Ein unspektakulärer Prozess
Es gibt Prozesse, die sind so speziell, dass man dabei nichts lernen kann. Ich denke da an Mordprozesse, die zwar einen hohen Unterhaltungswert haben, aber dass die Bibel mit „du sollst nicht töten“ doch Recht hat, ist kein großer Erkenntnisgewinn.
Andere Prozesse sind dagegen im unteren Bereich der Unterhaltungsskala einzuordnen, da der „Fall“ vordergründig eindeutig ist (daran erkennbar, dass die Verhandlungsdauer incl. Urteilsfindung mit 30 Minuten angesetzt wird), da der Umfang der Anschuldigung im Bereich von Nichtigkeit liegt und schon gar nicht im öffentlichen Interesse (was ja ein Kriterium für die Verfolgung eines Vergehens ist).
Dennoch haben auch unspektakuläre Prozesse eine Anziehungskraft für ein breiteres Publikum, wenn es um Stuttgart 21 geht, wo gerne „mit Kanonen auf Spatzen geschossen wird“. So bei dem Verfahren am Mittwoch, 27. Januar 2016, am Amtsgericht Stuttgart.
Die Kernfrage: Wie schnell ist schnell?
Richterin Broß, der man zwar Desinteresse an der Analyse des Falls – schon wieder S21! - , nicht aber Unfreundlichkeit nachsagen konnte, hätte am Anfang des Verfahrens folgende Erklärung abgeben können: "Lieber Beschuldigter, es geht gar nicht darum, wie schnell S21 fertig wird, ob die LKWs auf der besagten Straße fahren durften, ob der Fahrer in seinem Auto saß, und ob überhaupt … es geht allein darum, wie schnell Sie sich auf die andere Straßenseite begeben haben. Sie sind eine Minute zu langsam gewesen. Sie haben eine Minute zu viel das freie Rollen des Feinstaubverkehrs behindert.“ So flapsig geht es natürlich nicht bei Gericht zu. Aber im Kern war das der Vorwurf, der mit einem Bußgeldbescheid an Thomas E. einhergegangen war: Verstoß gegen das Versammlungsrecht, da er sich nicht unverzüglich aus einer aufgelösten Versammlung entfernt habe.
Dieser Vorwurf kann jeden Demoteilnehmer treffen, denn die Schnelligkeit, mit der man sich aus einer aufgelösten Versammlung zu entfernen hat, bestimmt die Polizei. In der Regel hat sie „gute Laune“ und räumt den Demoteilnehmern einen angemessenen Zeitraum ein. Doch wartet nicht jeder Polizist geduldig, bis der Verkehr wieder ungehindert fließen kann. Es gibt Beamte, die nach fünf Jahren Dienst im Dienste von Stuttgart 21 angesichts einer Demo genervt sind, denen das Räumen von Demonstranten nicht schnell genug geht.
Eine problematische Melange
In diesem Zusammenhang darf auch ein Phänomen angesprochen werden, das die ungute Melange von Protestierenden und Polizei betrifft. Die nun seit fünf Jahren bestehende Bewegung bzw. der Widerstand gegen S21 hat ein schon als Ritual zu bezeichnendes Aufeinandertreffen von immer wieder denselben DemonstrantInnen und immer wieder denselben Polizisten bewirkt. Man kennt sich von zig Montags- und anderen Demonstrationen, vom Frühstück am Bauzaun, von Protestaktionen. Nicht wenige DemonstrantInnen tauschen sich mit Polizisten wie mit alten Bekannten aus, meistens über Rechtsfragen, politische und polizeiliche Themen.
Beide Seiten scheinen berechenbar. Sind sie es wirklich? Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich DemonstrantInnen täuschen lassen durch die vermeintlich so joviale Art der seit Jahren bestens bekannten Beamten. Dass diese auch anders können, bewies die Verhandlung am vergangenen Mittwoch. Da zeigte sich, dass ein Polizist im vergangenen Jahr möglicherweise „das Generve“ satt hatte, nämlich dass er regelmäßig dienstags zum Frühstück am Bauzaun gerufen wird, weil dort Menschen demonstrieren. Also wird auch mal Kante gezeigt und eine Anzeige erstattet. Könnte ja auch abschreckende Wirkung haben. Die Botschaft heißt „Das kostet euch was!“ Von Kriminalisierung des sozialen Protestes soll hier nicht gesprochen werden, doch ist seit fünf Jahren zu beobachten, dass Demonstranten oder Protestierende zur Kasse gebeten werden.
