In der letzten Zeit ist es ruhig geworden um Wolfgang Sternstein, der am 12. März 2019 seinen 80. Geburtstag begeht. Mehrmals stand Sternstein jedoch bei Montagsdemos auf der K21-Bühne, um vom Widerstand, vom Zivilen Ungehorsam und von seinem Prozess vor dem Landgericht im Jahr 2015 zu sprechen. Nach persönlichen Schicksalsschlägen hat er sich zurückgezogen, doch nach wie vor kommt er zu den Montagsdemos, als aufmerksamer Zuhörer.
Wir in der Anti-S21-Bewegung kennen Wolfgang Sternstein, den großen, ernst und doch gütig dreinblickenden, meist in schwarz gekleideten Mann mit weißem Bart nur als Aktivisten gegen das Bahnhofsprojekt S21. Doch Wolfgang Sternstein ist viel mehr! Er war Aktivist sein ganzes Leben, durch und durch. Seine große aktive Zeit war vor S21. Und wenn das Alter von 80 Jahren ihm nicht auftragen würde, nun kürzer zu treten, dann wäre er sicher auch im Hambacher Forst, bei Castor-Demos und vielen anderen Protestformen in vorderster Front.
Wolfgang Sternstein ist Friedensforscher und Friedensaktivist, er hat seit den 1970er Jahren an zahlreichen gewaltfreien Aktionen teilgenommen, er stand mehr als ein Dutzend Mal vor Gericht und war neunmal für sein Engagement im Gefängnis. Zwischen vier Tagen und einem halben Jahr Haft brachten ihm diverse Gerichtsverfahren aufgrund von Widerstandshandlungen ein; insgesamt verbrachte er 14 Monate in Gefängnissen. Aber es wäre nicht Sternstein, wenn er nicht sagen würde: „Verglichen mit dem, was amerikanische Pflugschärler auf sich genommen haben, ist dies nicht der Rede wert.“
(Anmerkung: Die Pflugscharbewegung ist eine Bewegung von FriedensaktivistInnen in den USA und in Europa, die aus einem Kreis friedenspolitisch engagierter katholischer Priester und Nonnen entstand und der auch Wolfgang Sternstein angehört.)
Als Konfliktforscher war er in den 1970er Jahren Mitarbeiter der Berghof-Stiftung für Konfliktforschung und in den 1980er Jahren im Vorstand beim Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz e. V. (BBU, heute BUND). Schon allein diese kurzen Informationen zeigen, mit welchen Themen und wie intensiv Sternstein sich um die Zukunft der Menschheit gekümmert hat. Seine Friedensliebe und die Sorge um die Zukunft der Menschheit bezog er aus dem Leben und Wirken und den Schriften seines geistigen „Ziehvaters“ Mahatma Gandhi. Dessen Lehren verarbeitete er über die Jahre in seinen Büchern „Mahatma Gandhi. Die Lehre vom Schwert und andere Aufsätze“, „Gandhi. Ausgewählte Werke in fünf Bänden“ und „Mahatma Gandhi – Der Weg der Wahrheit“.
Seine Beschäftigung mit der Religion mündete in die Bücher „Gandhi und Jesus – Das Ende des Fundamentalismus“ und „Bibelkritik – Brauchen wir eine zweite Reformation?“ . Passend zu seinem politischen und gesellschaftlichen Engagement schrieb er die Werke „Marx-Lenin-Mao. Darstellung und Kritik der marxistischen Gesellschaftsanalyse“, - „Pershings zu Pflugscharen. Dokumente einer Abrüstungsaktion“ und „Überall ist Whyl. Bürgerinitiativen gegen Atomanlagen“.
Seine größte Sorge galt dem Umgang mit der Atomenergie. Die Bedrohung der Menschheit durch Atomkraft und damit ihre Auslöschung betraf über Jahrzehnte sein innerstes Anliegen, als Aktivist sowie als Publizist. Sein Platz war - lange vor dem Widerstand gegen S21 – in der Anti-Atomkraftbewegung, die er als eine der erfolgreichsten sozialen Bewegungen der jüngeren Geschichte Deutschlands ansieht. Einige der heutigen Anti-S21-AktivistInnen kennen ihn noch aus dieser aufregenden Zeit; sie hatten Seite an Seite mit ihm für den Ausstieg aus der Atomkraft gekämpft. Dieses jahrzehntelange hartnäckige Engagement ist nachzulesen in seinem faszinierenden Buch „Atomkraft – nein danke – der lange Weg zum Ausstieg“, in dem Sternstein eine Analyse der Bürgerbewegungen von Wyhl bis Gorleben vorlegt. Er beschreibt darin auch Methoden und Strategien gewaltfreier Aktionen, was für LeserInnen, die über den reinen „Demo-Tellerrand“ hinausblicken wollen und die sich mit dem Erfolg und Misserfolg von sozialen Bewegungen beschäftigen, eine absolut lesenswerte Lektüre ist.
