Rede von Matthias von Herrmann, Parkschützer, auf der 322. Montagsdemo am 23.5.2016
Stuttgart 21: Altlast aus dem letzten Jahrhundert
Vor gut 20 Jahren, am 2. Februar 1996, beteiligte ich mich an einer Greenpeace-Aktion im Frankfurter Hauptbahnhof: Ein paar Aktivisten kletterten dabei in die Tragekonstruktion der Haupthalle des Bahnhofs, balancierten auf den Trägern bis unters Dach und ließen ein riesiges Banner herunter: Es richtete sich gegen die Deutsche Bahn AG und gegen deren Praxis, sämtliche Gleisflächen regelmäßig mit ebenso schädlichen wie langlebigen Unkrautvernichtungsmitteln zu besprühen. Diese Aktion war eine von vielen gegen das Universal-Herbizid Diuron im Einsatz der Bahn, denn die Bahn war der größte Anwender von Diuron in Deutschland. Und diese Aktion vor 20 Jahren war auch die letzte zu diesem Thema, denn an dem Tag entschied die Bahn, das Versprühen von Diuron einzustellen – der jahrelange öffentliche Druck hatte endlich gewirkt. Diuron wurde kurz darauf in Deutschland sogar komplett verboten, denn es ist gesundheitsschädlich.
Doch warum erzähle ich Ihnen hier alte Aktionsgeschichten aus meinem Leben? Wenn Sie von langlebigen Chemikalien hören, ahnen Sie es: Es geht um chemische Altlasten auf dem Gelände, das die Stadt Stuttgart im Zuge der S21-Subventionierung für teuer Geld von der Bahn gekauft hat.
Und Diuron war nicht das erste chemische Mittel, das die Bahn zur Vernichtung von Unkraut entlang der Bahnstrecken verwendet hat. Vor Diuron verwendete man Bromacil. Beides sind gesundheitsschädliche Chemikalien, sogenannte halogenierte Verbindungen, einmal mit Chlor, einmal mit Brom. Diese Stoffklasse ist sehr langlebig, die Moleküle werden nicht abgebaut, sie gelangen ins Grundwasser und lagern sich letztendlich in unserem Körper ab. Bromacil wurde 1990 verboten, das Verbot von Diuron folgte 1997. Und jetzt raten Sie mal, was die Bahn seitdem verwendet? Glyphosat! Genau der krebserregende Stoff, der dieser Tage vielleicht bzw. hoffentlich endlich von der EU verboten wird. Und auch für Glyphosat gilt, dass es ein langlebiges Molekül ist.
Mit dem 2. Februar 1996 war das Problem der chemischen Belastung von Bahngelände also noch nicht endgültig gelöst, denn das Zeug verschwindet nicht einfach, es ist noch immer im Boden und bedroht das Grundwasser und letztendlich uns Menschen.
Heute schreibt die Esslinger Zeitung von einer Altlast auf dem Stuttgarter Abstellbahnhof. Auch die Stuttgarter Zeitung hatte neulich schon von dem Fall berichtet: Auf dem Abstellbahnhof zwischen Rosensteinpark und Schlossgarten gab es vor viele, vielen Jahren offensichtlich einen Unfall mit Bromacil, immerhin schon seit 1990 verboten. Seit 2006 ist der Fall bekannt, wurde aber nie öffentlich gemacht – bis jetzt unsere Ingenieure22 zufällig darauf stießen.
Wir lesen nun also in der Zeitung: Aha, auf dem Gelände des Abstellbahnhofs, da, wo das Kuhn‘sche Rosenstein-Dorf gebaut werden soll, gibt es eine bekannte Bromacil-Altlast, die seit 2009 auf Bahn-Kosten saniert wird. Lagert dort nach 100 Jahren Bahnbetrieb auch Diuron, Glyphosat, Schmieröl und Trafoöl im Boden? Reichen die 14,5 Mio. EUR für die Altlasten-Sanierung, die die Bahn im Zuge des S21-Gelände-Deals großzügig vom Kaufpreis abgezogen hat? Im Altlasten-Kataster der Stadt sind gerade diese Rosenstein-Flächen als Verdachtsflächen rot gekennzeichnet. Da ist es höchste Zeit, dass unsere Politiker aus ihren S21-Träumen aufwachen und sich mit der Realität beschäftigen, statt ein Rosenstein-Viertel für den St. Nimmerleinstag zu planen.
