Hochverehrte Protest-Gesellschaft von Stuttgart,
ich grüße Sie vor unserer Bahnhofsruine, die uns schon heute verkehrs- und klimatechnisch große Vorteile garantiert: In der Zeit, in der Sie sich auf diesem Bahnhof zu Ihrem Gleis durchkämpfen, können sie locker die Strecke nach Ulm mit dem E-Bike bewältigen.
Damit bin ich bei unserem Sportsfreund Kuhn, bekannt auch als Fritz der Große: Neulich hat er bei seiner Bewerbung um die Internationale Automobil-Ausstellung – diese Schau der Stink- und Protzkisten – getönt, Stuttgart sei „die Heimatstadt der Mobilität“. Wörtlich hat er Folgendes abgesondert: „Alles was sich bewegt und nachhaltig unterwegs ist, heißen wir herzlich willkommen.“
Gemeint hat er vermutlich unsere nachhaltig verstopften Straßen und all die S-Bahnen, die nur noch mit Verspätungsrekorden unterwegs sind.
Jetzt aber zu unserer Nummer 500, meine Damen und Herren. Das ist unglaublich. Ich habe mich mal nach der Bedeutung der Zahl 500 erkundigt und erfahren, dass sie in der Bibel eine große Rolle spielt. Darauf kann ich hier nicht näher eingehen, nur kurz so viel:
„Der allseits berühmte Hiob beispielsweise hatte einen Bestand von 500 Eselinnen, zwei mal 500 Rindern, 12 mal 500 Kamelen und 14 mal 500 Schafen.“ Ich muss Ihnen nicht sagen, dass wir angesichts von Stuttgart 21 sehr wahrscheinlich mehr als zwei Mal 500 Rindviecher, 14 Mal 500 Schafe und ähnliche Esel in dieser Stadt finden.
Andrerseits bin ich mit runden Zahlen etwas vorsichtig, damit wir hier beim Protest gegen das Immobilien- und Stadtzerstörungs-Projekt nicht in eine Art Jubiläums-Euphorie geraten. Erst im vergangenen Herbst haben wir im Theaterhaus unter Anteilnahme weiter Kreise der Bevölkerung „Zehn Jahre Montagsdemo“ gefeiert. Heute ist die 500. Montagsdemo, im Juli steht das Datum „10 Jahre Mahnwache“ an, und im September werden wir uns zum zehnten Jahrestag des Schwarzen Donnerstags versammeln. Es war in Wahrheit ein dreckiger Donnerstag, wenn man die politisch Verantwortlichen hinter den brutalen Angriffen auf unsere Versammlungsfreiheit betrachtet. Inzwischen haben wir eine andere Regierung – und noch schärfere Polizeigesetze. Außerdem wollen die grünen Klimakiller den Stuttgarter Flughafen vehement ausbauen – so können sie auch leichter mehr geflüchtete Menschen abschieben.
Einer von dieser Regierung – er heißt Kretschmann – hat neulich gesagt, die Volksabstimmung über S21 habe das Volk „befriedet“. Die Realität ist eine andere: Mit ihrer heuchlerischen Abstimmung haben die Grünen nicht uns befriedet, sondern nur sich selbst befriedigt. So erklärt sich ihre Selbstzufriedenheit als Wendehals-Karrieristen.
Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter, auf dieser historischen 500. Kundgebung gegen Stuttgart 21 haben uns zwei hochkarätige Verkehrswissenschaftler den Unsinn dieses als Verkehrsprojekt getarnten Profit-Unternehmens bestens erklärt. Deshalb darf ich jetzt guten Gewissens die Gleise in eine andere Richtung biegen.
Es wird immer saukomisch, wenn man den Geist hinter Stuttgart 21 betrachtet. Meine erste Rede auf einer Demo gegen S21 habe ich 2010 gehalten. Damals hatten Proler mit ihrer Rohr- und Tunnel-Intelligenz gerade T-Shirts mit dem Aufdruck verteilt: „Tu ihn unten rein!“ Das war unter dem damaligen Regierungsbullen Mappus die logische Fortsetzung von Kohls Lebensmotto „Entscheidend ist, was hinten rauskommt.“
Heute werden solche Glanznummern noch getoppt. So liest man auf Transparenten in der mit Kunstlicht verhunzten Bahnhofsruine die strunzdumme Propaganda, es gebe bald einen „neuen Bonatzbau“. Das entspricht dem Vorhaben, ein Bild von Picasso zu zerhacken, die Reste zu einem Bettvorleger zusammenzuflicken, sie frisch anzustreichen – um sie dann als einen „neuen Picasso“ zu verscherbeln. Tatsache ist: Die Architektur von Paul Bonatz, die laut FAZ „Stuttgart vor hundert Jahren mit einem Schlag in die Moderne katapultierte“, ist für immer zerstört.