Sein Vermächtnis, sein Appell an alle, die sich um die Menschheit sorgen, ist sein 2017 herausgekommenes Buch „Endzeit – Hoffnung und Widerstand im Atomzeitalter“. Dazu schreibt er: „Es gibt viele wichtige Fragen, aber nur eine, deren Bedeutung alle anderen weit überragt: Es ist die Frage, ob die Menschheit im Atomzeitalter überleben wird.“ Seine in dem Buch dargestellten Analysen gehen weit über den Konflikt Atomkraft hinaus, denn er schreibt all das auf, was ihm Zeit seines Lebens die dringendsten Themen waren: Krisenherde, Friedensbewegung mit ihren Aktionsformen, Völkerrecht, kapitalistische und kommunistische Ideologie, Christentum, Gandhi und Alternativen zur militärischen Verteidigung, um nur einige Aspekte zu nennen. Sein Fazit ist vernichtend: „Die Menschheit, das ist meine Diagnose, ist todkrank. Es geht mit Riesenschritten dem Untergang entgegen. … Im Unterschied zu früheren Generationen haben wir die Welt erforscht … und wir erweisen uns doch als unfähig, Konflikte auf allen Ebenen unseres Zusammenlebens anders als durch Gewalt zu lösen, das heißt, sie nicht zu lösen, sondern zu verschärfen und zu vermehren. Wer vermag dieses Rätsel zu lösen?“
Was wird Sternstein zu der Ende 2018 entstandenen Bewegung „Fridays for Future“ sagen? Auch die jungen Menschen dieser Bewegung sehen klar, dass die Menschheit mit Riesenschritten dem Untergang entgegengeht, dass die Zukunft massiv, wenn nicht tödlich bedroht ist. Ihr Ansatzpunkt ist der Klimawandel, doch der Aufschrei ist ähnlich. Steht auch diese Bewegung in der Gefahr, instrumentalisiert und in „richtige“ Bahnen umgeleitet zu werden, nach dem Motto „Umarme deine Feinde“?
Im Titel des oben erwähnten Buches steht das Wort „Hoffnung“. Und am Ende des Buches schreibt Sternstein: „Wir hatten die Wahl, und wir haben den falschen Weg gewählt. Aber das heißt nicht, dass nicht jede und jeder von uns die Freiheit hat, von nun an den richtigen Weg zu wählen.“ Also doch noch Hoffnung am Rande des Abgrunds? Sind die jungen Leute von "Fridays for Future" die HoffnungsträgerInnen? Halten sie durch? Wer hört auf sie? Diskutiert wird immer wieder, ob es rechtens sei, die Schule zu schwänzen, da sie doch eine Schulpflicht haben. Da wäre nun Sternstein der richtige Wegbegleiter, der ihnen von der Kraft des Zivilen Ungehorsams erzählen könnte und davon, dass man für eine höhere Sache auch Strafen und Ungemach in Kauf nehmen müsse. Denn genau das war Sternsteins lebenslanges Thema, wenn es um die Aktionsform ging, mit der die Ziele erreicht werden könnten: der Zivile Ungehorsam.
Einfache Demos waren Sternstein nicht genug; es mussten sichtbare, wirkungsvolle Aktionen sein, auf jeden Fall gewaltfrei, wenn es um Menschen ging. Doch "Gewalt gegen Sachen" war für ihn denkbar als eine symbolische Form von Widerstand. So beteiligte er sich z.B. an der „Abrüstung“ mittels Zerschlagung von Teilen einer Pershing II-Zugmaschine, was als Sachbeschädigung geahndet wurde. Nötigung von Fahrzeuglenkern, Blockaden, Platzbesetzungen und Sachbeschädigung von militärischem Gerät – all das setzte Sternstein für das Überleben der Menschen (und somit gegen Atomkraft und Aufrüstung) ein, auch wenn er dafür – nach der damals und bis heute gängigen Rechtsprechung - bestraft wurde.
Wolfgang Sternstein war der stets zu Diskussionen bereite Protagonist von Zivilem Ungehorsam, und die Anti-S21-Bewegung hat viel mit ihm im kleinen und großen Kreis debattiert, hat sich an seinen Thesenpapieren die Köpfe heiß geredet, hat auch von ihm gelernt. Viele Abende der Theorie und Diskussion gab es in den Jahren ab 2010; er war Mitglied der sogenannten „Blockadegruppe“, der er mit seinen Statements und Schriften viel Futter zur – oftmals auch kontroversen – Diskussion lieferte.
