Einlassung von Myriam Rapp zur Neuverhandlung am Landgericht am 12.04.2016
Zu meiner Person:
Ich komme aus dem sozialen Bereich. Über 10 Jahre habe ich auf Biobauernhöfen gearbeitet, auf denen viele Familien leben und auf denen auch heilpädagogisch gearbeitet wird. Später habe ich viele Jahre in England als Kinderfrau und danach einige Jahre als Kindergärtnerin gearbeitet. Vor allem in diesen Jahren bin ich immer wieder Menschen begegnet, die in anderen sozialen Bereichen tätig sind und die gleichen Erfahrungen gemacht haben.
Man kann es drehen und wenden wie man will, es wird überall dasselbe wahrgenommen und erlebt. In einem der reichsten Länder der Welt gibt es so derbe Mangelerscheinungen, einen solchen Notstand überall da, wo es um Menschen geht. Die in diesen sozialen Einrichtungen Tätigen müssen beständig ums Überleben kämpfen. Es fehlt vor allem an Personal und damit an Zeit, um sich ausreichend um die einzelnen Menschen kümmern zu können. Eine extreme Überlastung der im sozialen Bereich Tätigen ist vielfach die Folge.
Gleichzeitig wird Steuergeld für unsinnige Projekte verschwendet, die dem Gemeinwohl sogar schaden. Steuergelder werden in die Taschen einiger weniger gelenkt.
Aufgrund meiner jahrelangen pädagogischen Tätigkeit fühle ich eine große Verantwortung für die Gestaltung einer lebenswerten Zukunft für unsere Kinder. Ich kann doch nicht Kinder ins Leben begleiten wollen und dabei zusehen, wie unsere Lebensgrundlagen global und lokal immer weiter zerstört werden. Daher setze ich mich für die Erhaltung der wenigen Grünflächen in Stuttgart und für eine intakte Infrastruktur des öffentlichen Verkehrs ein. Weil Stuttgart 21 sowohl die Grünfläche mitten in der Stadt als auch den Bahnverkehr schädigt, sehe ich die Notwendigkeit, mit friedlichen Aktionen meinen Protest gegen S 21 zum Ausdruck zu bringen.
Zu unseren Aktionen:
Dazu möchte ich zunächst den Ablauf am Südflügel und im Schlossgarten schildern:
Grundlage aller unserer Aktionen ist der Aktionskonsens der Parkschützer, in dem die Gewaltfreiheit und der respektvolle Um-gang mit Polizisten festgeschrieben ist. Ausdrücklich wird im Aktionskonsens gesagt, dass die Polizei nicht unser Gegner ist.
Vor jeder Aktion – also auch am Südflügel und im Schlossgarten - wird der Aktionskonsens über Lautsprecher mehrmals vorgetragen. Ich sehe den Aktionskonsens als für mich verpflichtend an und habe ihn immer bei mir. Ich würde mich ohne diese selbst gewählte Regel nicht an Aktionen beteiligen.
Aktion am 13.1.2012 gegen den Abriss des Südflügels
Das Gelände vor dem Südflügel betrat ich um Mitternacht herum. Nina Picasso und ich haben uns sehr früh schon mit dem Fahrradschloss nahe bei einander, aber getrennt an ein Fenstergitter des Südflügels angeschlossen – direkt unterhalb der Friedensfahne. Ich habe nicht auf die Uhr geschaut. Es waren insgesamt viele Stunden bevor die Polizei kam.
Viele unserer eigenen Leute haben nicht bemerkt, dass wir festgemacht waren und waren darüber verwundert, dass wir so lange in der gleichen Position dastanden. Das haben sie uns im nach hinein berichtet.
Wir wollten ein Zeichen setzen mit einer symbolischen Handlung, um zu zeigen, wie ernst es uns ist, den denkmalgeschützten Südflügel vor dem Abriss zu bewahren. Auch in der Hoffnung, dass doch noch irgend etwas geschehen würde, was dieser Zerstörung Einhalt gebieten würde. Dabei war uns schon klar, dass unsere Aktion den Abriss nicht aufhalten würde. Das war auch nicht unser Ziel.
