Rede von Dr. Winfried Wolf, Verkehrsexperte, Journalist, Herausgeber von Lunapark21, auf der 275. Montagsdemo am 15.6.2015
Die Bewegung gegen Stuttgart 21, der Lokführer-Streik und die Auseinandersetzung in Griechenland – fünf Gemeinsamkeiten
Liebe Freundinnen, liebe Freunde,
gestern Vormittag war ich noch in Athen. Nein – kein leicht vorgezogener Frühsommerurlaub. Ich war dort aus politischen Gründen – und führte Gespräche mit den Leuten der „Zeitung der Redakteure“ (EFSYN). Es geht darum, dass die neue Publikation „FaktenCheck: HELLAS – Solidarität mit der Bevölkerung in Griechenland“, von der bislang drei deutsche Ausgaben erschienen sind, am nächsten Montag auch in griechischer Sprache erscheinen soll und dann dieser wunderbaren Zeitung, auf die ich noch eingehen werde, beiliegt. Dort lautet dann der Untertitel bewusst anders. Er heißt: „Eine andere Stimme aus Deutschland.“
Ich hatte mit Tom Adler eigentlich ausgemacht, dass ich bei dieser Montagsdemo auf den Arbeitskampf eingehen werde, den die GDL seit Sommer 2014 führt – und der sich gerade in der Schlichtungsphase befindet. Das ist ja auch durchaus eines meiner Themen.
Da ich jedoch noch voll von den Eindrücken aus Griechenland war, dachte ich darüber nach, was es denn Verbindendes und Gemeinsames bei diesen drei gesellschaftlichen Auseinandersetzungen – Stuttgart 21, GDL/Bahn-Konflikt und dem Überlebenskampf in Griechenland – geben könnte. Und siehe da: Es gibt fünf Parallelen – vier Gemeinsamkeiten, was die zerstörerischen Tendenzen der Gegenseite (Bahn, Bundesregierung und EU) betrifft. Und eine Gemeinsamkeit, die den subjektiven Faktor und damit teilweise uns betrifft.
Erste Gemeinsamkeit: Es geht denen „da oben“ gar nicht um die Sache. Verfolgt wird vielmehr in allen drei debattierten Fällen eine politische Agenda. Man kann auch sagen: Den Herren und Damen ganz oben geht es um Ideologie.
Die „Sache“ wäre im Fall Stuttgart: der Bau eines optimalen Hauptbahnhofs. Und das ist ein optimierter Kopfbahnhof. Eben: Köpfchen und OBEN BLEIBEN.
Im Fall des Tarifkonflikts bei der Bahn ist die „Sache“ an sich auch klar: Es geht darum, einen für beiden Seiten akzeptablen Vertrag zu schließen. Und dabei insbesondere auch den qualitativen Forderungen der GDL gerecht zu werden wie: Verkürzung der Arbeitszeit, Begrenzung der Überstunden, Einstellung von rund 800 neuen Lokomotivführerinnen und Lokomotivführern. Es geht aus meiner Sicht auch darum, eine Wende in der Bahnpolitik herbeizuführen und offensiv die Schiene in unserem Land auszubauen.
Gerade las ich die Meldung, wonach die Deutsche Bahn AG zusagt, auch Friedrichshafen und Lindau wieder in das Fernverkehrsnetz aufzunehmen … bis zum Jahr 2029. Solange würde es noch dauern, bis die Südbahn – die Strecke Ulm – Friedrichshafen – elektrifiziert würde. Dann feiern wir das Hundertjährige: Denn vor 100 Jahren, Mitte der 1920er Jahre, wurde erstmals offiziell zugesagt, die Südbahn werde elektrifiziert.
