Rede von Dr. Winfried Wolf, Publizist und Verkehrsexperte, auf der Samstagsdemo am 16.7.2016
Liebe Freundinnen, liebe Freunde,
wenn wir uns heute hier ein weiteres Mal treffen und gegen das zerstörerische Großprojekt Stuttgart 21 zusammenstehen, und „raus aus der Grube“ und in Richtung „Zukunft in Stuttgart“ schreiten, dann sind wir nicht allein. Dann beobachten das viele im Inland, auch Freundinnen und Freunde im Ausland, die wir im Rahmen unseres langjährigen Engagements kennen und schätzen gelernt haben.
So unsere Mitstreiterinnen und Mitstreiter in Turin und im Val di Susa. In Turin wurde vor wenigen Tagen einigermaßen überraschend und zum Entsetzen des städtischen Establishments Chiara Appendino (von der Bewegung Cinque Stelle) als neue Bürgermeisterin gewählt – eine erklärte Gegnerin der Hochgeschwindigkeitsstrecke Turin – Lyon mit dem zerstörerischen, gigantischen Tunnel im Val di Susa. Ich hatte noch gestern Kontakt mit Vertretern dort vor Ort, darunter mit Martina Moog, die hier bereits auf einer Demo sprach. Die Freundinnen und Freunde in Turin und im Val di Susa lassen Euch grüßen; sie hoffen auf unseren Erfolg gegen S21, der ihren Kampf im Val di Susa, der ja auch bereits mehr als 20 Jahre andauert, beflügeln würde.
So unsere Freunde in Florenz. Gestern hatte ich noch einen Austausch mit Tiziano Cardosi, der mehrmals hier in Stuttgart sprach. Cardosi ist Sprecher der Bewegung gegen die Untertunnelung von Florenz. Er berichtete, dass man in Florenz zwar bisher eine Dreiviertelmilliarde Euro für das Tunnelprojekt ausgegeben, aber noch keinen Meter Tunnel gebaut habe – und dass seit einigen Wochen das Projekt so gut wie tot sei. Die Initiative „NO-TAV-Tunnel Firenze“ wird wohl bald eine nette Sieges-Festivität geben. Er wünscht dann, dass aus Stuttgart Gäste kommen und wir dann möglicherweise gemeinsam zwei Siege feiern können.
So die europaweite Bewegung gegen die „unnützen Großprojekte in Europa“, die „grande opere inutili“, die just in diesen Tagen in Bayonne tagt – bei Anwesenheit von Vertretungen und Initiativen aus Frankreich, Italien, Großbritannien, dem Baskenland, aus Katalonien … und auch von Leuten aus der Bewegung gegen Stuttgart 21. Auch diese Menschen schrieben mir gestern, ich möge Euch grüßen und beste Wünsche für den gemeinsamen Kampf übermitteln.
Soweit also meine internationalistischen Pflichten, die ich mit Freuden wahrnahm. Die ich noch komplettieren will mit der Übermittlung von Grüßen von Volker Lösch, der hier in Stuttgart viele Jahre als Regisseur tätig war und den die meisten von Euch aufgrund seiner mitreißenden politischen Reden auf den Demos gegen Stuttgart 21 kennen: Volker lässt euch ganz herzlich grüßen. Auch er ist angesichts der jüngeren Entwicklung ausgesprochen hoffnungsvoll hinsichtlich eines Durchbruchs bei unserem gemeinsamen Kampf gegen Stuttgart 21.
Liebe Freundinnen, liebe Freunde,
vor ziemlich genau drei Jahren, am 22. Juli 2013 – und das war eine äußerst kritische Zeit der Bewegung – hielt ich hier eine Rede, in der ich sagte: „Ich bin fest davon überzeugt: Stuttgart 21 wird nicht zu Ende gebaut werden.“
Ich begründete das auf verschiedenen Ebenen. Und dann sprach ich von der „Sickerwirkung der Wahrheit“ – die es dann gibt, wenn man weiterkämpft und diese Wahrheit immer neu untermauert und aktualisiert. Das war ein ähnlicher Grundgedanke, wie er von unserem Freund Peter Conradi, ebenfalls hier auf diesem Platz auf einer Demo vor rund zwei Jahren, formuliert wurde. Er sprach damals von dem EINEN Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringen würde. Aber auch davon, DASS das Fass überlaufen werde.