Jetzt wird ein Vier-Sterne-Hotel in den Bahnhof gemauert, finanziert von dem Unternehmen me and all, an dem unter anderem der berüchtigte Fleischfabrikant Clemens Tönnies beteiligt ist. Welche Gesinnung das Bahnhofshotel beherrscht, habe ich auf der Homepage der Firma me and all gelesen – Achtung, ich zitiere wortwörtlich: „Wir gehen nach Stuttgart – YEAH JIPPIE YEAH – In drei gläserne! [Ausrufezeichen] Etagen, in den historischen Bonatzbau am Hauptbahnhof. Wer dann im Stuttgarter Hauptbahnhof ankommt, kommt auch im me and all stuttgart an. Also fast. Zentraler geht’s definitiv, überhaupt ganz und gar nicht. Und spektakulärer kaum: Die drei Etagen werden nämlich als Glaskubus ins historische Drumherum integriert und auf ein Shopping-Center gesetzt. Auch die Fassaden und alten Schalterhallen bleiben erhalten. Das wird der Hammer! Die me and all lounge wird riiiesig [mit drei i]. Und es wird ein me and all businesscenter mit 10 Boardrooms für Meetings für bis zu 12 Teilnehmer geben. On top of all. Wir sind ja jetzt schon ein bisschen geflasht. Und können auch die Feierabend-Beats in unserer Stuttgarter Lounge irgendwie schon hören.“
Dieser Text, dessen Dumpfbacken-Beats uns voll flashen, erzählt viel über das Verhältnis gewisser Marketing-Leuchten zur Geschichte. Und damit komme ich zu einem wichtigen Punkt unseres Protests. Wenn Stuttgart-21-Befürworter in ihrer Überheblichkeit spotten, wir hier seien die Ewiggestrigen, dann offenbaren sie nur ihre verantwortungslose Sicht auf politische Entwicklungen.
Wer sich ernsthaft mit der Vergangenheit befasst, wird begreifen: Geschichte ist nicht Vergangenheit. Geschichte ist immer Gegenwart. Und eine Protest-Bewegung, vor allem eine so lang anhaltende wie unsere, hat die Pflicht, über ihr ureigenes Thema hinauszuschauen. Ein Motiv für unseren Protest war und ist es, demokratische Rechte zu nutzen und zu verteidigen. Und seit vielen Jahren begegnen wir immer mehr Feinden der Demokratie, die den Gestrigen nacheifern. Ich spreche von den neuen Faschisten, von den Rechten und Völkischen vor unserer Haustür mit ihren nationalistischen, rassistischen Machenschaften.
Deshalb ist es auch unsere Aufgabe, diesen Bahnhof als ein in der Gegenwart zerstörtes Denkmal aus einer Zeit zu sehen, die in unsere Gegenwart hineinreicht. Die Auseinandersetzung mit Geschichte hat nichts, aber auch gar nichts mit Nostalgie zu tun. Sie konfrontiert uns vielmehr mit dem Hier und Jetzt. Und wir müssen uns heute solidarisch mit all denen zusammentun, die sich gegen die Zersetzung demokratischer Rechte wehren. Die sich wehren gegen die Attacken und den Terror von rechts auf unsere internationale Kultur und Lebensart. Wir erleben gerade einen Kulturkampf von rechts, nämlich die Angriffe „nationaler Esel“, wie Tucholsky sie genannt hat – und es sind leider nicht nur 500.
Zum Abschied heute, meine Damen und Herren, heiße ich Sie willkommen in den neuen zwanziger Jahren. Die legendären Zwanziger liegen ja erst 100 Jahre zurück, und ich bin mir sicher: Einige von Ihnen haben sie noch erlebt – und waren inzwischen bei allen 500 Montagsdemos dabei.
Hochverehrte Protest-Gesellschaft, die Demos müssen weitergehen, damit uns die Geschichte von Stuttgart 21 eine Warnung bleibt, wie man mit Lügen und Phrasen von Zukunft und Fortschritt unsere Gegenwart ausbeutet und zerstört.
Und so dichte ich zum Schluss die Mobilitäts-Poesie unseres großen Fritz ein wenig um: Alles, was sich bewegt und nachhaltig unterwegs ist gegen die Verbreiter des Hasses, gegen die Feinde der Menschlichkeit und des klaren Verstands, heißen wir herzlichen willkommen.
Bis bald – und auf die nächsten 500 Montagsdemos!
Vielen Dank.