Rede von Dr. Carola Eckstein, Parkschützerin, auf der 468. Montagsdemo am 17.6.2019
Fahrräder in New York: Leute in meinem Alter assoziieren damit Fahrradkuriere im Kamikaze-Modus; viel Adrenalin und Videos, die man den eigenen Kindern ganz bestimmt nicht zur Nachahmung empfehlen möchte. Und jetzt gibt es in New York ‚protected bike lanes‘, auf denen Jung und Alt, selbst ganze Familien mit dem Fahrrad unterwegs sind. Seit den krassen Fahrradkurier-Videos hat sich offenkundig viel getan, die Verkehrswende findet statt!
Interessant auch, dass ich das nicht beim VCD (Verkehrsclub Deutschland ) gelesen habe, sondern im ‚Chrismon‘-Heft, das ab und an der Wochenzeitung ‚Zeit‘ beiliegt; meine Eltern lesen das, weder die Zeit noch Chrismon fielen bislang mit öko-revolutionärer Propaganda auf.
Londons Bürgermeister stellt fest: Wenn eine Stadt nicht gut funktioniert, ist sie nicht mehr wettbewerbsfähig in der Welt – und noch mehr Autos in den wachsenden Städten, das funktioniert einfach nicht. Das hat London gemerkt und New York und Kopenhagen und Helsinki und Hongkong…
Und all diese Städte ziehen Konsequenzen. Mit dem Plan ‚Healthy Streets for London‘ machen die Briten das Laufen und Radfahren in der Hauptstadt attraktiv und sicher und das Autofahren teuer. Inzwischen kann man in der Rushhour mehr Fahrräder zählen als Autos.
Aber auch andere Erfolge sind zu verzeichnen: Von Amsterdam bis Zürich melden Städte, die sich auf den Fußweg machen, substanziell weniger Unfälle und Verletzte. Staus verschwinden, der Verkehr wird flüssiger, wo immer man den Autos Platz und Geschwindigkeit nimmt. Der Einzelhandel blüht auf und Bürger sind begeistert von der neuen Lebensqualität vor ihrer Haustüre.
Wenn man sich umschaut in der Welt, bewegt sich so einiges, ganz ohne Auto – auch wenn diese Verkehrswende aus Umwelt- und Klimasicht sicher viel zu langsam vorankommt.
Und in Stuttgart? In Stuttgart gilt das Auto immer noch als Synonym für Mobilität. Die Stadt verbarrikadiert sich im letzten Jahrhundert und hofft so, dem allgegenwärtigen Wandel zu entgehen. Die ganze Region hängt am Auto – laut IG Metall sind in Baden-Württemberg 470.000 Arbeitsplätze vom Auto abhängig. In Stuttgart, Baden-Württemberg und in Deutschland klammert man sich verbissen und energisch an die Mobilität namens Auto – weltweit ist Mobilität längst vom Gegenstand zur Dienstleistung geworden. Den größten Umsatz mit Autos macht nicht etwa VW oder sonst irgendein Autobauer; auch kein Zulieferer der Automobilindustrie, sondern ein Unternehmen, das selbst kein einziges Fahrzeug besitzt: Es ist der Mitfahr-Dienstleister Uber!
Das Lohn- und Preisdumping, das Unternehmen wie Uber, Ryanair oder Flixbus betreiben, hat mit Nachhaltigkeit auch nichts zu tun. Trotzdem kann man feststellen, dass es nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch sinnvoll ist, Mobilität als Dienstleistung zu begreifen.
Solange Innovation im Ländle grundsätzlich immer beim Motor eines Autos endet, wird sie nicht taugen, um die Arbeitsplätze der nächsten 20 Jahre zu sichern. Für die 25.000 €, die ein durchschnittlicher Neuwagen kostet, kann man auch ganz ohne Schnäppchen oder Sparpreis ziemlich oft mit dem Zug nach Berlin oder Paris fahren. Und schon heute kann man auf der Fahrt Zeitung lesen, schlafen, Kaffee trinken, man hat WLAN und manchmal sogar funktionierende Toiletten.