Im Fall Griechenland besteht die „Sache“ eigentlich darin, dass endlich diese wahnsinnige Austeritätspolitik gestoppt werden und eine Politik der Stärkung der Nachfrage im Inland selbst betrieben werden muss. Diese Austeritätspolitik, die die EU, der IWF und insbesondere die deutsche Bundesregierung dem Land aufzwang, führte zu einem Abbau der Beschäftigung im öffentlichen Sektor um knapp 40 Prozent, zu einer allgemeinen Senkung so gut wie aller Einkommen um 25 bis 30 Prozent, zu einer Verdreifachung der Arbeitslosenquote von 8 auf knapp 30 Prozent und zu dem Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit auf unglaubliche 65 Prozent. All dies mündet in das Gegenteil dessen, was behauptet wurde: die Krise in Griechenland hat sich von Jahr zu Jahr vertieft.
Offensichtlich geht es in all den drei Fällen eben nicht um die SACHE, um das Naheliegende, um das für die Menschen und die Gesellschaft Sinnvolle.
Im Fall Stuttgart ist hier vor Ort allseits bekannt, worum es geht, welche politischen Interessen da verfolgt werden. Frau Merkel, die Kanzlerin, hat S21 zur „Chefsache“ erklärt. Sie verkündete ex cathedra: Falls Stuttgart 21 nicht kommt, würde sich Deutschland europaweit blamieren. An dem Projekt S21 entscheide sich „die Zukunftsfähigkeit Europas“. Eine Zukunft mit Blick in 60 Kilometer lange Tunnelröhren. Ohne Ausblick. Ohne Durchblick.
Im Fall des Tarifkonflikts bei der Bahn geht es nicht um das skizzierte Sachliche. Es geht um ein konkretes politisches Projekt: um das Tarifeinheitsgesetz. Dieses Gesetz trieben Frau Merkel und Frau Nahles seit Sommer 2014 und just parallel zur Tarifauseinandersetzung im Bundestag voran. Dieses Gesetz wurde pünktlich während des letzten GDL-Streiks im deutschen Parlament verabschiedet. Mit diesem Gesetz sollen kampfstarke kleine Gewerkschaften wie Cockpit bei der Lufthansa, der Marburger Bund in vielen Krankenhäusern und die GDL im Bereich des gesamten Zugpersonals geduckt und diesen das Streikrecht verwehrt werden.
Im Fall Griechenland geht es der Regierung in Berlin und geht es der EU und dem IWF ebenfalls nicht um die Sache. Alle vor Ort in Griechenland sagen: Hätten die Griechinnen und Griechen Ende Januar das getan, was ihnen Frau Merkel und die EU rieten, wozu es auch eine massive mediale Kampagne im Land gegeben hatte, hätten sie also den Merkel-Juncker-Freund Samaras erneut im Amt des Ministerpräsidenten bestätigt, dann hätte es in Griechenland längst einen neuen Schuldenschnitt gegeben, dann gäbe es nicht diese massive und aggressive EU-Politik, wonach die Austeritätspolitik, die die Krise verschärft hat, nochmals verschärft werden müsse.
Es geht um das Folgende: Diese Linksregierung soll in den Dreck gedrückt werden. Solche frechen Jungs wie z.B. der Herr Yannis Varoufakis, der den deutschen Herrn Finanzminister Schäuble die Aufwartung macht und dabei das Hemd aus der Hose hängen lässt, oder dieser Herr Alexis Tsipras, der diesen Sepp Blatter der EU, diesen Herrn Juncker, immer wieder mit Besuchen beehrt und dabei par-tout keine Krawatte trägt … also diese frechen und erfrischenden Menschen sollen unbedingt entzaubert, vorgeführt und gedemütigt werden.
Die Bilanz bei dieser ersten Gemeinsamkeit lautet: Die Herrschenden verfolgen in Athen, im Fall der GDL und in Stuttgart bei S21 jeweils eine politische und ideologische Agenda. Vor allem geht es darum, dass Mut bringende Bewegungen und Organisationen, dass die Bewegung gegen Stuttgart 21, dass die GDL und dass SYRIZA keinen Erfolg haben dürfen. Weil ein solcher Erfolg ansteckend wirken würde.
