Schönen guten Tag, werte Protestgemeinde, heute mache ich hier mal den Grüß-Gott-August vor den kläglichen Resten des Hauptbahnhofs.
Das Motto unserer Sommerkundgebung lautet: „Wut, Witz, Widerstand“. Und dieser Stabreim fasst gleich so viel Emotionalität und Tatkraft zusammen, dass ich gar nicht weiß, ob ich jetzt lärmen oder lachen oder ans Bahnhofswrack die letzte Lunte legen soll.
Bekanntlich sind für Begrüßungsworte, also für Floskeln und Phrasen, eher Populisten wie Cem Özdemir zuständig. Der hat es mit seiner Taktik, immer das zu sagen, was gerade ankommt, auf der Beliebtheitsskala deutscher Politiker nach ganz oben geschafft. Lustig anzusehen ist dabei seine wilde, vor dem Spiegel trainierte Gestik, die immer so wirkt, als müsse er in einer Kinoklamotte den empörten Lehrer geben: eine Mischung aus Wut- und Witzfigur. Der große Komiker Bela Rethy würde sagen: Er hat die Körpersprache des Siegers.
Keine vier Wochen her, da hat uns Özdemir im Fall Stuttgart 21 folgenden Satz ins Poesiealbum populistischer Geschwätzigkeit geschrieben. Ich zitiere: „Es würde den Projekttreibern von damals gut zu Gesicht stehen, wenn von ihnen jetzt ein mea culpa käme. Die Kritiker hatten bisher in fast allen Punkten recht.“
Der Begriff mea culpa, verehrte Oberlehrerkonferenz, ist eine durch und durch katholische Angelegenheit, allerdings auch eine Redewendung, die gern ironisch gebraucht wird. Etwa so: Man zerstört in voller Absicht große Teile einer Stadt, kassiert dabei für Immobilienwerte Milliarden und sagt hinterher: Liebe Bürgerinnen und Bürger, kann mal passieren. Mea culpa: Nix für ungut, ich bekenne mich schuldig, ich bin ein Höllenhund, aber meine Geschäfte laufen himmlisch. Dann kommen Gesinnungsheuchler wie Herr Özdemir und sagen: Okay, meine lieben Freunde aus der Politik, liebe Immobilienhaie und alle anderen korrupten sogenannten Leistungsträger: Ihr habt eure Sünden gebeichtet. Aber zum Aufhören ist es – zum Glück – schon zu spät. Ihr könnt also lustig so weitermachen wie bisher.
Werte Freundinnen und Freunde: Die Wortwahl des Herrn Özdemir, der mir mit seinem nationalistischen Fußballfan-Getue eigentlich ziemlich wurscht ist, sagt uns exemplarisch etwas über die Propaganda der Politik. Als er endlich bemerkt hat, dass der Murks und die Verlogenheit im Fall Stuttgart 21 auch noch den letzten halbwegs vernünftigen Menschen stutzig machen, täuschte er kritisches Bewusstsein vor.
Statt klar zu sagen, was Sache ist, statt Ross und Reiter zu nennen, folgt dann schwammige Fremdwort-Rhetorik: Erst benutzt er, um niemandem wehzutun, die lateinische Floskel „mea culpa“. Gleichzeitig verlautbart er wichtigtuerisch auf Englisch, bei S21 sei der „Point of no return“ erreicht. Zu Deutsch: Es darf auf keinen Fall einen Baustopp geben. Stuttgart 21 muss durchgeprügelt werden. Ganz egal, wer darunter leidet. Hauptsache, bei diesen dreckigen Geschäften werden die Profite nicht gestört. Darum geht es bei diesem Punkt ohne Wiederkehr.
Aufschlussreich finde ich auch das zitierte Wort „Projekt-Treiber“: Ja, meine Damen und Herren, die Nutznießer des Großprojekts denken, sie könnten mit uns treiben, was sie wollen. Und nach Lust und Laune treiben sie die Politiker, ihre Lobbyisten, zu weiteren Schandtaten an. Ist ihr Geschäft dann aufgegangen oder auch nicht, wird zügig eine andere Sau durchs Dorf getrieben – und der Skandal totgeschwiegen.
Denn darauf, liebe Freundinnen und Freunde, haben sie immer gesetzt: Je länger gebuddelt und gemurkst wird, je mehr Milliarden dieses Projekttreiber-Verbrechen verschlingt, desto geringer wird der Widerstand. Genau deshalb ist es wichtig, dass wir weiter protestieren, um die Schweinereien aufzudecken. Sinn und Zweck von Protest wird ja niemals durch geringe Aussicht auf Erfolg in Frage gestellt. In Frage stellen wir uns erst, wenn wir unsere Haltung aufgeben. Und die Courage verlieren.