Morgens, es war noch dunkel, kam eine Polizistin und forderte uns freundlich auf, den Platz zu verlassen. Wir erklärten ihr, dass wir festgemacht sind. Daraufhin kam die Einsatzleitung, um sich das genauer anzuschauen. Wir wurden gefragt, ob wir uns losmachen können. Wir verneinten dies. Danach kam die technische Einheit und weitere Polizisten. Unsere anderen Mitstreiter mussten – schweren Herzens – allesamt vom Platz gehen.
Die Polizisten versuchten erst mit einem kleinen Bolzenschneider die Fahrradschlösser durchzutrennen. Als das nicht gelang, nahmen sie einen größeren. Als das auch nicht gelang, kam eine Flex zum Einsatz. Zuvor erklärten uns die Polizisten von der technischen Einheit im einzelnen, wie sie vorgehen wollten und schützen uns mit dicken Decken vor Funkenflug an Hals und Kopf. Wir wurden sehr freundlich und höflich behandelt.
Sogenannte eingebettete Journalisten begleiteten diesen Vorgang. Sie wurden extra zu uns hingeführt, um uns zu fotografieren und zu filmen.
Irgendwann gegen 8 Uhr wurden wir weggeführt, und unsere Personalien wurden aufgenommen. Polizistinnen durchsuchten uns nach den Schlüsseln der Fahrradschlösser und anderen Gegenständen. Wir hatten die Schlösser noch um den Hals, da die technische Einheit nur die Gitterstäbe am Südflügel durchtrennt hatte, um uns freizumachen. Die Schlösser wurden später als Beweismittel einbehalten.
Man fuhr uns zu den Gewahrsams-Containern in Bad Cannstatt, die eigens für die Widerständler, die sich dem Tunnelvorhaben S 21 widersetzen, aufgestellt worden waren. Wir wurden hier zum zweiten Mal durchsucht. Dazu mussten wir uns komplett entkleiden, was ich als unangemessen und demütigend empfunden habe. Ich wurde dort auch einer erkennungsdienstlichen Behandlung unterzogen. Während der Untersuchungen waren wir voneinander getrennt. Gegen Mittag wurden wir wieder auf freien Fuß gesetzt. Ich habe mich zu jeder Zeit freundlich und kooperativ verhalten.
Aktion am 14.2.2012 gegen die Parkzerstörung
Wie viele andere Mitstreiter befanden wir uns schon lange vor der Parkräumung im Park .Ich besah mir noch einmal die schönen Bäume, die so unterschiedlich gewachsen waren. Unter diesen Bäumen auf der sattgrünen Wiese, die jetzt von Schnee bedeckt war, haben wir Parkschützer so vieles gemeinsam erlebt. Auch dachte ich an die Tiere, die ihren Lebensraum verlieren und an die Kinder, die hier nicht mehr spielen würden. Immer wieder hatten wir in den letzten Jahren Zeit im Park verbracht, manchmal auch dort unter freiem Himmel übernachtet.
Irgendwann haben sich viele von uns auf oder unter die Bäume im gesamten Mittleren Schloßgarten begeben. Manche legten sich unter die Bäume, andere saßen oder standen und unterhielten sich oder sangen. Ich versuchte zu schlafen, was mir aber nicht gelang.
Wann wir uns dann am Baum angekettet und mit den Fahrradschlössern aneinander festgemacht haben, kann ich nicht mehr sagen. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Da es wegen dem einsetzenden Schneeregen eiskalt war, hatten wir uns mit Erste-Hilfe-Decken, Wolldecken und Plastikplanen zugedeckt. Zusätzlich hielten wir noch Regenschirme über uns, um unsere Gesichter vor dem Schneeregen zu schützen. Von unseren Mitstreitern wurden wir gut versorgt.
Allerdings habe ich noch nie über so einen langen Zeitraum so unbequem gesessen, was mir noch eine ganze Woche lang Schmerzen bereitet hat, da ich direkt auf den Wurzeln des Baumes gesessen hatte.
Irgendwann wurden die Menschen von Polizeireihen aus dem Park gedrängt. Es war ihnen deutlich anzusehen, dass sie nur sehr widerstrebend den polizeilichen Anweisungen Folge leisteten, weil sie ahnten, dass der Park nun verloren war. Mir selber wurde es immer schwerer ums Herz, da ich wusste, dass dieser Park und diese Bäume bald zerstört würden.