Zweite Gemeinsamkeit: In allen drei Fällen gibt es eine Fremdsteuerung und eine Fernsteuerung.
In Stuttgart, hier vor Ort, ist sehr wohl bekannt, um was es bei S21 in Wirklichkeit geht. Es geht höchst direkt um Immobilieninteressen. Es geht um Interessen der Baulobby. Es geht, mittelfristig, um die Interessen derjenigen, die keine starke umweltfreundliche Bahn wollen und die die Autogesellschaft immer weiter ausbauen und intensivieren wollen – was die Automanager und Daimler-Mannen, die dann im Nebenberuf auch als Bahnchefs agierten, Heinz Dürr, Hartmut Mehdorn und Rüdiger Grube bereits als Personen dokumentieren.
Diese Fernsteuerung bei der Bahn erfolgt meist stillschweigend und klammheimlich, ist bereits in das System Deutsche Bahn AG eingebaut. Manchmal gibt es aber auch bemerkenswerte Eingriffe von außen. Dies war der Fall, als Ronald Pofalla, der IM von Frau Merkel, im März 2013 die Aufsichtsräte der Deutschen Bahn AG bearbeitete und durchsetzte, dass diese den neuerlichen Kostenanstieg von 4,5 auf 6,8 Milliarden Euro im Aufsichtsrat durchwinkten – übrigens mit den Stimmen aller EVG-Aufsichtsräte und gegen die Stimme des einzigen Aufsichtsrat der GDL.
Im Fall der GDL und beim Tarifeinheitsgesetz geht es um die Durchsetzung der Interessen der Bosse, der Arbeitgeber. Es war der Arbeitgeberverband BDA, der im Jahr 2010 erstmals das Projekt eines Tarifeinheitsgesetzes vorstellte – fatalerweise gemeinsam mit dem DGB. Die – weitgehend inzwischen handzahmen – „Großgewerkschaften“ sind Profiteure dieses Gesetzes. Und so wird es heute von der IG Metall, von der IG BAU, von der IG BCE und von der Bahnhausgewerkschaft EVG mitgetragen. Gleichzeitig wird das Gesetz – das sei zur Ehrenrettung der betreffenden DGB-Gewerkschaften gesagt – seitens der Gewerkschaften verdi, NGG und GEW abgelehnt.
Wobei das Tragische wieder einmal in dem Folgenden liegt: Kurzfristig mag es „nur“ darum gehen, dass GDL und andere sog. Spartengewerkschaften an den Rand gedrängt werden. Doch langfristig geht es natürlich um die generelle Einschränkung des Streikrechts.
Nun konnte die GDL darüber hinaus das Folgende aufdecken und wir konnten dies in der STREIKZEITUNG Nr. 4 ausführlich belegen: Der offizielle Vertreter der Deutschen Bahn AG bei den Tarifverhandlungen, ein gewisser Herr Werner Bayreuther, ist im Nebenberuf – oder ist es doch der Hauptberuf? – aktiv als Seminarleiter beim „Schranner Negotiation Institute“. Dieses Institut mit Sitz in Zürich geht davon aus, dass es in Deutschland eine falsch verstandene „Kultur des Kompromisses“ geben würde. Dass damit Schluss gemacht werden müsste. Der Leiter des genannten Instituts, bei dem der Verhandlungsführer der Deutschen Bahn AG engagiert ist, rückt Tarifverhandlungen in die Nähe von Verhandlungen zwischen Polizei und Geiselnehmern. Er rät massiv davon ab, in solchen Verhandlungen nachzugeben und einen Kompromiss zu suchen. Das Institut gibt auch Ratschläge ab, wie in einer Art psychologischer Kriegsführung gegen den Gegner vorgegangen werden soll, dass zum Beispiel deren Spitzenmann als „schwierige Persönlichkeit“ hingestellt werden sollte – just so, wie man mit Claus Weselsky umsprang.