Wenn ein Grüner heute von den Verantwortlichen von damals mea culpa fordert, dann sollte er sich erst mal an die eigene Nase fassen: Zu den Projekttreibern gehört auch ein Ministerpräsident, der fortwährend seine mit falschen Zahlen manipulierte Volksabstimmung als Rechtfertigung für das Stuttgart-21-Desaster herunterleiert! Kretschmanns Fingerzeig auf den sogenannten Volkswillen passt prima zum Mea-culpa-Geschwafel seines Kollegen.
Wut, Witz und Widerstand – liebe Freundinnen und Freunde. Mir gefällt der Begriff „Wutbürger“ überhaupt nicht. Ein „Spiegel“-Autor hat einst das üble Wort erfunden, um den Protest als Laune der Saturierten zu verunglimpfen. Der aus historischen Gründen bei uns nicht unproblematische Begriff Widerstand dagegen wird mir sympathisch, wenn er einen gewissen Witz mit einschließt. Und dafür braucht man nicht immer die Komiker: Bei uns funktioniert auch bestens die politische Realsatire. Ich sage Ihnen gleich, warum.
Beim Blick auf das Immobiliengeschäft Stuttgart 21 müssen wir auch den Mietenwahnsinn und die eklatante Wohnungsnot in der Stadt und Umgebung im Auge behalten. Fehlender Wohnraum und heillos überteuerte Mieten gehen einher mit Neid und Missgunst – und fördern damit das brandgefährliche Sündenbock-Denken. Hier liegt mit die Ursache für Rassismus und bedrohlichen Rechtsruck, dem eine demokratische Bewegung entgegentreten muss. Gerade jetzt, da immer mehr Menschen auf der Flucht ertrinken – und man hemmungslos wieder von Lagern redet. Deshalb: Wer gegen Menschen fremder Herkunft, wer für Ausgrenzung ist, hat in einem demokratischen Bündnis wie unserem gegen Stuttgart 21 nichts zu suchen.
Und jetzt zur Realsatire: Geradezu lachhaft absurd ist es, wenn mitten in der Wohnungsnot in Stuttgart der sogenannte Immobilien-Dialog mit dem offiziellen Motto abgehalten wird: „Think big – think schwäbisch“. Dieses Kungeltreffen von Bauwirtschaft und Politik fand am vergangenen Montag im Rathaus statt – einige von Euch waren dankenswerterweise beim Protest des Aktionsbündnisses ‚Recht auf Wohnen‘ dabei.
Der Ungeist hinter der peinlichen Provinzparole „Think big – think schwäbisch“ hat bei uns so großartigen Schwachsinn wie das Betrügerprojekt Trump-Tower oder die Blamage bei der Olympia-Bewerbung für 2012 hervorgebracht – Herr Schuster lässt schön grüßen. Unberührt aber von allen Pleiten und Pannen in dieser Stadt zeigt der Ankündigungstext des Immobilien-Dialogs die Großmannssucht der Kleingeister. Stuttgarts Maulwürfe mit Bauhelm lassen sich in der Eigenwerbung als weltweite „Vordenker“ in Sachen „Stadtstruktur und Baukultur“ feiern. Das sind exakt jene schwäbischen Superhirne, die auch Stuttgart 21 ausgebrütet haben. Mit ihrer Art bestechender Stadtstruktur und Baukultur schrieben sie in der Geschichte der Psychiatrie ein weltweit einzigartiges Kapitel auf dem Gebiet des Größenwahnsinns.
Doch auch von diesem Desaster lassen sich unsere Großhirne nicht zur Einsicht bewegen. Zurzeit brüten OB und Stadträte den Bau einer Philharmonie aus – eine Ersatz-Oper, die laut dem CDU-Chef im Gemeinderat „europaweit als Magnet“ wirken soll. Als Vorbild dient in üblicher schwäbischer Bescheidenheit – die Elbphilharmonie. Meine Damen und Herren, Sie kennen den kleinen Unterschied zwischen der Metropole an der Elbe und dem Kessel am Nesenbach: Hamburg ist eine Hansestadt. Stuttgart eine Hanselstadt.
Liebe Freundinnen und Freunde, Stuttgart 21 ist eine Ausgeburt dieses großkotzigen, komplexbeladenen „Think big“-Denkens. Wir wären doch schon froh, würden unsere selbsternannten Vordenker nicht big und nicht schwäbisch, sondern überhaupt mal denken – und zwar an die Menschen in dieser Stadt.
In diesem Sinne: Weitermachen – mit Witz, Wut und Widerborstigkeit! - Vielen Dank.