Liebe S21-Gegner/-innen,
„Es geht los“. Diese SMS-Nachricht erhielt ich am 30. September 2010, bei Theater-Proben am Wilhelma-Theater in Stuttgart: Wir wussten alle, was das zu bedeuten hatte. Wir machten uns sofort auf den Weg in den Schlosspark.
Die Bilder dieses bitteren Tages werde ich nicht vergessen und sie machen mich immer noch wütend. Als wir in den Park kamen, waren schon Hunderte da und wir wurden immer mehr. Darunter viele Schüler/-innen. Auf einmal wurde der friedliche Protest gegen S21 von der Polizei brutal niedergemacht, mit Wasserwerfern, Schlagstöcken und Pfefferspray.
Augen- und Hautreizungen, Prellungen, Platzwunden, vorübergehende Erblindung und Schlimmeres – das waren die schrecklichen Bilder! Zahlreiche Leute wurden teils schwer verletzt, sie wurden von freiwilligen Ersthelfer/-innen notdürftig versorgt. Bis morgens um sechs Uhr war ich im Park. An den Wind der fallenden Bäume in meinem Gesicht kann ich mich noch gut erinnern.
Der Schwarze Donnerstag war ein Wendepunkt – ein Wendepunkt der Bewegung, aber auch ein politischer Wendepunkt: Viele Stuttgarter/-innen haben ihn zum ersten Mal gesehen: den Polizeistaat, wie er sein kann, mit all seinen Einschränkungen, mit seiner Gnadenlosigkeit, mit seiner Verfolgung friedlich Protestierender.
Jahre später, 2015, stellt das Verwaltungsgericht in Stuttgart fest: Die Gewalt und Brutalität, mit der Polizist(inn)en dort gegen Schüler/-innen, Rentner/-innen und andere friedliche Demonstrant(inn)en vorgegangen waren, war rechtswidrig. Die Pfefferspray-Angriffe waren unrechtmäßig!
Geändert hat das nichts, im Gegenteil: brutale Polizeieinsätze sind für Regierende noch weiter zum legitimen Mittel geworden, um friedliche Proteste niederzuknüppeln.
Sehr deutlich wird das z. B. an dem Einsatz von Pfefferspray. Seit den Ereignissen im Stuttgarter Schlossgarten werten wir die Verwendung von Pfefferspray bei der Polizei aus. Seit 2010 hat sich die eingesetzte Menge von Pfefferspray mehr als verdoppelt. Demonstrierende können bequem weggesprüht werden, wie lästige Insekten. Was der Polizei offenbar egal ist: Pfefferspray ist extrem gesundheitsschädlich.
Betroffene von Pfeffersprayattacken müssten eigentlich sofort ärztlich untersucht werden. Doch wie soll das gehen, auf einer Großdemo? Bei Menschen mit Asthma oder in Verbindung mit Medikamenten oder Drogen kann der Einsatz von Pfefferspray zum Tode führen. Jedes Jahr kommt es zu Todesfällen.
Braucht man jetzt schon ein Gesundheitszeugnis, um an Demos teilzunehmen? Das ist doch irre! Deshalb kämpfe ich im Bundestag für ein Verbot von Pfefferspray bei Polizeieinsätzen.
Doch die Polizei rüstet weiter auf. Das zeigen auch die neuen „Polizeiaufgabengesetze“ in den Bundesländern: Zahlreiche polizeiliche Befugnisse werden ausgeweitet, die Eingriffsschwelle deutlich abgesenkt. Das Ziel: Einschränkung von friedlichen Protesten.
Das stellt einen massiven Eingriff in unsere Grundrechte dar! Aber sie haben die Rechnung ohne die eigenen Bürger/-innen gemacht: Zehntausende Menschen sind auf den Straßen in Niedersachsen, in Nordrhein-Westfahlen, in Bayern und sagen „Nicht mit uns!“ Wir lassen uns nicht von der Straße verdrängen!
Denn: Demokratiebewegungen wie gegen S21 sind unverzichtbar. Ein Tag nach der Gewalt im Stuttgarter Schlossgarten waren wir 100.000! Seit einem ganzen Jahrzehnt bringt die Protestbewegung gegen S21 die Menschen auf die Straße, gegen eine Politik der Machtinteressen, falscher Behauptungen, verdrehter Inhalte und ignorierter Fakten. Landesregierung, Bundesregierung und der Bahnkonzern, alle Beteiligten dieses schwachsinnigen Bahnprojekts täuschen und lügen – damals wie heute – bis sich die Balken biegen. Und das, obwohl durch beharrliche Aufarbeitung und unermüdlichen Protest engagierter Bürger/-innen klar ist: die Weiterführung dieses im wahrsten Sinne des Wortes unterirdischen Projekts macht keinen Sinn und verbrennt Milliarden Euro. Schluss damit!