Im Fall Griechenland sind die Steuerungskräfte und ist die „Fremdeinwirkung“ zu suchen bei den Finanzmärkten, vertreten durch den Internationalen Währungsfonds. Das Schulden-Machen ist ein höchst einträgliches Geschäftsmodell im aktuellen Kapitalismus. Griechenland war für diese Finanzmärkte enorm lukrativ.
Zwei Beispiele:
1. Seit 2009 erhielt Griechenland von den internationalen Gläubigern 227 Milliarden Euro an neuen Krediten. Doch im gleichen Zeitraum – 2009 bis 2014 – zahlte das Land 194 Milliarden Euro für Zins und Tilgung an die privaten Finanzinstitute und die staatlichen und EU-Gläubiger. Griechenland zahlte also für Zins und Tilgung bereits rund 90 % dessen, was es seit 2009 erhielt.
2. Seit 1991 zahlte Griechenland 664 Milliarden Euro an die Finanzinstitute. Das ist doppelt so viel, wie der gesamte aktuelle Schuldenberg Griechenlands (in Höhe von 317 Milliarden Euro) ausmacht.
Bilanz: Es findet eine allgemeine Unterwerfung von gesellschaftlichen Belangen unter die Interessen des Kapitals im Allgemeinen und unter das Prinzip der Profitmaximierung im Besonderen statt.
Die dritte Gemeinsamkeit: In allen drei Fällen handeln die Verantwortlichen extrem unverantwortlich beim Umgang mit den ihnen anvertrauten Steuergeldern.
Im Fall Stuttgart 21 ist das hier bekannt. Angepriesen wurde S21 im Jahr 1994 für zwei Milliarden DM. Das wurde dann bald darauf umgerubelt in zwei Milliarden Euro. Dann waren es Mitte 2011 im Vorfeld der Volksabstimmung 4,5 Milliarden Euro – nunmehr mit dem Gütesiegel „endgültiger Kos-tendeckel“ versehen. Seit März 2013 sind es 6,8 Milliarden Euro. Und alle wissen: 10 Milliarden Euro werden am Ende noch lange nicht die Obergrenze sein. Eine neue – eigentlich bereits zwei Jahre alte Kostenschätzung des Bundesrechnungshofs wird bislang von der Bundesregierung unter Verschluss gehalten.
Im Fall des Tarifkonflikts Bahn-GDL sieht es wie folgt aus: Die Auseinandersetzung mit neun Streiks kostete die Deutsche Bahn AG direkt bislang nach eigenen Aussagen rund 400 Millionen Euro. Hinzu kommen mehrere Milliarden Euro an volkswirtschaftliche Kosten. Die Imagebeschädigung, die der Schienenverkehr auf diese Weise erlitt, ist kaum bewertbar. Mit diesen Summen hätte der Bahnkonzern alle Forderungen der GDL über mehrere Jahre hinweg erfüllen und bezahlen können. Jeder „normale“ Konzern hätte längst einen Kompromiss gesucht und gefunden. Grube und sein Top-Management tun dies nicht. Und warum handeln sie so? Eben weil sie eine politische Agenda verfolgen, weil sie fern- bzw. fremdgesteuert agieren. Und weil die Bundesregierung als Vertreterin des Eigentümers der Deutschen Bahn AG entsprechende Vorgaben macht.
Vergleichbares lässt sich auch zu Griechenland sagen. Das Land war 2009 faktisch pleite. Damit aber hätten vor allem die europäischen Finanzinstitute erhebliche Verluste hinnehmen müssen. Und diese hätten sie auch tragen können; schließlich haben sie zuvor auch gut an Griechenland verdient.