Tatsache ist: Die Stadt Stuttgart hat im Jahr 2001 Bahnflächen zu überhöhten Preisen gekauft, die zudem noch mit langlebigen Chemikalien belastet sind. Bei der Bahn standen diese Flächen übrigens nur mit 25 Mio. EUR Wert in der Bilanz. Die Stadt hat dann inkl. Zinsverzicht über 800 Mio. EUR dafür gezahlt. So kam es, dass die Stadt sich durch Ignorieren offensichtlicher und allseits bekannter Tatsachen in eine verkorkste, aussichtslos erscheinende, verfahrene Situation gebracht hat.
Doch wer zukunftsorientierte Politik machen will, darf jetzt nicht den Kopf in Sand stecken und lamentieren. Er darf auch nicht auf Parallelschauplätzen die Bürger zum Narren halten und bei einer sogenannten ‚informellen‘ Bürgerbeteiligung über einen Stadtteil reden, der frühestens in 15 bis 20 Jahren gebaut werden kann. Meine Forderung an die Stadträte der S21-Parteien: Kopf raus aus dem Sand!
Denn zukunftsorientierte Realpolitiker erkennen, dass die Stadt Stuttgart viel Geld für verseuchte Flächen ausgegeben hat. Sie erkennen auch, dass die Nutzung der meisten Flächen obendrein völlig unabsehbar ist, denn jegliche Nutzung hängt davon ab, ob und wann Stuttgart 21 jemals fertig wird. Doch diesen Grundstücken mit zweifelhaftem Wert (d.h.: jetzt noch nicht nutzbar, zudem mit Altlasten verseucht) steht ein konkretes und akutes Problem gegenüber: In Stuttgart fehlen (laut Statistischem Landesamt) 16.000 Wohnungen – und zwar jetzt, nicht erst in 20 Jahren.
Entgegen allen offiziellen Beteuerungen trägt Stuttgart 21 also nicht im Geringsten dazu bei, das akut bestehende Wohnungsproblem jetzt zu mildern, im Gegenteil: S21 sorgt zum einen für klamme Kassen in der Stadt und noch schlimmer: Solange Stuttgart 21 auch die längst von der Bahn nicht mehr genutzten Flächen im sogenannten C-Areal im Nordbahnhof-Viertel als Logistikflächen blockiert, ist auch diese für den Stuttgarter Wohnungsmarkt nutzbare Fläche blockiert.
Wir als Stadt und wir als politisch engagierte Bürger müssen uns auf die Probleme zu besinnen, die wir jetzt haben: Wir brauchen jetzt schnell zusätzliche bezahlbare Wohnungen statt entfernte Zukunftsplanung à la Kuhn’sches Rosenstein-Dorf.
Natürlich haben Sie recht, wenn Sie sagen: Es wäre schlau gewesen, erst gar kein Geld für hochproblematische, belastete Grundstücke auszugeben. Aber die Situation ist jetzt, wie sie ist. Jetzt muss OB Kuhn überlegen, wie er das Beste daraus macht. Weiter an S21 festzuhalten, macht die Situation für die Stadt und ihre Bürger noch viel schlimmer als sie sowieso schon ist.
Ich wünsche unserem Oberbürgermeister und seinen Politik-Kollegen im Gemeinderat, dass sie erkennen, dass das Ende von S21 viel mehr Chancen für die Stadt bietet als wenn die Tunnelparteien weiterhin an dem Projekt festhalten.
Das Argument, es sei schon so viel gebaut, ist übrigens ein beliebtes Vogel-Strauß-Argument. Da bleibe ich bei meiner Forderung: Kopf raus aus dem Sand! Wir können auch jetzt etwas Gutes daraus machen, trotz all der schmerzhaften Zerstörungen und trotz der rausgeschmissenen Millionenbeträge.
Wenn Stuttgart 21 jetzt, diese Woche oder wenigstens dieses Jahr abgebrochen würde, könnte die Stadt im Nordbahnhof-Viertel das C-Areal sofort bebauen. Es gehört ihr bereits, es müsste zwar noch saniert werden, aber wenigstens wäre es schnell verfügbar. Der Kopfbahnhof und seine geniale verkehrstechnische Anbindung an Europa wäre weiterhin voll und ganz möglich. Stuttgart würde oben bleiben!