Rede von Gerhard D. Wulf, Parents for Future, auf der 496. Montagsdemo am 30.12.2019
Liebe Mitdemonstrantinnen und Mitdemonstranten,
ich heiße Gerhard und bin bei den Stuttgarter ‚Parents for Future‘.
2019 wird in die Geschichte eingehen – in meine persönliche und in die Geschichte insgesamt. Ich war im Februar das erste Mal mit meiner Tochter auf einer ‚Fridays for Future‘-Demo auf dem Marktplatz und seitdem fast jeden Freitag. Ich habe viele junge und immer mehr ältere Menschen getroffen, die wie ich kämpfen für eine lebenswerte Zukunft nicht nur des menschlichen Lebens auf diesem Planeten. Ich bin deswegen aktiv bei den ‚Parents for Future‘ und helfe dort in der Organisation mit.
Und ich habe seit Jahren erstmals auch wieder Stuttgart-21-Demos besucht. Weil viele S21-Gegner mit bei den Klimademos sind, und weil ich gemerkt habe, dass auch dieses Projekt eine Katastrophe fürs Klima ist. Allein der Bau mit seinen immensen Mengen Beton, der Baustellenverkehr und die viel zu knapp bemessene Kapazität des Durchgangsbahnhofs sind klimaschädlich. Wenn der Bahnhof weniger leisten kann als vorher, werden wieder mehr Menschen aufs Auto oder Flugzeug umsteigen. Hinzu kommt die geplante Bebauung des Gleisfeldes. Wenn hier die letzten Frischluftschneisen zugebaut werden, erstickt der Kessel im Sommer.
Für Stuttgart ist die Klimafrage überlebensnotwendig, und in S21 haben wir ein Projekt jenes profitorientierten Größenwahns vor Augen, das den ganzen Irrsinn unserer neoliberalen Wirtschaftsform verkörpert: Statt sinnvoll in die Bahn und den ÖPNV zu investieren, um wegzukommen vom extrem schädlichen individuellen Verbrennerverkehr, wird ein Dinosaurier künstlich am Leben erhalten, der bei Abschluss der Bauarbeiten irgendwann einen deutlich schlechteren Schienenanschluss Stuttgarts an die Welt bieten wird, als der vorher vielgescholtene Kopfbahnhof.
Es war halt schon immer ein Immobilienprojekt und kein Mobilitätsprojekt. Deshalb muss auch im neuen Jahr unser Ziel sein, die oberirdischen Gleisanschlüsse weitgehend zu erhalten und damit die unterirdischen Gleise zu ergänzen und als Backup für Notfälle zu dienen. Dann wäre wenigstens ein Teil der Milliarden nicht sinnlos verbuddelt und der alte Bahnhof nicht völlig sinnfrei abgerissen worden.
Das würde natürlich bedeuten, dass die geplante Bebauung nicht wie vorgesehen stattfinden kann. Und auch die dann übrigen bebaubaren Flächen nur unter strengsten Auflagen geplant werden dürfen, was Geschosshöhe, Ausrichtung zu Windströmen, Klimaneutralität etc. betrifft und selbstverständlich aus hauptsächlich vermietetem sozialem Wohnungsbau in städtischem Eigentum bestehen. Dann und nur dann wäre das Opfer eines funktionierenden Bahnhofs zumindest teilweise nachzuvollziehen und brächte zumindest keine weiteren Nachteile für die Stuttgarter Bevölkerung.
Aber vielleicht kommt ja alles noch ganz anders: Im Sommer hatte ich Gelegenheit, bei Schorsch Kameruns utopisch-dystopischem S21-Baugrubenprojekt mitzuspielen. Seine Idee war, der Bau ist eingestellt und die Bauruine entwickelt sich zu einem Stadtpark mit Quellen, Zitronenbäumen und künstlerischem Leben mitten in der Stadt. Eine sicher sehr verträumte Vision, aber warum sollten ausgerechnet wir keine Träume mehr haben?
Und wegen dieser positiven Visionen bin ich auch so engagiert bei den ‚Fridays for Future‘. Sie malen nämlich nicht nur die dank ihnen allseits bekannten Horrorszenarien von steigendem Meeresspiegel, versinkenden Inseln und absaufenden Küstenregionen, Gluthitze, Dürre und schlimmsten Stürmen an die Wand, sondern zeigen auch, was wir alle gemeinsam tun können, um das Klima doch noch zu retten – zumindest das, was davon noch zu retten ist, denn alles werden wir nicht aufhalten können. Dazu sind schon zu viele Kipppunkte überschritten, aber wir müssen es versuchen, die Erwärmung auf maximal 2 Grad zu beschränken. Die 1,5 Grad sind mit den bisher auch hier in Stuttgart gefassten Beschlüssen niemals zu schaffen. Und das wissen die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft auch, und trotzdem wollen sie uns im Wesentlichen so weitermachen lassen, wie gehabt.
Aber das wird nicht funktionieren, nicht mit den Jungen und auch nicht mit immer mehr von uns Älteren. Ja, es hat des Impulses der Jugend bedurft, dass das Thema Klima wieder auf der Tagesordnung steht. Wir – und ich sage das ganz bewusst – hatten uns viel zu lange eingerichtet in der sogenannten sozialen Marktwirtschaft, wo angeblich jeder und jede nach seiner Façon glücklich und erfolgreich werden konnte. Das war schon immer ein Märchen, das ein schillerndes Glitzerkleid über diese Form des Kapitalismus legte, zumindest sahen wir das so oder wollten das so sehen, solange auch wir ein Stück vom Kuchen ab bekommen haben.
Aber jetzt haben die Kinder uns gezeigt, dass der Kaiser Kapitalismus nackt ist, und wir das Klima und uns alle nur retten können, wenn wir mit dem Kampf gegen die Klimakatastrophe auch den Kampf für eine neue Wirtschaftsform verbinden, die ökologisch und sozial ist, die Gemeinwohlökonomie. Und so stehen wir Alte und Junge am Ende des Jahres 2019 vor dem Beginn eines neuen Zeitalters, einem Paradigmenwechsel sondergleichen, der all unsere Kraft erfordern wird.
Hoffnung darf nicht unser Motto sein, denn Hoffnung macht träge und passiv. Mut und Tapferkeit, Zuversicht und Entschlossenheit muss die Devise sein und unser Handeln bestimmen! In diesem Sinne uns allen ein Gutes Neues Jahr 2020!