Stattdessen erhielt Griechenland in großem Umfang neue Kredite. Diese wurden dem Land förmlich aufgenötigt – seitens der EU, seitens der Berliner Regierung – jeweils im Verbund mit den damaligen griechischen Regierungen, die von Parteien gestellt wurden, die Partner von CDU/CSU und SPD waren. Doch diese Gelder flossen maximal zu 10 Prozent in den griechischen Haushalt; in noch geringerem Maß kam davon etwas bei den Menschen vor Ort an. Diese Summen dienten im Wesentlichen dafür, die Schuldentitel der privaten Banken in Deutschland, in Frankreich, im übrigen Europa und teilweise diejenigen der griechischen Banken zu übernehmen und diese in öffentliche Schulden, zum Beispiel solche der EZB, umzuwandeln. Im Wesentlichen bestand die gesamte Operation darin, aus privaten Bankschulden öffentliche Schulden zu machen.
Das Resultat ist grotesk. Trotz der rigorosen „Sparpolitik“, die ich bereits beschrieb, trotz des Schuldenschnitts, den es ein Mal gab, stieg die Verschuldung Griechenlands weiter an. Sie stieg absolut an – von 264 Milliarden Euro im Jahr 2008 auf 320 Milliarden Euro im Jahr 2014. Sie stieg dann vor allem jedoch relativ an – bei dem entscheidenden Indikator „Schuldenquote“. Damit wird der Anteil der öffentlichen Schulden am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt gemessen. Diese Schuldenquote betrug 2008 noch 108 Prozent, die öffentlichen Schulden lagen demnach um 8 Prozent über dem damaligen Bruttoinlandsprodukt. Ende 2014 lag sie dann bei 174 Prozent. Die öffentlichen Schulden übersteigen inzwischen das BIP um rund 75 Prozent. Damit ist die griechische Schuldenlast nach allen vorliegenden Erkenntnissen nicht mehr tragbar; das Land und die Menschen in Griechenland können diese Schulden aus eigenen Kräften nicht abtragen. Kommt es nicht zu einem radikalen Schuldenschnitt und zu einer Abkehr des Sparkurses, der das Wachstum verhindert und die Krise verschärft, so wird die Spirale einer ständig höheren Verschuldung immer weiter gedreht.
Bilanz dieser dritten Gemeinsamkeit: Die Verantwortlichen machen sich der Untreue schuldig. Es findet eine Veruntreuung von Steueraufkommen in Höhe hunderter Milliarden statt. Und dies flächendeckend.
Vierte Parallele: Es gibt eine unsägliche Politik der Verdummung durch die vorherrschenden Medien; Ignoranz und Desinformation sind vorherrschend.
Im Fall Stuttgart und S21 ist dies vor Ort bekannt. Als S21 aus der Taufe gehoben wurde, da hieß es: Ziel ist die Vergrößerung der Kapazität des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Eine andere Aussage war: Stuttgart 21 ist die „Jahrhundertchance“ zur Entwicklung der baden-württembergischen Landes-hauptstadt. Später, als die Kosten immer mehr stiegen und der wahre Charakter von S21 immer deutlicher wurde, wurde der Schalter umgelegt, auf Schweigen, Weggucken, Ignorieren. Dies gilt vor allem für die bundesweit relevanten Medien.
Als es im Mai zu der ersten großen Anhörung im Bundestag zu S21 kam, da wurde eine Übertragung der Anhörung – obgleich die Anhörung formal öffentlich war – abgelehnt. Eine Aufzeichnung wurde ebenfalls abgelehnt. Fotografieren war verboten. Die Journalisten der bundesweit wichtigen Medien waren nicht anwesend. Und es gab in diesen bundesweit wichtigen Medien so gut wie keine Berichte – mit der löblichen Ausnahme des „Stern“. Über den Skandal, dass die vier Vertreter der Deutschen Bahn AG bzw. des S21-Projekts keine einzige schriftliche Stellungnahme eingereicht hatten mit der absurden Begründung, gegenüber dem Stand von 2010 gäbe es keine relevanten neuen Entwicklungen. Selbst dazu gab es in diesen Medien keinen Aufschrei.