Liebe Mitstreiterinnen, liebe Mitstreiter,
jetzt gab es ja viele Krisen beim Projekt S21. Und die Beton-Mafia und die Spätzle-Connection haben sie alle überstanden. Ich zähle im letzten Jahrzehnt, seit es eine relevante Bewegung gegen Stuttgart 21 gibt, fünf solcher Krisen:
- Diejenige von Ende 2007, als 67.000 Unterschriften für den Bürgerentscheid gegen S21 übergeben wurden. Und als dann im Dezember der Stadtrat mit 45 zu 15 einen Antrag auf Zulassung eines Bürgerentscheids ablehnte.
- Diejenige Krise vom November 2009, als eine große Kostenexplosion auf 4,9 Milliarden Euro bekannt wurde. Die Bahn setzte einen neuen Infrastrukturvorstand mit Namen Volker Kefer ein. Die Kosten wurden weggelächelt und schöngerechnet. Am Ende wurde der berühmt-berüchtigte „Kostendeckel“ von 4,5 Milliarden Euro verkündet.
- Die dritte Krise ist eine Dauerkrise, die es in den Jahren 2010 und 2011 gab: mit dem Aufleben der Montagsdemos, mit der Polizeiaggression am 30. September 2010 und einem halben Dutzend Massendemos. Diese Krisensituation wurde im Sinne der Tunnelbaumafia durch die Geissler-Schlichtung, mit der Landtagswahl und den dann gewendeten Grünen und mit dem manipulativen Volksentscheid befriedet.
- Es gab sodann die vierte Krise Anfang 2013: Als der Kostendeckel gesprengt und wie aus heiterem Himmel zwei Milliarden Euro Mehrkosten bekannt gemacht wurden. Jetzt bekamen die Bahnaufsichtsräte erstmals kalte Füße und volle Hosen. Diese Krise wurde durch massiven, gesetzwidrigen Druck auf die Aufsichtsräte gemeistert. Die Kostenerhöhung wurde durchgewunken. Derjenige, der im Auftrag der Kanzlerin die Drecksarbeit gemacht hatte, wurde kurz darauf in den Bahnvorstand gehievt. Seine Name: Ronald Pofalla.
- Und jetzt also nach dieser Zählweise im Sommer 2016 Krise Nr. 5.: Sie wird definiert mit der Juni-Aufsichtsratssitzung, mit dem dort beschlossenen neuen Auftragsgutachten zu S21, und mit dem Abgang von Volker Kefer.
Und jetzt könnt ihr – und SOLLT ihr! – mir drei Fragen stellen:
- Erstens: Was soll das Besondere an dieser Krise sein; was spricht dafür, dass S21 jetzt wirklich am Kippen ist? Und dass es nicht wieder zu einem Sieg der Baumafia kommt?
- Zweitens: Warum gibt es, wenn es eine derart exquisite Crisis ist, dann all diese Dementis und den anhaltenden Widerstand bei den S21-Betreibern?
- Drittens: Was sind für mich die entscheidenden Gründe dafür, dass der Widerstand gegen Stuttgart 21 jetzt den Sieg davontragen wird?
Meine Antwort zum ersten Fragekomplex: Es gibt in dieser jüngsten Krise zunächst eine enorme Zunahme dieses Tröpfchen-ins-Fass-Kullerns: Der Bundesrechnungshof hat nun bereits acht vertrauliche „Prüfmitteilungen“ zu S21 erarbeitet. Das gibt es meines Wissens bei keinem anderen Projekt der letzten Jahrzehnte. Fünf Prüfmitteilungen wurden bislang vorgelegt und weitgehend öffentlich gemacht. Aktuell laufen drei weitere parallel. Ich weiß aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen, dass das noch einen richtigen Knall geben wird.
Nun stehen ja für uns bei der S21-Kritik natürlich die sachlichen und die für Stadt und Menschen wichtigen Aspekte im Zentrum: der Abbau der Kapazität, der Schrägbahnhof, der Brandschutz, die ungeklärte Lage auf den Fildern, die Gäubahn, das Grundwasser und die Zerstörung von Park und Stadtzentrum. Die S21-Betreiber kümmert das alles wenig. Sie wissen nur zu gut, dass rein technisch das Projekt zerstörerisch und am Ende nicht durchführbar ist. Doch das wird weggedrückt; diese Ereignisse treten außerhalb des Job-Horizonts dieser Herren ein.