Warum überhaupt ein Verfahren?
So war es Thomas E. am Dienstag, 23. Juni 2015, ergangen. Da er sich nicht zügig genug auf die andere Straßenseite begeben hatte, sollte er ein Bußgeld von 100 Euro zahlen. Warum wurde die Anzeige von der Staatsanwaltschaft nicht eingestellt? Hätte die Justiz nicht genug zu tun? Und hätte der Beschuldigte nicht das Bußgeld zahlen können? Er hätte sich doch die zu erwartende Bestätigung des Bußgelds, die Gerichts- und Anwaltskosten sparen können. Das hat er aber nicht gemacht, denn er wollte Aufklärung im Sinne einer Analyse des Vorgangs.
Noch ein weiterer Aspekt war in diesem Prozess interessant: Es war ein „Fall“, der immer wieder DemoteilnehmerInnen betreffen kann, die sich in einer aufgelösten Demonstration befinden und dem Auflösungsbefehl unverzüglich folgen müssen. Aber wie schnell ist unverzüglich? Um es gleich zu sagen: Wie viel Zeit man DemonstrantInnen lässt, einer Anordnung „unverzüglich“ zu folgen, hängt vom Einsatzleiter ab. Diese Erkenntnis ist unbefriedigend, aber sie passt in das Konzept des Rahmenbefehls und in die Kategorie „Die Kleinen … die Großen…“.
Einlassung des Beschuldigten
Wie schon eingangs erwähnt, wurde Thomas E. beschuldigt, sich am 23.6.2015 morgens bei einer Demonstration in der Otto-Umfrid-Straße nicht unverzüglich aus der Versammlung entfernt zu haben, obwohl diese aufgelöst worden war. Es ging also um nichts anderes als um „unverzüglich“.
Thomas E. nahm sein Recht wahr, zum Sachverhalt Angaben zu machen. So schilderte er ausführlich die Situation von S21 mit Baustellen, Feinstaubproblematik und Verschlechterung des Bahnknotens; er führte andere der Bewegung K21 bestens bekannte Argumente gegen S21 an. Auch wenn die Richterin ihn ermahnte, zu dem speziellen Vorgang auszusagen und nicht allgemein zu S21, so ließ sich der Beschuldigte nicht beirren und stellte den Grund seiner Demonstration am 23. Juni ausführlich dar. Er sagte dann zu den Vorgängen am Tag der Demonstration: „… Die Polizisten vor Ort und das Ordnungsamt haben genug von Versammlungen gegen S21. Der ohne Behinderung fließende Verkehr hat Priorität, … normale Berufs- und Einkaufsstaus werden stoisch hingenommen … , die Verzögerung durch eine Demonstration im Rahmen der Grundrechte wird allerdings nicht hingenommen. … Deshalb war ich offensichtlich für Herrn H. an jenem Tag nicht schnell genug und auch nicht willens genug, um an den neuen zugewiesenen Versammlungsort zu springen. … Nach fünf Jahren Versammlung gegen S21 gestehe ich Herrn H. eine gewisse Ermüdung zu, jedoch ist der Betrug von S21 immer noch gegenwärtig und deshalb sehe ich für mich die Verantwortung, weiterhin die Wachen wachzuhalten und die Schlafenden und die vom Einschlafen Bedrohten auf den Umstand hinzuweisen, dass …“. An jenem Tag im Juni hätten zwei LKWs zwanzig Minuten auf ihre Weiterfahrt warten müssen - allerdings hätten sie gar nichts auf der Anliegerstraße zu suchen gehabt, denn Transporte im Wohngebiet der Umfridstraße seien verboten, da Baustellenfahrzeuge die Logistikstraße benutzen müssten.
