Rede von Karlheinz Rößler, Verkehrsexperte, auf der 376. Montagsdemo am 10.7.2017
Stuttgart 21 heizt das Klima an!
Liebe Freundinnen und Freunde des Stuttgarter Kopfbahnhofs und einer menschenfreundlichen Eisenbahn für Stuttgart!
Im Dezember 2017 werden zwei Jahre vergangen sein, seit fast alle Staaten der Erde – außer Nicaragua und Syrien – das Klimaschutzabkommen von Paris vereinbarten: allenfalls zwei Grad Temperaturerhöhung sind noch tolerierbar, um eine gigantische Katastrophe zu verhindern.
Stattdessen droht die Rolle rückwärts. Nachdem Trump in einem Wahnsinnsakt aus dem Klimaschutz ausgestiegen ist, muss es umso mehr darauf angekommen, die Bemühungen der anderen, vor allem Deutschlands zu erhöhen. Die hier notwendige Radikalität vermissen wir bei der Bundesregierung und vor allem bei denen, die Klimaschutz für ihre Kernkompetenz halten und die in Stadt und Land das Sagen haben. Schlimmer noch: Projekte, die sozusagen nachhaltig die Klimabelastung noch verschärfen, werden ungeniert, man kann fast sagen skrupellos, fortgeführt.
Und damit bin ich bei S21. Hier geht es natürlich um die mit S21 verbundene Verkehrsverlagerung auf die Straße, aber auch um zwei weitere Klimasünden, nämlich die Erzeugung von Beton und die Produktion von Stahl. Beides sind die Hauptbestandteile von Tunnels und Tunnelbahnhöfen, aber auch von Brücken und von fast allen Gebäuden.
Im Frühjahr beauftragte mich das Aktionsbündnis damit, in einer grundlegenden Studie die Treibhausgas-Mengen zu ermitteln, die durch Stuttgart 21 anfallen werden. Auch die Fraktionsgemeinschaft SÖS-LINKE-PluS hat einen Zuschuss zugesagt. Diese Arbeit ist noch nicht ganz abgeschlossen. An dieser Stelle möchte ich ganz besonders Herrn Heydemann von den Ingenieuren22 danken, der mich mit seinem hervorragenden Fachwissen großartig unterstützt.
Ein erstes Zwischenergebnis kann ich Ihnen heute schon mitteilen: Der Bau von S21 verursacht rund zwei Millionen Tonnen an Treibhausgas, vor allem Kohlendioxid, aber auch Stickoxide und Methan. Die Hauptursache für diesen Treibhausgas-Ausstoß sind die beton- und stahlintensiven Tunnels, die eine Gesamtlänge von gut 60 km haben, wenn man auch die neuen Stadtbahntunnels unter der Heilbronner Straße und bei der Staatsgalerie berücksichtigt.
Zwei Millionen Tonnen Treibhausgas – das ist eine abstrakte Größe, unter der sich vermutlich kaum jemand etwas Konkretes vorstellen kann. Sie alle kennen den ICE der ersten Generation, der seit fast 30 Jahren im Stuttgarter Hauptbahnhof ankommt und abfährt. Ein solcher Zug hat eine Masse von knapp 800 Tonnen. Nun stellen Sie sich vor, von diesem Zug wären nicht nur 60 Stück, sondern 2.500 Exemplare gebaut worden. Dies wäre dann in der Summe dieselbe Masse wie zwei Millionen Tonnen Treibhausgas, die beim Bau von Stuttgart 21 freigesetzt werden. Da ein ICE rund 360 Meter lang ist, wären alle 2.500 Züge zusammen rund 900 Kilometer lang und würden von Stuttgart bis Neapel oder bis Warschau reichen.