Was ihnen jetzt jedoch krass zu schaffen macht, ist dies: Dass bereits 2017 das Geld, das für S21 ausgegeben werden muss oder für das Aufträge zu erteilen sind, alle ist. Dass die zu erwartenden Mehrkosten bei PLUS FÜNZIG PROZENT liegen. Die Gesamtkosten liegen jetzt um die Hälfte über dem März-2013-Betrag von 6,8 Milliarden Euro. Es ist zugleich doppelt so viel wie der Betrag, der bei der Volksabstimmung als S21-Obergrenze, als „Kostendeckel“ definiert wurde. Und es ist rund fünf Mal so viel, wie 1995 in der ersten S21-Machbarkeitsstudie veranschlagt wurde.
Diese Herren sind jetzt extrem beunruhigt, weil – dank unserer Wachsamkeit! dank des Engagements unserer Juristen, allen voran desjenigen von Eisenhart von Loeper – die Landesregierung und die Stadt Stuttgart nicht so einfach wie unter Teufel-Oettinger-Mappus neues Geld locker machen können.
Und diese Herren haben Angst, selbst belangt zu werden. Es war Grube und Kefer, die sagten: Der Kostendeckel beträgt 4,5 Milliarden Euro. Sie sagten: Jenseits von 4,5 Milliarden Euro wird S21 unwirtschaftlich. Jetzt geht es um einen Betrag, der um 115 Prozent über diesem Kostendeckel-Betrag liegt. Mehr als das Doppelte. Es gibt eigentlich keine Steigerung von „unwirtschaftlich“. Doppelt unwirtschaftlich macht kaum Sinn – ist aber der Fall bei Stuttgart 21.
Und dann gibt es bei dieser Krise Nr. 5 diese außerordentliche Personalie, die diese Krise zur exquisiten macht: Das Lächelmonster dankt ab.
Volker Kefer, der 2009 als Geheimwaffe von Grube eingesetzt wurde und höchst persönlich diesen 4,5-Milliarden-Euro-Kostendeckel ausrechnete und festlegte, Volker Kefer, der in der Schlichtung zum Gesicht des Projekts S21 wurde, Volker Kefer, der damals und bis vor kurzem alle Probleme mit ziemlichen Erfolg in der Öffentlichkeit, auch im Bundestag und im Verkehrsausschuss, weggelächelt hatte, Volker Kefer, der der einzige im Bahnvorstand war, der – auch weil von Siemens Bahntechnik kommend – einen gewissen Sachverstand für Schienenverkehr angesammelt hatte, dieser Volker Kefer ging im Juni von der Fahne.
Die Liste der Abgänge von S21-Topleuten ist ja zweifellos lang und illuster. Doch der Abgang von Kefer ist etwas Besonderes: Der Mann ist 60 Jahre alt. Er sollte Grube beerben und Bahnchef werden. Er hätte, wenn seine Angaben hinsichtlich der S21-Fertigerstellung auch nur annähernd zutreffend wären, als Bahnchef den Tiefbahnhof Stuttgart 21 mit Eintritt ins eigene Rentneralter – 2021, 2022, 2023 – eröffnet.
Doch Kefer wusste: Das wird nichts mehr. Und er dürfte vor allem auch Angst gehabt haben – und er MUSS weiterhin Angst haben! –, dass er juristisch belangt wird: Dafür, dass er ein Projekt wider besseres Wissen – und bei Verstoß gegen das Aktiengesetz! – hauptverantwortlich betrieben hat, ein Projekt, das unwirtschaftlich ist und das die Steuerzahler unnötigerweise mehrere Milliarden Euro gekostet haben wird. Dieser Mann macht sich jetzt vom Filder- und Gipskeuper-Acker. Er spekuliert darauf, dass, wenn er jetzt geht, er noch „Möhrchen“ bekommt, er noch eine Millionen-Abfindung erhält. Die er dann gewissermaßen – im Wortsinn: gewinnbringend lächelnd – entgegennehmen würde.
Die zweite berechtigte Frage lautet: Wenn all das so wie dargestellt ist, warum gibt es dann weiter diesen grotesk anmutenden Durchhaltewillen bei den S21-Betreibern? Warum ziehen die im Bahntower und im Bundeskanzleramt nicht gemeinsam den Stecker oder, um im Bild zu bleiben, die Notbremse?