Oder nehmen wir den Tod des bundesweit höchst renommierten Architekten Frei Otto Anfang des Jahres 2015. Der Mann war einer der beiden Architekten, die Stuttgart 21 aus der Taufe gehoben hatten. Er hatte sich aber auch von diesem Projekt losgesagt und sich der Kritik an S21, wie sie hier geäußert wird, angeschlossen. Doch in den Dutzenden Berichten zu seinem Tod wurde in der Regel Stuttgart 21 gar nicht erst erwähnt. Und wenn dieses Thema gestreift wurde, so wurde nirgendwo die entscheidende Tatsache mitgeteilt, wonach Frei Otto das Projekt Stuttgart 21 als den größten Fehler seines Architekten-Lebens bezeichnet hatte.
Im Fall der GDL gab es in erster Linie eine unsägliche mediale Hetze und Demagogie gegen die GDL im Allgemeinen und gegen deren Bundesvorsitzenden im Besonderen. Über Inhalte wurde kaum berichtet. Beispielsweise wurde nicht darüber berichtet, dass die Lokführer und die Zugbegleiter inzwi-schen rund 4 Millionen Überstunden aufgehäuft haben. Diese machen 40 Prozent aller Überstunden im Bahnkonzern aus. Doch die genannten Berufsgruppen entsprechen nur 10 Prozent Anteil an der gesamten Bahnbelegschaft.
Als die GDL aufdeckte, welche Engagements besagter Werner Bayreuther einging, dass hier der Arbeitgebervertreter eines Bundeskonzerns mit einem gewerkschaftsfeindlichen Institut im Ausland verbandelt war, da gab es in den bundesweiten Medien Null Reaktion.
Der Fall Griechenland ist hinsichtlich der Medien ebenfalls ein krasser Fall von Dauer-Desinformation. Da heißt es: „Die Griechen“ müssten „endlich Ja sagen zu Reformen“. Es heißt, das Land müsse „endliche eine Reformliste“ vorlegen. Der Grieche als solcher sei unfähig, eine solche „Liste“ zu erstellen. Eventuell lesen und hören wir noch von einer notwendigen „Rentenreform“. Und von einer „notwendigen Abschaffung der Zusatzrenten“. Und dann ist da noch die Rede von einer notwendigen „Vereinfachung der Mehrwertsteuer“.
Um was geht es aber in Wirklichkeit? Gefordert wird von der EU, der Berliner Regierung und dem IWF eine weitere, massive Kürzung der Renten – die dritte in Folge. Es geht um Reduktionen der Alterseinkommen um weitere 20 bis 25 Prozent. (Die „Zusatzrenten“ – eine Art betrieblicher Renten – sind bei vielen Seniorinnen und Senioren Teil der Alterseinkommen).
Gefordert wird sodann die allgemeine Anhebung der Mehrwertsteuer u.a. auf Energie, pharmazeutische Produkte um bis zu 10 Prozentpunkte auf dann 23 Prozent.
Damit würden Einkommen ein weiteres Mal reduziert. Der innere Markt würde auf diese Weise noch mehr eingeschränkt. Die Krise würde vertieft und die Armut gesteigert. Und dies alles unter Bedin-gungen, wo in Griechenland heute bereits rund ein Drittel der Menschen unterhalb der Armutsgrenze lebt.
Bilanz: Es gibt ein flächendeckendes Versagen der Medien. Die notwendige demokratische Informationspolitik findet nicht oder höchst unzureichend statt. Umso wichtiger sind Formen der demokratischen Gegenöffentlichkeit.
Die fünfte und letzte Gemeinsamkeit betrifft den subjektiven Faktor, darunter uns. Es geht um den Widerstand gegen diese vier beschriebenen, zerstörerischen Tendenzen.