Diejenigen, die nicht gehen wollten, wurden mitgenommen, andere von den Bäumen geholt. Nina und ich blieben. Wir konnten den Platz wegen der Fahrradschlösser, die um unseren Hals lagen, nicht verlassen. Polizisten zogen uns die Decken weg trotz Kälte und Schneeregen, obwohl wir ihnen gesagt hatten, dass wir nicht weggehen konnten, da wir die Schlüssel nicht mehr bei uns hatten. Sie gingen weiter und ließen uns recht lange ohne Kälteschutz sitzen.
Später kam die technische Einheit und zwickte unsere Schlösser mit einem hydraulischen Bolzenscheider durch, was sehr schnell ging. Sie führten das aus mit Ruhe und Bedacht und entfernten die Ketten. Wir waren dabei kooperativ und ließen uns losmachen. Nina durfte ihr Schloss behalten.
Wir wurden abgeführt von freundlichen Polizisten, die uns in ihre Mitte nahmen und uns selbstständig gehen ließen und zu dem Ort brachten, an dem die Personalien aufgenommen wurden. Anschließend wurden wir entlassen und bekamen einen Platzverweis für einen größeren Bereich um den Hauptbahnhof herum.
Ein Journalist vom ZDF kam von Zeit zu Zeit und filmte uns bis zu dem Moment, an dem wir abgeführt wurden. Damit hatten wir unser erstes Ziel erreicht, nämlich den Protest gegen die drohende Parkzerstörung in die Öffentlichkeit zu bringen. In diesem Interview erklärten wir, dass wir wussten, dass wir mit unserer Aktion die Zerstörung nicht aufhalten können, dass wir aber ein Zeichen der Verbundenheit setzen wollten. Das wurde im ZDF-Heutejournal ausgestrahlt.
Weshalb haben wir uns für diese Aktionen entschieden? Was ist dabei unser Anliegen?
Nina Picasso und mir ging es darum, in aller Öffentlichkeit zu zeigen, dass es nicht akzeptabel ist, was hier in unserer Stadt geschieht - eine solche Zerstörung für ein für das Gemeinwohl sinnloses Vorhaben. Wir wollten ein starkes symbolisches Zeichen setzen, das von Herz und Verstand geprägt ist. Wir wollten die Öffentlichkeit aufmerksam machen auf die Probleme, die hier herrschen und unsere Verbundenheit mit der Natur, mit den Bäumen und mit dem altehrwürdigen Park kundtun. Unser Ziel war es, ein Bild entstehen zu lassen, das Gewicht hat, das einen tiefen Eindruck bei den Menschen erzeugt und sie so beginnen, über die Parkzerstörung für Stuttgart 21 nachzudenken.
Wir wollten unsere Meinung sichtbar kundtun. Das ist gelungen, wenn wir die bundesweite Medienresonanz, z.B: Stuttgarter Zeitung, BILD, ZDF – betrachten. Bei der Stuttgarter Zeitung waren wir lange auf der Frontseite.
Als ich später den Film ansah, in dem wir portraitiert worden waren, dachte ich: Das muss ja auf die Zuschauer seltsam wirken, wie ich in alle Richtungen schaue. Der Grund war, dass mir in dem Moment klar wurde, dass wir jetzt gleich von der Polizei weggeholt würden, dass die Bäume dann gefällt würden, dass der Park also zerstört würde. Daher habe ich mir während des Interviews noch einmal die Bäume um uns herum betrachtet. Ich wusste, dass sie bald nicht mehr da sein werden.
Die Stuttgart 21-Betreiber werben immer mit den Ausgleichsmaßnahmen in Form von neu gepflanzten Bäumen. Doch ein großer, alter Baum ist ungleich mehr als kleine, dünne Stecklinge. Ein großer Baum ist von großer ökologischer Bedeutung für die Tierwelt und für uns Menschen. Angesichts der Feinstaub-Problematik mitten im Talkessel ist die Zerstörung dieses Parks besonders fatal. Ausgleichsflächen im fernen Umland helfen hier in Stuttgart nicht gegen schlechte Luft.
Wo sonst finden wir überhaupt die Möglichkeit, gehört zu werden und Einfluss auf die allgemeine Meinungsbildung zu nehmen? Es hatte ja auch den ernsthaften Versuch gegeben, unsere kritischen Flyer in den Bürgerbüros auszulegen. Nicht einmal das wurde uns gestattet.