Aussagen der Zeugin
Nachdem der Beschuldigte seine umfangreiche Einlassung der Richterin auch in Schriftform übergeben hatte, wurde die Zeugin POKin K. in den Gerichtssaal gerufen. Sie schilderte den Sachverhalt rund um die Blockade an jenem Dienstagmorgen. Sie erwähnte, dass die Demonstranten Privatfahrzeuge durchgelassen hätten, jedoch keine Baufahrzeuge. Es erfolgten vier Durchsagen der Polizei, die Fahrbahn zu räumen, ein alternativer Versammlungsort wurde zugewiesen, dann seien von der blockierenden Gruppe drei Personen stehen geblieben. Nachdem deren Personalien festgestellt worden waren, gingen zwei Personen zügig weg, die dritte Person – der Beschuldigte – schloss sich ihnen nicht an und wurde dann vom Einsatzleiter H. zur Seite geführt, wobei dieser mit Herrn E. langsam von der Fahrbahn gelaufen sei. Schon während der Räumung konnten die LKWs weiterfahren.
Wie schnell ist „unverzüglich“?
Da Thomas E. nur der Vorwurf gemacht werden konnte, dass er sich während der Auflösung der Demonstration nicht „unverzüglich“ an den Straßenrand begeben hatte („Ich bin 55, da läuft man nicht mehr so schnell“), ging es nun um den Begriff der Unverzüglichkeit. Dies warf die Frage auf, wie schnell schnell ist und woran das gemessen wird. Während die Zeugin zunächst gesagt hatte, dass der Beschuldigte um 7:30 die Straße verlassen habe, schränkte sie auf Nachfragen der Anwältin ein, dass es auch 7:21 oder 7:22 gewesen sein konnte, also unmittelbar nach dem Entfernen der anderen zwei Demonstranten, die um 7:20 weggegangen seien.
Plädoyer der Anwältin
Nachdem die Zeugin entlassen war, stellte die Anwältin in ihrem Plädoyer fest, dass die Demonstranten sich auf die Blockade des Baustellenverkehrs beschränkt hatten, da dieser die Anliegerstraße gar nicht habe befahren dürfen. Dass die LKWs die Baulogistikstraße nicht benutzten, kümmere jedoch die Polizei wenig. Die Demonstranten haben also Fahrzeuge blockiert, die dort gar nicht haben fahren dürfen. Bei anderen Demonstrationen an gleicher Stelle habe die Polizei Fahrzeuge zum Umkehren beordert. Warum nicht auch an jenem Tag? Ihr Mandant sei noch auf dem Zebrastreifen gestanden, als die LKWs schon nach Anweisung der Polizei vorbeifuhren. Er sei gerade dabei gewesen, kurz nach seinen Kameraden auch die Fahrbahn zu verlassen. In diesem Moment sei der Einsatzleiter gekommen. Diesem sei der Vorgang wohl nicht schnell genug gegangen.
Keine Illusionen
Auch wenn manch einer der etwa zwanzig Zuschauer insgeheim eine Einstellung des Verfahrens erhofft hatte („wegen ein oder zwei Minuten Langsamkeit wird man doch wohl nicht ein Bußgeld zahlen müssen“), so hatte sich Thomas E. keine Illusionen gemacht, denn schon in seinem Schlussplädoyer hatte er gesagt „… wir sind es gewohnt, verurteilt zu werden, … aber wundern darf ich mich schon, dass in den letzten drei Jahren kein Amtsgericht Zeit hatte, sich ausreichend mit S21 zu beschäftigen, um die richtigen Fragen zu diesem Projekt zu stellen.“
Das Urteil war dann auch eine Bestätigung des Bußgelds von 100 Euro wegen der „vorsätzlichen Ordnungswidrigkeit“. Die Richterin begründete das mit wenigen Sätzen: „Die Versammlung war aufgelöst. Wir haben von der Zeugin gehört, dass sich zwei Personen von der Straße entfernt haben. Sie standen noch. Sie haben sich nicht unverzüglich entfernt. Das Bußgeld ist der Tat und der Schuld angemessen.“
Fazit: Es ging dem polizeilichen Einsatzleiter allein um die Schnelligkeit, mit der der Beschuldigte die Fahrbahn verlassen hat, es ging um die Unverzüglichkeit. Das hat nun auch etwas mit „Bahnhof“ zu tun, denn von unverzüglich kommt man schnell zu … zügig … Züge … Zug …. Eines Tages werden die 20 oder 21 Züge im Tunnel weder unverzüglich noch zügig fahren, so sie denn jemals fahren werden. Da wird eine Minute Verzug nicht reichen. Und kein Richter wird sich dann an einen Prozess erinnern, in dem ein Demonstrant wegen ein bis zwei Minuten Langsamkeit bestraft wurde.
