeichnet. Und das war mit Blick auf die Zukunft gar nicht so falsch. Wenn es mit dem Mietenwahnsinn und der Wohnungsnot in Stuttgart so weitergeht, müssen einige Menschen in dieser Stadt demnächst ihre Schlafsäcke mitbringen und hier Platte machen.
Derselbe Herr Kuhn hat auch gesagt, das Wohnungsproblem werde man mit Stuttgart 21 lösen – mit dem sogenannten Rosensteinviertel. Inzwischen wissen wir, dass Stuttgart womöglich schon eine Geisterstadt sein wird, bevor diese Luftburgen auch nur irgendetwas mit realem Wohnraum zu tun haben.
Liebe Freundinnen und Freunde, Realität ist auch, dass wir die Corona-Pandemie noch lange nicht überstanden haben. Wir müssen aufpassen, dass uns die zweite Welle nicht härter erwischt. Vergangenen Freitag erst war ich auf dem Pragfriedhof bei einer Urnenbeisetzung. Anfang April ist ein Freund von mir, ein guter Handwerker und erstklassiger Sportler, im Alter von 52 Jahren in einem Stuttgarter Krankenhaus am Corona-Virus gestorben. Das gehört zu unserer Wirklichkeit.
Bitte halten Sie Abstand, tragen Sie Masken. Wir müssen jetzt körperliche Distanz halten, aber gleichzeitig in den Köpfen zusammenrücken – und in dieser Krise solidarisch sein, vor allem mit denen, die es am härtesten trifft. Nämlich die ohnehin schon Benachteiligten und Verletzlichen dieser Gesellschaft.
Vor jeder Montagsdemo höre ich die Frage, was dieser Protest denn noch soll. Die Sache sei gelaufen, der widerständlerische Haufen hier doch längst am Ende. Nicht selten ist dieser Blick von oben herab voller Spott. Das muss man nicht ernst nehmen. Wenn ich morgen gegen die Atombombe demon-striere und übermorgen gegen den Rassismus und die Ausbeutung internationaler Arbeitssklaven, schaffe ich damit nicht die Atombombe, den Rassismus und die Ausbeutung ab. Ich mache aber auf diese Bedrohung und Ungerechtigkeiten aufmerksam und verbünde und vernetze mich mit anderen Menschen.
Auch Stuttgart 21 ist eine Bedrohung: für die Stadtgestaltung, vor allem für das Klima – und damit für die Menschen. Von der obszönen Geldverschwendung zu schweigen.
Seit zehn Jahren höre ich immer wieder den Vorwurf, mit meiner Aktivität gegen S21 sei ich doch bloß ein Ewiggestriger. Lustigerweise sagen mir das oft Leute, die in ihrer kulturellen Entwicklung im Geschmackskeller ihrer Vergangenheit hängengeblieben sind. Aber egal. Solange uns auf dieser Montagsdemo regelmäßig Fachleute über den wahren Stand der Dinge informieren, hat diese Veranstaltung ihren Sinn und ihre Berechtigung. Diese Fachleute in den Reihen des Protests gibt es nach wie vor. Sie sind nicht nur unermüdliche Mahnwächterinnen und Mahnwächter. Sie sind kluge Mitglieder eines gewissenhaften Teams der Aufklärung im Hier und Heute. Sie informieren uns über Dinge, von denen wir ohne sie überhaupt nichts erfahren würden.
Der Hohn auf die angeblichen Gestrigen kommt ja meist von arroganten Leuten, die nichts wissen über die Zusammenhänge von gestern und heute. Die nie begriffen haben, warum Geschichte nicht Vergangenheit, sondern Gegenwart ist. Ein Blick auf die rechtsextremem und völkischen Machenschaften um uns herum müsste genügen, dies zu erkennen. Die so Coolen und Hippen aber faseln ununterbrochen von irgendeiner Zukunft, die ihnen die Reklamefritzen von S21 verkaufen. Die erfinden für ihre Plakate sogar einen „neuen Bonatzbau“. So nennen sie ein zerstörtes Baudenkmal, in dem eine Firma des Schweinebarons Tönnies zurzeit ein Hotel baut.
Schauen Sie sich mal dieses Transparent dort am Rathaus an: Unabhängig davon, dass der Mensch nicht für, sondern laut Duden VOR etwas Respekt hat: Auf diesem Plakat werden die Feuerwehr, die Rettungsdienste und die Polizei aufgezählt. Das sind exakt die Organisationen, die den Verantwortlichen des Katastrophenbauwerks S21 auch in Zukunft dringend zur Seite stehen müssen. Am 30. September jährt sich übrigens zum zehnten Mal der Schwarze Donnerstag.
Der Protest gegen S21 ist zuletzt kurz in Verruf geraten. Das hatte mit diesen Querdenken-Demos zu tun, bei der sich auch ein paar S21-Gegner blicken lassen. Vermutlich halten sich viele Teilnehmende dieser Aufmärsche tatsächlich für Querdenkende. Fraglich, ob sie wissen, was dieser Begriff überhaupt bedeutet. Die Voraussetzung des an sich kreativen Querdenkens, das der britische Wissenschaftler Edward de Bono in den Sechzigerjahren als „lateral thinking“ eingeführt hat, ist immer die Logik des vertikalen Denkens. Es geht um ein empathisches Denken, das zu besseren Ergebnissen führen kann als erstarrte Logik. Diese Art Querdenken aber hat nichts zu tun mit der verschwörerischen Quertreiberei in der Krise.