Meine Antwort lautet zunächst: Natürlich werden diejenigen, die seit 22 Jahren dieses Monsterprojekt betreiben, nicht umgehend kapitulieren. Es geht schließlich um ein gigantisches Bauvorhaben; S21 ist das größte Bauvorhaben in dieser Republik. Deutlich größer als der Berliner Airport und die Elbphilharmonie zusammengenommen.
Sodann: Es geht um ein enges Geflecht von Finanz-, Industrie-, Politik- und Medieninteressen, das im Fall einer Aufgabe von S21 tiefe Risse bekommt oder gar zerreißt. Dieses Geflecht mit seinen Verästelungen und Verankerungen wurde vielfach beschrieben in KONTEXT und von Josef-Otto Freudenreich.
Es geht selbstverständlich, wie von mir bereits 1996, wie von Joe Bauer in seiner Rede dargestellt, um ein riesiges Immobilien- und Spekulationsprojekt, an dem man in Stuttgart noch jahrzehntelang verdienen will – und das auf andere Stadtzentren in finanzieller Hinsicht ausstrahlen soll. Winfried Hermann hat diese Genesis mal ganz gut beschrieben, bevor er auf dem Ministersessel Platz nahm und seine Gesinnung an der Garderobe abgab.
In einer Rede, die Herman hier im Stuttgarter Raum 2010 hielt und die auf seiner eigenen Website wiedergegeben wurde, berichtete er davon, dass der Bahnchef der 1990er Jahre, Heinz Dürr, Anfang der 1990er Jahre in New York gewesen sei, dass es dort zwar Eisenbahnen gebe, dass man diese aber nicht sehe. Er sei dann in Tokio gewesen. Auch dort gebe es Eisenbahnen. Doch man könne sie nicht sehen. Und dann, so Winfried Hermanns Bericht weiter: „Dann ist dem Herrn Dürr ein Licht aufgegangen – das hat er mir eines Tages erzählt. Ja, das hat er mir erzählt: Herr Hermann, da ist mir ein Licht aufgegangen, da sind wir mit dem Hubschrauber über Stuttgart geflogen, über die Gleise.
Dann ist mir klar geworden: Das sind ja Filetstücke, mitten in der Stadt! Wenn wir den Bahnhof unterirdisch machen, wie in New York, dann verkaufen wir das Gelände zu den besten Preisen, den Quadratmeter zu 10.000 Mark oder mehr… Das war das Konzept, das Dürr für Stuttgart und viele andere Orte als genial angesehen hat. Und fortan war er der Treiber.“ Womit belegt ist: Der Verantwortliche im Stuttgarter Verkehrsressort weiß sehr genau, dass Stuttgart 21 dem Bahnverkehr nichts bringt, diesen schädigt; dass es sich um ein reines Projekt der Immobilienspekulation handelt.
Es geht sodann auch um Psychologie – um die Durchsetzung dieses männlichen Machbarkeitswahns, dieser Manie, nicht nur Menschen zu beherrschen und diese zu manipulieren, sondern auch die Natur zu beherrschen, sie nach Herrenknechts Maschinen-Art zu formen, zu pressen, zu durchbohren, zu richten: sie hinzurichten. Ein Wahn, der sich in immer absurderen Großprojekten materialisiert und der doch so peinlich banal und dumpf ist.
Kefer sprach in Stuttgart im November 2013 vor der STUVA e.V. Diese Gesellschaft ist ebenso unterirdisch wie sie übersetzt heißt: „Studiengesellschaft für unterirdische Verkehrsanlagen“. Das klingt wie ein kleiner, konspirativer Laden. Doch Kefer sprach dort auf dem STUVA-Kongress vor 1600 Leuten. Er führte aus, dass es aktuell im deutschen Schienennetz 692 Tunnel mit einer Gesamtlänge von 492 Kilometern Länge gebe. Und dass man nunmehr in den nächsten 15 bis 20 Jahren weitere 184 Tunnelkilometer im Volumen von 25 Milliarden Euro bauen werde.
Man muss sich diese Proportionen mal zu Gemüte führen: In 179 Jahren deutsche Eisenbahn wurden also knapp 500 Tunnelkilometer gebaut. Doch in den nächsten eineinhalb bis zwei Jahrzehnten sollen nochmals 40 Prozent hinzukommen. Und das bei schrumpfendem Netz. Ohne dass sich zwischenzeitlich neue Mittelgebirge aufgetürmt hätten. Auch hat sich die Endmoränenlandschaft nicht neu sortiert.