(Petra Brixel)
Danke Petra, sehr kurzweilig und zügig zusammengefasst!
Ich hätte die Beamten rechtzeitig anzeigen sollen, weil diese gegen das Grundrecht auf Versammlung verstoßen hatten!
Fazit: Traue keinem! Grüße an alle Anwesenden und danke fürs kommen! Tom Erben
Den Bericht verstehe ich nicht. Hätten die Lkws da tatsächlich nicht fahren dürfen ? Die Polizisten hätten diese Ordnungswidrigkeit verfolgen müssen. Selbsttätig. Legalitätsprinzip. Das wäre sonst Strafvereitelung im Amt und der wichtigste Vorgang von diesem Tag. Und das wäre jetzt sicher keine Ordnungswidrigkeit. Da es ALLEN beteiligten natürlich um den Rechtsstaat geht sollte der Sache Nachdruck verschafft werden. Pflichtvergessene Polizisten können wir uns in diesen Zeiten keinesfalls leisten.
Es sieht so aus. Aber es hat keiner danach gefragt, weder die Richterin noch damals die Polizisten vor Ort. Die gingen davon aus, dass „wohl schon alles Recht ist“. An anderen Tagen wurden LKWs zurückgeschickt, an jenem besagten Tag nicht. Dass Polizei handelt, weil sie davon ausgeht, dass „alles schon seine Richtigkeit haben wird“, kennen wir ja von vielen Fällen, der 30.9. ist das Paradebeispiel. Aber auch im Fall der Trauerweide Feuerbach, wo sich möglicherweise herausstellt (Strafantrag wurde gestellt), dass sie gar nicht hätte gefällt werden dürfen, hat die Polizei in vorauseilendem Gehorsam gehandelt. Erst mal das Fällen des Baumes schützen, dann sehen wir weiter. Leider.
4 Jahre hat die S21- Befürwortergruppe, das Amt für öffentliche Ordnung,das Justizministerium mit der Staatsanwaltschaft und das Polizeipräsidium Stuttgart behauptet, die Frühstückblockaden seien Verhinderungsblockaden und deshalb rechtwidrig. Mit dem seit ein paar Monaten ergangenen Verwaltungsgerichtsurteil und den Freisprüchen hauptsächlich beim Landgericht Stuttgart wurde deutlich, dass diese Behauptungen und die daraus ergangenen Strafbefehle und Bußgeldbescheide rechtswidrig waren. Versammlungen auch in Form von Sitz- und Stehblockade sind seit dem Verfassungsgerichtsurteil 1983, dem sogenannte Brokdorfurteil, Versammlungen im Sinne der Meinungsfreiheit und sind vom Versammlungsgesetz und dem Grundgesetz geschützt. Dass dies wieder mal von einer Amtgerichtsrichterin ignoriert wird, ist typisch für die Stuttgarter Rechtssprechung. Wie lange dürfen solche politisch motivierten und grundgesetzwidrigen Urteil in Stuttgart noch gefällt werden. Wie lange erlaubt sich das Amt für Öffenliche Ordnung in Stuttgart unter Vorsitz eines CDU- Angestellten noch dieses kriminalierende Handel der Ignoranz des Versammlungsgesetzes. Wie lange fungiert die Staatsanwaltschaft und das Polizeipräsidium Stuttgart als ausführendes Organ der kriminellen Machenschaften der S21-Befürworter? Es wird Zeit, dass in diesen Amtstube der Kehraus durchgeführt wird und mächtig sauber gemacht wird. Dies alles hat mit Rechtsstaalichkeit schon lange nichts mehr zu tun.-
oben bleiben und sauber kehren
Die Versammlung war ja anerkannt und aufgelöst worden, es ging nur nicht schnell genug. Das Urteil vom Verwaltungs-Gericht über die Frühstücksblockaden als Versammlung wird respektiert und auch umgesetzt seitens der Polizei. Sie erkennen die Frühstücksblockade als Versammlung an, sie weisen einen anderen Versammlungsort zu, sie lösen auf. Das war alles rechtmäßig und so, wie wir es wollten, geschehen. Es ging bei dem Prozess nur darum, dass Thomas E. nicht schnell genug weggegangen ist.