Sternstein fühlte sich oft missverstanden, was die innere Haltung zu einer Strafe wegen Zivilen Ungehorsams anging, denn dass BlockiererInnen und PlatzbesetzerInnen bestraft wurden und werden, war und ist die Regel. Sternstein ließ sich zwar bei Blockaden von der Polizei geduldig abführen (und diskutierte dabei lächelnd und überaus liebevoll mit den BeamtInnen), aber er hat nicht jedes Urteil widerspruchslos hingenommen. Er hat stets Widerspruch eingelegt. Nach seiner Auffassung gehört zum Zivilen Ungehorsam, dass man zwar die Strafe hinzunehmen bereit ist, aber nicht bedingungslos, sondern nur dann, wenn für die Bestrafung der Tat auch eine ausreichende Rechtsgrundlage vorhanden ist.
Da er - im Falle von S21 - bei seinen sieben Sitzblockaden, die er in den Jahren 2010 und 2011 am Nordflügel und am Grundwassermanagement mitgemacht hatte, diese Rechtsgrundlage zur Verurteilung nicht erkannte, hat er gegen eine Strafe durch das Amtsgericht Widerspruch eingelegt. Unvergessen bei seinem darauf folgenden Prozess am Landgericht ist, wie er den Richter geradezu aufforderte: "Verurteilen Sie mich!", mit dem Ziel, dann das Verfahren in eine höhere Instanz bringen zu können. Es ging dabei um die Verwerflichkeit von "Nötigungen", die in der Regel in Stuttgarter Gerichten als gegeben vorausgesetzt wird. Der Richter am Landgericht jedoch setzte sich ausgiebig mit Sternsteins Motivationen auseinander und kam zu der Überzeugung, dass diese sieben Blockaden als nicht verwerflich anzusehen seien. Was einen Freispruch zur Folge hatte.
Sternstein beschäftigte sich intensiv und oftmals verzweifelt mit der Frage, warum der Stuttgarter Widerstand gegen S21 nicht erfolgreicher gewesen ist. In seinen Analysen - die er in den Jahren 2011 und 2012 mit erschreckender Klarsicht verfasste, und die bis heute lesens- und diskussionswert sind -, legte Sternstein immer wieder seinen Ansatz des gewaltfreien Widerstands dar. Dabei heißt für ihn „Gewaltfreiheit“ nicht, Gummibärchen zu verteilen, zu schlichten, abzustimmen, kritisch zu begleiten, zu akzeptieren, zu respektieren, durch Verfahren legitimieren … nein, er schreibt: „Ziviler Ungehorsam bedeutet massenhafte Regelverletzung, allerdings mit allen existenziellen Konsequenzen.“ Sein Fazit: „ Von dieser Konsequenz war unser bürgerlicher Widerstand immer meilenweit entfernt – und entsprechend zahnlos.“
Wolfgang Sternstein ist diesen konsequenten Weg des Widerstands in seinem Leben bis an die Schmerzgrenze gegangen; nur wenige waren und sind bereit und in der Lage, dies genauso umzusetzen. Er stand stets für die Prinzipien des Friedens ein, mit dem Ziel, die Welt ein Stück sicherer und menschlicher zu machen. War ihm dies alles in die Wiege gelegt? Bestimmt nicht. Es wäre vermessen, Wolfgang Sternsteins Biografie in Kurzform erzählen zu wollen. Sein Leben, das in einem extrem gewalttätigen Elternhaus begann, seine Flucht aus der häuslichen Gewalt, seine geistige Entwicklung in den Studienjahren, die Erlangung des Doktortitels, seine Kriegsdienstverweigerung, die Jahrzehnte in den oben erwähnten Widerstandsgruppen, aber auch seine glücklichen Jahre, eingeschlossen seine private Entwicklung, die Kristallisierung seiner Weltsicht, seiner Prinzipien, seiner Philosophie – all das ist in seiner knapp 500 Seiten umfassenden Autobiografie unter dem Titel „Mein Weg zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit“ packend nachzulesen.