Viele Stuttgarter ebenso wie die ganze Region verdanken der Automobilindustrie ein überaus komfortables Einkommen. Da kann der Gedanke, dass die Welt und auch das Leben jedes einzelnen ohne Auto besser, komfortabler und billiger wäre, leicht Panik auslösen. Es hilft aber nicht, wenn wir in Stuttgart mit viel Beton dafür sorgen, dass das Bahnfahren so unattraktiv wie möglich wird. Hier vor Ort kann man alle möglichen Formen zukunftsträchtiger Mobilität blockieren; ein Bahnprojekt, das wie ein Dinosaurier auf der Kreuzung sitzt und allem und jedem im Weg ist, ist da bestens geeignet.
Aber das wird den Rest der Welt nicht davon abhalten, Mobilität neu zu denken. Menschen in Honkong oder San Francisco werden nicht weiter Autos kaufen, nur weil es in Stuttgart immer noch beschwerlich und gefährlich ist, sich ohne Auto fortzubewegen. Selbst in Deutschland wünschen sich laut Umfragen 90% der Menschen weniger Autoverkehr, immerhin 60% können sich Städte ganz ohne Autos vorstellen – nur unsere Politiker und Konzernchefs wollen sich das nicht vorstellen; ernsthafte Veränderungen machen Angst.
Unsere frisch gewählten Gemeinderäte, zusammen mit der grün-schwarzen Obrigkeit können es sich bequem machen, den Reichtum der Region vervespern, ganz so wie man es den Erben schon immer nachsagt. Wer es aber ernst meint mit dem Erhalt unserer Lebensgrundlagen ebenso wie mit dem Erhalt von Arbeitsplätzen, muss sich dringend verabschieden vom ‚Weiter so‘. Innovationen, die nur darauf zielen, den Status quo rund ums Auto zu erhalten, werden weder das Klima retten noch die Kunden von morgen begeistern – und erst recht nicht hunderttausende Arbeitsplätze sichern. Aus Klimasicht ist der Wandel in den Städten der Welt zu langsam, aber er findet statt – nur nicht in Stuttgart.
Wir haben ein gigantisches Startkapital im finanziellen Sinne und ebenso, was die Kompetenz und den Erfindungsreichtum der Menschen angeht. Wir können uns auch auf wirklich Neues einlassen, auf Mobilität, die ökologisch und ökonomisch sinnvoll sind. Wir können das Kapital einsetzen, um unsere Stadt zu einer funktionierenden Stadt zu machen; eine Stadt mit viel Platz für Bürger und deren Bedürfnisse; und eine Stadt, die den Konzernchefs ebenso wie den Ingenieuren als anschauliches Beispiel dient, wie man Zukunft positiv gestalten kann und was man dafür wirklich braucht.
‚Umstieg 21‘ wäre ein guter erster Schritt. Das würde Platz schaffen, auf den Straßen und in den Köpfen, für Ideen und Konzepte, die Menschen ans Ziel bringen ohne Stau, Dreck und Lärm zu hinterlassen. Ohne den Dinosaurier S21 haben wir Platz und finanziellen Spielraum für den S-Bahn-Ringschluss, für eine attraktive Panoramabahn, für mehr Busse und Bahnen in der Innenstadt, kurzum für einen öffentlichen Nahverkehr, der ausreichend Kapazität hat, um all die vielen Menschen, die hier täglich zur Arbeit pendeln, auch tatsächlich bequem und zuverlässig zu transportieren. Wir haben einen Bahnhof, der beste Voraussetzungen bietet für den integralen Taktfahrplan. Statt Baustellenslalom könnte man breite und sichere Radwege anlegen, so wie New York, Amsterdam und San Francisco es vormachen. Wie in Zürich könnten auch in Stuttgart Plätze zu Orten werden, an denen sich Menschen gerne aufhalten, nicht nur zum Demonstrieren…
Es ist an den Gemeinderäten und Bürgermeistern, die ökologisch und ökonomisch notwendige Verkehrswende auch in Stuttgart möglich zu machen – wir müssen sie daran erinnern, so oft es geht; das einfachste ist es, wenn jeder von uns das immer wieder schriftlich tut, direkt oder als Leserbrief an die Zeitung.
Oben bleiben!