S21 ist das Paradebeispiel für eine politische Kultur der Ignoranz. Es ist der Ausdruck für eine verkommene Stadtpolitik. Gegen die Menschen und nur für Profite. Shoppingmalls und absurde Immobilienprojekte sind wichtiger als bezahlbare Mieten. Wer nur ein Jahr im Bundestag sitzt, der lernt das schnell.
Den vorläufigen Höhepunkt des absurden S21-Projektes offenbarte sich im Juni dieses Jahres bei der Anhörung des Verkehrsausschusses im Bundestag. Eine endlose Liste von Defiziten und Mängeln des Vorhabens wurde aufgezählt und von den Verantwortlichen bestätigt. Das gesamte Projekt infrage gestellt.
Trotzdem wurde die Fortführung von S21 für alternativlos und zwangsläufig erklärt. So wird Politik gegen die Menschen gemacht. Ob Grüne, SPD, CDU oder die Verantwortlichen der Bahn: Alle sind sich darüber einig, dass ein unwirtschaftliches, unvernünftiges und unsinniges Projekt weitergeführt werden soll.
Wir erleben in Reinform, was Frau Merkel mal als „marktkonforme Demokratie“ bezeichnet hat. Damals, mit dem Fällen von Bäumen im Stuttgarter Schlossgarten, heute im Hambacher Wald. Dort werden in diesem Moment Baumhäuser geräumt und die Rodung vorbereitet. Seit Jahren machen sich Baumschützer/-innen gegen den Braunkohle- und Klimawahnsinn stark. Jetzt werden sie mit dem größten Polizeiaufgebot in der Geschichte Nordrhein-Westfalens brutal abgeräumt. Weil es der Energiekonzern RWE so will.
Ich war letzte Woche im Hambacher Forst und habe beobachtet, wie brutal die Staatsmacht mit einem riesigen Aufgebot an Personal und Material die Waldbesetzung zunichtemacht, ohne Rücksicht auf Verluste. Das Vorgehen ist völlig unverhältnismäßig.
Nicht nur einmal habe ich vor Ort an den Schwarzen Donnerstag denken müssen.
Durch Panikmache und falsche Behauptungen von Presse und Polizei, die die Medien dankend aufgreifen, wurden in Stuttgart Kastanien zu Pflastersteinen, im Hambacher Wald wurden Wasserflaschen zu Molotow-Cocktails. Es wird ein unterirdisches Tunnelsystem herbeigedichtet, dass von der Rigaer Straße in Berlin bis zu den Bergen Kurdistans der PKK reicht.
Dadurch wird Brutalität und Gewalt der Polizei legitimiert, um den berechtigten Widerstand gegen die Rodung des uralten Hambacher Forstes in Misskredit zu bringen. Oder, um es wie Herbert Marcuse zu sagen: Wenn der Kapitalismus sich sicher fühlt, zeigt er sich liberaldemokratisch. Und wenn er in Bedrängnis gerät, zeigt er sein faschistisches Gesicht!
Doch die Proteste mutiger Umweltschützer/-innen im Hambi gehen weiter. Genauso wie die unermüdlichen Proteste der S21-Gegner/-innen, die sich nicht kleinkriegen lassen. Nach vielen Jahren des Protests kämpfen wir weiter, mit Argumenten, Fakten, Zahlen und Beweisen. Die S21-Proteste sind ein echtes Positivbeispiel dafür, wie eine Protestbewegung eine Stadt verändern kann!
Durch diese Bewegung ist so viel entstanden und ins Rollen geraten. Diese Proteste haben Bewegung in die Stadt gebracht!
Das absurde S21-Projekt steht dafür, was in dieser Gesellschaft insgesamt schiefläuft. Hier geht es nicht nur um ein Bau- und Immobilienprojekt, sondern auch um einen zunehmend autoritären Staat. Zunehmend offen und gewaltsam werden die Interessen Weniger auf dem Rücken der Vielen ausgetragen.
Dass der Protest immer noch weiter lebt, trotz der andauernden Kriminalisierung, trotz den Eskalationsversuchen, das ist eine enorme Leistung.
Überall dort wo progressive Bewegungen entstehen, müssen wir versuchen, sie zu vernetzen! Auch das gelingt in Stuttgart seit einigen Jahren. Egal ob Seebrücke, Welcome united, #unteilbar oder heute die Proteste in Köln gegen den Despoten Erdogan. Sie alle eint der Kampf für eine demokratische, solidarische Gesellschaft.
Wir als LINKE fordern den sofortigen Stopp von S21! Außerdem fordern wir die Offenlegung aller Gutachten und die Umsetzung des alternativen Konzepts ‚Umstieg21‘. Wir unterstützen weiterhin aktiv das Aktionsbündnis gegen S21 und machen uns stark für eine solidarische Gesellschaft.
In diesem Sinne oben bleiben!