Erfolge und Niederlagen, Enttäuschungen und Freude an der Schöpfung und mit den eigenen Kindern und Enkeln – trifft das nicht auf fast jedes Leben von 80 Jahren zu, sind das nicht Floskeln? Was Sternstein autobiografisch schildert, ist mehr. Am Ende seines Buches, als Fazit seines Lebens, kommt wieder seine Skepsis zum Ausdruck, ja, sein Eingeständnis, dass all sein Bemühen und das seiner WegbegleiterInnen gescheitert ist, da sie für das Ziel der atomaren Abrüstung und für das Ende der Kernkraft gekämpft hatten. Sternstein fragt auf der letzten Seite seine Autobiografie: „Sind, vom absehbaren Ende her betrachtet, damit nicht alle unsere Bemühungen um Demokratie, Menschenrechte, Frieden und Schöpfungserhalt vergeblich? Man kann es so sehen. Ich aber sehe es nicht so, denn für mich trägt jede Anstrengung auf diesen Gebieten ihren Sinn und ihren Lohn in sich selbst, unabhängig vom Erfolg oder Scheitern. Auch möchte ich zu guter Letzt meinen Glauben bekennen: Nichts, was Gutes in der Welt geschieht, ist verloren, aber alles, was Böses in ihr geschieht, ist verloren.“
Für diese „Bemühungen“, die sein ganzes Leben bestimmt haben, die viele Menschen inspiriert, gestärkt und mitgerissen haben, darf er bewundert und geehrt werden. Vielen Menschen war - und ist - er ein Vorbild, mit vielen hat er im Widerstand gegen Unrecht gekämpft. Dafür sei Wolfgang Sternstein gedankt, verbunden mit einem herzlichen Glückwunsch zum 80. Geburtstag!
(Text: Petra Brixel; Foto: Wolfgang Rüter)
Dir, liebe Petra, ganz herzlichen Dank für das am Fukushima-Tag veröffentlichte, ausführliche Lebensbild von Wolfgang Sternstein! Vor bald 40 Jahren habe ich ihn schon kennen- und schätzen gelernt, als ich noch in Stuttgart lebte: Schweigen für den Frieden auf dem Schlossplatz, Menschenkette Stuttgart-Ulm, Mutlangen (unser Mut wird langen!),und Sternmarsch auf Bonn mit Kundgebung im Hofgarten… Dir, lieber Wolfgang, alles Gute zu Deinem Ehrentag von Dagmar!
Zum Thema und Begriff „Pflugschärler“, die Wolfgang Sternstein in seinem Zitat erwähnt, ist hier eine kurze Erklärung des später zu hoher Strafe verurteilten Phil Berrigan/USA aus dem Jahr 1985:
„Die Absicht der Pflugschärler (…) ist Abrüstung – Abrüstung der eigenen Person und der imperialen Todesmaschine. In Anbetracht des gigantischen Umfangs der atomaren und konventionellen Waffen ist ihre Abrüstung symbolisch (symbolisch und zugleich real, die Beschädigung und Zerstörung geht in die Millionen). Doch unermeßlich viel wichtiger als größtmögliche Zerstörung ist die Vermittlung des Imperativs: Wir müssen abrüsten, oder wir werden sterben. Offensichtlich können die Menschen mit diesen höllischen Waffen nicht koexistieren. Wir zerstören sie, oder sie zerstören uns. Letztlich muß jeder für die Gerechtigkeit einer abgerüsteten Welt arbeiten.
Die Pflugschärler verkörpern diesen Imperativ durch öffentliche Selbstlosigkeit, durch Gebet und durch das Wagnis ihres Lebens und ihrer Freiheit. Sie befreien buchstäblich das Wort Gottes – das Wort, das in Jesus zum entwaffneten Menschen wurde. (…)
Darum, laßt uns täglich um drei Dinge bitten: um Gottes Gnade, um Pflichtbewußtsein gegenüber den fünf Milliarden Atomgeiseln und um 15, 50, 150 Pflugschar-Aktionen.“
Danke Dir Wolfgang für Deine Inspiration zur Anwendung in meinem BVerfG-Verfahren.
Die Zustimmung von Dir, Deine E-Mail vom 20.12.2016 verwenden zu dürfen, hat ganz hervorragend zu meinem FAX am 22.12.2016 gepasst – Deine Antwort: „… ich schicke dir mit dieser Mail einen längeren Auszug aus meinem Buch,…“
MediaCenter https://c.gmx.net/@334629611663006158/zYlYZgVKRtieUTvv9zIK2w/401319199030384601
„2016.12.22 Do. 18.40 EP Fax an BVerfG Begründung Teil_3.1 zu eA AR 7795-16_S.pdf“
Original-Auszug aus E-Mail Mittwoch 20.12. PDF-Datei Seite 2:
„Die Gruppe rechnete mit einer mehrjährigen Haftstrafe für die Aktion, zumal die amerikanischen Pflugschar-Gruppen für solche Aktionen bis zu zehn Jahren in den Knast wanderten. Die Richter am Landgericht Stuttgart fanden jedoch, dass die symbolische Abrüstungsaktion in Schwäbisch Gmünd mit einer symbolischen Strafe geahndet werden sollte. …“