40 Prozent zusätzlicher Tunnelbau – solche Perspektiven empfinden diese Herren einfach als Teil ihrer Selbstverwirklichung. Man denke bloß an dieses einzigartige Foto von Herrn Herrenknecht und Winfried Kretschmann – die beiden „gestandenen“ Männer wie bei einem Familienfoto vor der gigantischen TBM, dieser Tunnelbohrmaschine. Bei einem solchen Ungetüm gibt es einen wuchtigen Bohrkopf. Dieser verfügt über gefräßige Rollmeißel. Und dann kommt ein – ja so lautet der Fachbegriff! – „Erektor“ zum Einsatz, der die „Ausbruchslaibung auskleidet und abdichtet“.
Vor allem aber geht es jetzt den S21-Betreibern um das Ganz-Große-Große-Ganze. Bereits 2011 hatte die Kanzlerin die Richtung vorgegeben und gesagt: Stuttgart 21 müsse kommen, „sonst ist Deutschland unregierbar.“ 2013 stellte Finanzminister Wolfgang Schäuble fest: „Es gibt jetzt ein gesamtstaatliches Interesse an dem Projekt Stuttgart 21.“
Solche Worte hört man heute eher nicht mehr. Dennoch werden aktuell die Herren Schäuble und Gabriel und die Kanzlerin in Berlin und der Schäuble-Schwiegersohn Strobel und die Grünen
Kretschmann und Kuhn in Stuttgart überlegen, wann ein Abrücken von Stuttgart 21 mit dem geringsten Gesichtsverlust verbunden sein würde: Jetzt? Noch vor der Bundestagswahl? Oder am besten nach derselben? Wobei sie sich bei der letztgenannten Option die Frage stellen werden: Halten wir das so lange durch? Gibt es für 2017 „Zwischenfinanzierungen“, getarnt als Optimierungen da und dort: Gäubahn, Fildern usw.?
Vor allem wollten sie gern, dass jede Art Ausstieg klammheimlich zu erfolgen hat. Angesichts der heutigen Demonstration ist das nicht möglich.
Und es geht um die Frage, ob ein Ausstieg ohne Gesichtsverlust, als Umstieg stattfinden kann. Für diese letztgenannte Option gibt es seit gestern neue höchst praktische Vorschläge seitens der Gegnerinnen und Gegner von Stuttgart 21.
Womit wir bei einer Antwort auf den dritten Fragekomplex sind: Warum glaube ich persönlich an den Sieg unserer Bewegung gegen Stuttgart 21? Was spricht objektiv und subjektiv aus unserer Sicht, aus Sicht derjenigen der Bewegung gegen Stuttgart 21, für einen solchen Erfolg?
Dazu fällt mir das eine und andere ein. Zunächst einmal die beeindruckend lange Liste der politischen Leichen auf Seiten der S21-Betreiber: Schuster, Drexler, Mappus, Gönner, Garber, Azer, Kefer… Sie haben alle wegen des Widerstands der Bewegung gegen S21 und aus „objektiven“ Gründen wie Nichtfinanzierbarkeit und technische Nichtdurchführbarkeit schlapp gemacht. Diese Liste wurde bislang fast von Jahr zu Jahr um einen Aussteiger-Promi angereichert.
Sodann gibt es diese bundesweit einmalige Anzahl von Aktivitäten gegen Stuttgart 21: mehr als ein Dutzend Großdemos, Dutzende Konferenzen, Kongresse, Seminare, Veranstaltungen, Tagungen usw. zu und gegen Stuttgart 21. Dann die Kontinuität der Montagsdemos – darunter übermorgen die stolze Zahl der 330. Montagsdemo. Hier wurde ich gebeten, einzufügen: Am 7. September tagt erneut der Bahn-Aufsichtsrat in Berlin zu S21; es wird dort vor Ort eine Demo geben – für Stuttgarter werden Tickets organisiert: Hinfahrt am 6. und Rückfahrt am 7. September.
Auf allen meinen Veranstaltungen, ob in Wuppertal oder Wien, in Waldshut oder Bellinzona, in Dortmund oder Konstanz und weitgehend egal zu welchem Thema: Fast immer komme ich auf die hiesige Bewegung gegen Stuttgart 21 zu sprechen und betone, wie aus einem spontanen Widerstand gegen ein zerstörerisches Projekt – auch durch intensive und kreative Arbeit – eine solche breite Bewegung mit derart langem Atem entstehen und erhalten werden kann.
