Der Park
Liebe Volksversammlung,
Vor kurzer Zeit, genauer gesagt vor knapp 170 Jahren, fand in Mannheim eine Volksversammlung statt, die in die Geschichte eingehen sollte. Es war ein regnerischer, etwas kalter Tag, die Leute hatten ihre dicksten Mäntel noch angezogen, die Hüte tief im Gesicht, damit sie von den Spitzeln nicht gleich erkannt wurden.
Vom Rhein her, aus Frankreich, grüßte aber doch schon, etwas vorwitzig vielleicht, der Frühling. Kalt, wie gesagt. Aber die Menschen spuckten in die Hände und bereiteten sich auf die Märzrevolution vor. Die Mannheimer Volksversammlung vom 27. Februar 1848 forderte u.a. Volksbewaffnung mit freien Wahlen der Offiziere, was wir uns als freundliche Pazifisten heute nie erlauben würden, zwotens die unbedingte Pressefreiheit Schwurgerichte nach dem Vorbild Englands und die sofortige Herstellung eines deutschen Parlaments. Aber ein Parlament, werden Sie jetzt einwenden, haben wir doch schon. Richtig, aber wir wollen eins, dass die Versprechen, das die Parlamentarier ihren Wählen gegeben haben, auch eingehalten werden: Zum Wohle des ganzen Volkes zu handeln.
So wie wir heute vor den Ruinen der Märzrevolution stehen, stehen wir auch vor der Ruine des Lusthauses aus dem Jahr 1593. Stünde es heute noch, wäre es die bedeutendste Sehenswürdigkeit Stuttgarts aus der Renaissance. Dass wir aber wenigstens vor der Ruine des einst schönsten Hauses der Stadt stehen, verdanken wir einer Initiative von Menschen wie Euch, die immer wieder den Arsch hochkriegen und aufstehen: Es waren Stuttgarter Kulturschaffende, Architekten und Ingenieurinnen, die gegen die Mauer des Schweigens dieses Bauwerk in seinen Resten vor dem endgültigen Verfall retteten. Denn die verwahrlosten Reste zuvor waren ein Bild des Jammers, so wie der Schlossgarten heute zu weiten Teilen ein Bild des Jammers ist.
„Renaissance“: das heisst wörtlich genommen „Wiedergeburt“. In der Epoche der Renaissance stand der Mensch als schöpferisches Wesen, als Individuum im Mittelpunkt des Denkens. Die Italienischen Renaissancebauten wurden klar und überschaubar konzipiert. Die Bauwerke aus der Renaissance sind heute eher selten zu finde, so selten fast wie das schöpferische Denken. Doch diese Reste da, die Steine da sind gewissermaßen heute unsere Zeugen, sie, die über 400 Jahre alten Überreste des Neuen Lusthauses.
Kein Sterben in Würde, wie es das Land beabsichtigte, sondern der Beginn der Wiedergeburt jener Werte, die unter Polizeiknüppeln und Wasserwerfern schon 2010 am schwarzen Donnerstag zusammen-gedroschen wurden. So wie diese Ruine zum begehbaren Gedächtnis von uns allen gehört, ist die Niederschlagung einer demokratischen Volksversammlung im September 2010 und die nächtliche „Parkräumung“ mit 2500 Polizisten vor fünf Jahren tief in unsere Erinnerung gebrannt.
Das aber, liebe Mitstreiterinnen für das andere, bessere Leben, nützt nur, wenn aus dem Schmerz auch Zorn wächst, wenn aus dem Zorn Widerstand wird – ein anstiftender, ein kluger, lang anhaltender Widerstand, der nicht nur die Sünden der Vergangenheit aufrechnet und ins erneute Leiden verfällt, sondern ein Widerstand, der uns bestärkt, ein Widerstand, der die Werte der Demokratie, der Märzrevolution von 1848 ins Heute übersetzt, der diese Werte verstehbar und verständlich macht, der sich nicht mit Bürgerbegehren abspeisen lässt, ein Widerstand, der Folgen für den Alltag hat, ein Widerstand des Miteinanders, der Solidarität, ein Wider-stand für jeden Tag - listig und lustig, offen und frei, ein Widerstand auch, der die Widersprüche in den eigenen Reihen aushält.
Die Bäume sind gefällt.
Wir pflanzen neue.
Bäume, die in die Himmel wachsen!