Die ganzen Aktivitäten von Bürgern und Bürgerinitiativen, die schon seit den 90er Jahren darauf hingewiesen haben, wie schädlich das geplante Projekt S21 auf verschiedenen Ebenen des Gemeinwohls ist, wurden nicht zur Kenntnis genommen.
Nina Picasso und mir war es auch von Anfang an klar, dass wir die Polizei nicht aufhalten können. Wir haben uns nicht der Illusion hingegeben, dass wir das Tunnel- und Immobilienvorhaben S 21 verhindern können. Auch haben wir uns nicht der Polizei in den Weg gestellt. Sowohl beim Südflügel als auch im Schlossgarten konnten wir der polizeilichen Aufforderung aber nicht Folge leisten, da wir festgekettet waren.
Wir wussten, dass die Polizei ihre technischen Einheiten dabei hat und über alle Mittel verfügt, um uns schnell dort wegzuholen ohne Anstrengung und großen Aufwand. Wir haben uns nicht gewehrt und haben es auch nicht verhindert, dass sie uns losmachen. Es ging uns auch nicht darum, dass wir es der Polizei schwer machen wollten. Das ZDF hat uns in Abständen immer wieder gefilmt und interviewt, während wir losgemacht wurden. Auch aus diesem dem Gericht vorliegenden Film geht hervor, dass wir uns gewaltfrei verhalten haben. Ich beziehe mich in diesem Zusammenhang auch auf die Informationen, die Nina Picasso zu diesem Thema dem Gericht einreichen wird.
Der Kontakt zu den Polizisten war stets freundlich und wir waren jederzeit kooperativ. Nina Picasso und ich haben uns ganz bewusst dafür entschieden, dass wir unser Anliegen in einer gemeinsamen Aktion zum Ausdruck bringen wollten. Wir waren bereit, dafür die Unannehmlichkeiten, die solche Aktionen mit sich bringen, in Kauf zu nehmen.
Die Polizisten selber weisen explizit darauf hin, dass sie unsere Handlungen nur als Ausdruck von Protest erlebt haben. Sie bestätigten, dass wir friedlich, freundlich und kooperativ gewesen waren.
Es ist mir deshalb nicht nachvollziehbar, dass trotz dieser Bestätigung - immerhin von Vertretern der Staatsgewalt - das Amtsgericht und das Oberlandesgericht unser Verhalten als Gewalt wertet. Im Gegenteil befanden wir uns in einer hilflosen Situation, in der wir uns gegen gewalttätiges Handeln nicht hätten wehren können.
Im folgenden möchte ich jetzt auf weitere politische Gründe eingehen, die für mein Engagement gegen S 21 ausschlaggebend sind. Aus Zeitgründen beschränke ich mich auf einige wenige herausragende Punkte:
- Die Parlamente wurden mit der Kostenschätzung für S 21 mehrfach belogen und die Parlamentarier haben nie kritisch nachfragt.
- Die Öffentlichkeit wurde mit der Behauptung einer Verdoppelung der Leistungskapazität getäuscht. Von Anfang an war ein illegaler Rückbau geplant mit einer Leistungsreduzierung von ca. 30 %. Vorrangig werden hier die Interessen der Immobilienwirtschaft bedient.
- OB Schuster verhindert mit seiner Unterschrift unter die Finanzierungsvereinbarung den Bürgerentscheid.
- Illegale Einrichtung des Grundwassermanagements, die Planfeststellung war wegen der Abpumpmenge ungültig.
- Der frühere Ministerpräsident Oettinger hat dem Landtag die wahren Kosten verheimlicht, meiner Meinung nach ist dies eine arglistige Täuschung. Zudem wurde die Finanzierung trotz unvollständiger Planfeststellungen beschlossen.
- Die Brandschutzdirektion Stuttgart sieht trotz mehrerer Planänderungen weiterhin massive Mängel beim Brandschutz.
- Seit kurzem ist bekannt, in welchem Ausmaß der öffentliche Nahverkehr, insbesondere die Stadtbahnen, durch S 21 eingeschränkt werden. Welche Auswirkungen das auf das Stadtklima, die Feinstaubbelastung mit sich bringen wird, brauche ich hier nicht auszuführen.
- Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich alle unsere Befürchtungen bestätigt haben.