Sodann gibt es in Stuttgart diesen kreativ-originellen Beitrag zur Optimierung des deutschen Postwesens. Nur in Stuttgart gibt es das: eine Adresse, bei der die Zustellung von Post, Päckchen und Paketen rund um die Uhr gewährleistet ist: Arnulf-Klett-Platz, 70173 Stuttgart, Adressat. Mahnwache. Heute seit fünf Jahren und 364 Tagen aktiv, morgen das Fest zum vollen sechsten Jahr. Ich gratuliere!
Besonders wichtig ist: Im Fall von Stuttgart 21 gibt es eine völlige Umkehr beim Thema Zukunftsfähigkeit. Gut eineinhalb Jahre lang reklamierten die Proler, die S21-Befürworter, die Zukunft für sich. Die Rede war von der gewaltigen „Magistrale Paris – Stuttgart – Bratislava – Budapest.“ Immer wieder ging es um Zeitgewinne, die alle Bahnfahrenden im Raum Stuttgart mit S21 erzielen würden. Die Bundeskanzlerin hatte im Bundestag erklärt: „Ohne Stuttgart 21 werden wir den Anschluss an die Zukunft verlieren.“ Oder auch: „Bei Stuttgart 21 geht es um die Zukunftsfähigkeit Deutschlands.“
Solche Zitate gibt es heute so gut wie nicht mehr. Fast überall hat sich herumgesprochen, was Andreas Kleber seit langem sagt: S21 ist M21, ist MURKS21. Es ist dann nur der 150-Prozent-Konvertit Fritz Kuhn, OB dieser Stadt, der jüngst noch keck feststellte: „Die Stadt Stuttgart hat ein elementares Interesse, dass das Bahnprojekt bestens verwirklicht wird.“
Doch in der Regel geht es den S21-Betreibern nur noch um ein Durchwursteln, um das „Augen-zu-und durch“. Wörtlich heißt es in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ vom 8. Juni 2016: „Die Bahn würde Stuttgart 21 heute nicht mehr bauen. Aber aufgeben kann sie das Projekt nicht. Zu groß wäre der Gesichtsverlust.“ Man muss sich konkret vergegenwärtigen, was diese Feststellung bedeutet. Da wird eingestanden: Stuttgart 21 ist ein falsches Projekt. War halt so ´ne Idee. Kostete bislang um die 2,5 Milliarden Euro. Doch wir investieren weitere fünf, sieben und mehr Milliarden Euro mit dem Geschäftszweck „Vermeidung von Gesichtsverlust“.
Ganz anders sieht es bei uns aus. Die Stuttgart-21-Gegner sind es, die die Zukunft im Blick haben. Wir sind die Ideenproduzenten und die kreativen Stichwortgeber. Das Aktionsbündnis hat die neue Vieregg-Studie zum S21-Ausstieg und Umstieg in Auftrag gegeben. Diese wurde im Frühjahr 2016 vorgestellt. Sie besagt: Selbst bei einem sofortigen Baustopp und einem kreativen Umstieg spart die Gesellschaft um die fünf Milliarden Euro. Gestern wurde das durchdachte, intelligente, ganz ausgezeichnet gestaltete Konzept „Umstieg 21 – Baustellen umnutzen“ vorgestellt. Ich fragte noch auf der Zugfahrt hierher Sabine Leidig und schlug vor, diese Konzeption 1:1 im Bundestag einzubringen. Sie stimmt zu. Da muss dann fast nur noch eine Bundestagsdrucksachennummer drauf und über dem Text als Überschrift stehen: „Zukunftsfähiges Deutschland – am Beispiel der Stadt Stuttgart und des Umstiegs bei Stuttgart 21.“
Womit ich am Ende meines Redens und am Ausgangspunkt der Bewegung bin. Wir reklamieren die Zukunftsfähigkeit für uns und für diese Stadt. Wir fordern eine Stadt für die Menschen anstelle einer Stadt für Autos, Spekulation und Konsumwahn. Wir fordern die Rückgewinnung dessen, was Spekulation und Kapital uns und der gesamten Bevölkerung genommen haben und weiter nehmen wollen. Wir riefen damals am Beginn dieser Bewegung und wir rufen heute:
Wessen Bahnhof? Wessen Straßen? Wessen Stadt? Oben bleiben!
Winfried Wolf ist Chefredakteur von Lunapark21, Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von Attac, regelmäßiger Autor bei KONTEXT und verantwortlich für die neue Publikation FaktenCheck:EUROPA.