Der Treibhausgas-Ausstoß von zwei Millionen Tonnen ist allerdings noch nicht alles. Es kommen noch rund 200.000 Tonnen, also 10% an Treibhausgas hinzu, die auch durch Stuttgart 21 verursacht werden. Hierbei handelt es sich um vier zusätzliche Treibhausgas-Quellen, nämlich um:
- die Herstellung der Schienen, Betonschwellen und festen Fahrbahnen für die neuen Gleise,
- die Grabungsarbeiten, die Aushubtransporte und die Anlieferung von Baumaterial für die Tunnels,
- den Betrieb und Unterhalt der Tunnels und Tunnelbahnhöfe,
- den Zugverkehr auf den Gleisen von Stuttgart 21.
Die beiden letztgenannten Treibhausgas-Ursachen werden über einen Zeitraum von 30 Jahren betrachtet.
Manche von Ihnen werden nun vermutlich sagen: Was soll eine solche Studie über die Treibhausgas-Emissionen von Stuttgart 21 jetzt noch? Das kommt doch alles viel zu spät, denn die Tunnels sind ja schon im Bau. Aber zum einen darf die Verantwortung für das bisher Geschehene nicht unter den Tisch fallen, und heute diese Klimasünde zu beenden ist immer noch viel besser als weiter zu bauen.
Und zum anderen: selbst wenn die Tunnel je vollständig gebaut werden sollten, müssten sie nicht zwangsläufig dem unterirdischen Zugverkehr dienen. Im Gegenteil. Es gibt mehrere Möglichkeiten, sie viel sinnvoller zu nutzen. So wie im Konzept ‚Umstieg 21‘ vorgeschlagen wurde, kann man die große Baugrube am Hauptbahnhof, also im Herzen von Stuttgart, auf vielfache viel nützlichere Weise verwenden.
Doch dadurch wäre der ungefähr 900 Meter lange und bis zu 80 Meter breite Hohlraum aber noch längst nicht ausgenutzt. Hier wäre noch ausreichend Raum für ein City-Logistik-Terminal: Waren und sonstige Güter, die im Stuttgarter Talkessel ausgeliefert oder auch eingesammelt werden, können hier zwischen großen Elektro-LKWs bzw. Güterwaggons auf der einen Seite und kleinen elektrischen Lieferwagen auf der anderen Seite umgeladen werden. Falls die Tunnel je fertig würden, könnten sie als An- und Abfahrtsrouten für große LKWs dienen, die dann auf den oberirdischen Straßen gar nicht mehr in Erscheinung treten würden.
Diese Tunnels kämen zugleich für elektrisch angetriebene Omnibusse in Frage, welche den im Umstiegskonzept vorgesehenen neuen ZOB ansteuern oder hier abfahren.
Ein noch weiter gehender Schritt wäre es, die Tunnelröhren auch für vollelektrisch angetriebene PKWs zu nutzen, die möglicherweise sogar automatisch gesteuert würden.
Bei diesen letztgenannten drei Vorschlägen muss allerdings verhindert werden, dass für den Autoverkehr neue Kapazitäten geschaffen werden, indem nun oberirdischer Straßenraum frei wird, weil Elektrofahrzeuge „unter die Erde verschwinden“. Deshalb muss garantiert werden, dass Fahrspuren an der Oberfläche abgebaut und ganze Straßen stillgelegt werden, und zwar entsprechend der Leistungsfähigkeit der neuen Tunnels. Der so gewonnene Platz kann für Fuß- und Radwege und für Spiel- und Grünflächen umgewidmet werden. In Stuttgart entsteht auf diese Weise Raum für Menschen statt für Autos. Das wäre ein unbeabsichtigter Effekt von Stuttgart 21, wenn dieses Projekt endlich „stirbt“.
Auch wenn meine Studie noch nicht ganz abschlossen ist, kann klar festgestellt werden: Wer es ernst meint mit dem Klimaschutz, muss NEIN zu Stuttgart 21 sagen. Deshalb rufe ich Ihnen zu, auch im Sinne des Klimaschutzes: OBEN BLEIBEN!