Das Thema Querdenken-Demos greife ich auf, weil ich im Denken ihrer Organisatoren Parallelen zu den Stuttgart-21-Erfindern und -Durchpeitschern sehe. Liebe Freundinnen und Freunde, Ihr hab ja sicher mitbekommen, dass neulich der Kabarettist Florian Schroeder bei der Querdenken-Demo in Stuttgart auf die Bühne ging. Die Verantwortlichen hatten ihn nach einem seiner satirischen Video-Auftritte für einen der ihren gehalten und eingeladen.
Das Erhellende an Schroeders Auftritt im Stuttgarter Schlossgarten waren aber gar nicht die Sätze, die er über die Meinungsfreiheit gesagt hat. Oder als er versuchte, Corona-Leugner ihre Widersprüche vor Augen zu führen. Erhellend war auch nicht, wie die Leute reagiert haben. Erst mit Beifall, dann mit Buhs.
Aufschlussreich war viel mehr die Tatsache, dass ausgerechnet die Verantwortlichen dieser Demo, die ununterbrochen die Leierkasten-Parolen „Wacht auf!“, „Informiert euch!“ verbreiten, auf einen Clown hereinfallen. Weil sie zuvor nicht in der Lage waren, eine leicht durchschaubare Corona-Leugner-Karikatur dieses Kabarettisten als Satire zu erkennen. Sie waren einem vorherigen Beitrag Schroeders auf den Leim gegangen. Und haben es sogar unterlassen, mal kurz zu recherchieren, wie dieser Komiker politisch sonst so drauf ist. Nämlich keineswegs wie die sogenannten Querdenker.
Diese Demo-Verantwortlichen waren aus Gründen vollkommener Verbohrtheit nicht fähig, die Bedeutung einfacher satirischer Texte zu erkennen. Nicht fähig, wenigstens Teile der Realität außerhalb ihrer Blase und Echokammer wahrzunehmen.
So erklärt sich auch, dass der BWL-geschulte IT-Unternehmer und „Querdenken“-Organisator Ballweg einen Rechtsextremen als Pressesprecher beschäftigt. Es geht dieser Bewegung nirgendwo um Logik und Vernunft, sondern nur um verschwörerische Holzhammer-Propaganda. Und dafür ist jedes Mittel recht: Vor lauter Geltungssucht und Größenwahn und vor lauter Gier, einen halbwegs prominenten TV-Protagonisten wie Florian Schroeder für sein Geschäft mit dem Irrsinn einzuspannen, fällt der Stuttgarter OB-Kandidat Ballweg naiv, vernagelt und verscheuklappt auf einen Komiker rein.
In der Geschichte finden wir viele Beispiele, wie der Größenwahn auch noch die letzten Reste der Vernunft ausblendet. Das gilt nicht nur für Diktatoren.
Ich erinnere mich an eine Rede, die im April 2013 ein Gast aus der Schweiz bei der Montagsdemo hier auf diesem Marktplatz gehalten hat. Zu S21, sagte er, sei rein technisch schon alles gesagt. Deshalb mache er auf ein gravierendes psychiatrisches Problem aufmerksam: auf eine Krankheit namens Megalomanie. Dieser Begriff bezeichnet die Phänomene zwischen Größenwahn und Selbstüberschätzung.
Dieser Mann auf der Montagsdemo war Professor Dr. Benedikt Weibel. Von 1993 bis 2006 war er Chef der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), später Dozent für Praktisches Management an der Universität Bern. Auf unserer Demo schilderte er, wie die Schweizerischen Bundesbahnen ihr komplettes Schienennetz für eine vernünftige Summe revolutioniert haben. Und wie die Schweizer Bevölkerung extrem teure Hochgeschwindigkeitsbahnen per Volksentscheid verhindern konnte.
Von Megalomanie sprechen wir also zu Recht, wenn Stuttgarter Politiker jahrzehntelang ein Milliardenprojekt durchprügeln, weil sie in ihrem Machbarkeitswahn glauben: Wo uns ein Herrenknecht-Bohrer willig ist, ist auch ein Weg. Schließlich geht es um horrende Immobilienprofite und die politische Macht um jeden Preis.
Ganz nebenbei ein weiteres Beispiel aus unserer direkten Umgebung: Was Größenwahn und Geltungssucht anrichten, führte uns Konrad Kujau, der Stuttgarter Fälscher der „Hitler-Tagebücher“, vor: In der Aussicht auf Ruhm und Geld waren die Manager des Magazins „Stern“ einst so blöd, auch noch die billigsten Tricks eines kleinen Gauners als historische Wahrheit zu betrachten. Und zwar weil die Dollarzeichen in ihren Augen alle Fakten ausblendeten und ihnen den Verstand raubten. Da reichte es, dass Kujau Papierbögen mit Geschichten über Hitlers Darmverstopfung so lange in seinen Backofen legte, bis sie den Stern-Managern braun genug erschienen.
Beim Thema Größenwahn und Geltungssucht sind wir genau wieder mitten drin in den schwarzen Löchern von Stuttgart 21. Mit Dollar-Zeichen in den Augen werden Fakten verdrängt und vertuscht – und mit Lug und Trug wird weitergebaut. Immer in der Absicht der Herrschenden, mit ewiggestriger Politik gegen alle Vernunft und gegen alle demokratischen Pflichten die Macht zu verteidigen und Profite zu machen. Und deshalb müssen wir weiter dagegen protestieren!