In allen drei Fällen gibt es eine bewundernswürdige Gegenwehr. Wir erleben einen hartnäckigen, phantasiereichen und kulturvollen Widerstand. Eine wunderbare Form der Selbsttätigkeit, der Aktivierung von Menschen, die bisher oft passiv gewesen sind. Die Aneignung von Wissen, auch viel Fachwissen. Die Entwicklung von Kultur auf breiter Ebene.
Im Fall Stuttgart ist das hier vor Ort bekannt. Anderswo eher nicht. Vor ein paar Tagen ging es darum, dass wir eine große Sendung mit 500 Alternativen Geschäftsberichten Deutsche Bahn AG und 8000 Exemplaren der Griechenlandsolidaritätszeitung FaktenCheck: HELLAS von Berlin nach Stuttgart zu versenden hatten. Ich nannte unserer kleinen Vertriebsfirma als Zustelladresse die Mahnwache am Stuttgarter Hauptbahnhof – und sagte, das sei die sicherste Adresse in Stuttgart, wo Tag und Nacht Post angenommen wird. Eine Adresse, die faktisch inzwischen Postoffiziell ist – obgleich es sich doch rein formal um eine Art Schwarzbau – oder „Schwarz-Zelt“ – handeln dürfte. Die Leute von der Vertriebsfirma reagierten reichlich verwirrt. Doch die Auslieferung fand problemlos statt.
Im Fall der GDL erlebten wir seit Sommer 2014 neun Streiks der GDL – Streiks, die immer neu notwendig wurden, weil die Bahn sich verbunkert hatte und faktisch nicht verhandlungsbereit war bzw. weil sie mit den Streiks erst wieder zu vernünftigen Verhandlungen gezwungen werden musste. Und immer hieß es in den Medien: Die GDL-Basis sei streikmüde. Der GDL-Bundesvorsitzende Weselsky nötige gewissermaßen seine Mitglieder, diese Streiks zu führen. Eine wirklich absurde Vorstellung, wie Gewerkschaften und Streiks „funktionieren“. Tatsächlich wurden die Streiks wohl organisiert geführt. Die Streikfront stand.
In Griechenland geht es eben nicht primär um den Wahlsieg von SYRIZA von Ende Januar. Natürlich war dieser Wahlsieg wichtig und Mut machend. Doch es geht um weit mehr. In diesem Land entwickelte sich in den letzten Jahren in vielen gesellschaftlichen Bereichen eine breite Basisbewegung.
Eine Bewegung gegen die faschistische Bedrohung, die von den Nazis und der Partei „Goldene Morgenröte“ ausgeht. Diese Partei konnte bei den letzten Wahlen entgegen vieler Vorhersagen aufgrund dieser gesellschaftlichen, demokratischen Gegenbewegung eben nicht zulegen – völlig anders als der Front National in Frankeich, wo es leider eine viel zu gering entwickelte antifaschistische Bewegung gibt.
Es gab in Griechenland diese wunderbare breite Solidarität mit den Putzfrauen, die bei den staatlichen Ministerien als Teil der „Sparmaßnahmen“ gefeuert worden waren – und die jetzt vor ein paar Wochen wieder eingestellt wurden. Es gibt die engagierte Bewegung gegen den Goldabbau auf der Halbinsel Chalkidike, wo das Edelmetall in großem Maßstab mit giftigen Stoffen aus der Erde gespült werden soll, was mit enormen Umweltschäden und einer Verseuchung des Grundwassers verbunden ist.
Es gab die Bewegung zur Wiedereröffnung von ERT, des staatlichen Rundfunks und des staatlichen Fernsehens. Diese Institution war vor zwei Jahren in Form einer staatlichen Putschmaßnahme von heute auf morgen geschlossen und bis zu 2000 Beschäftigte arbeitslos gemacht worden. Am Donnerstag in der letzten Woche wurde von Tausenden Menschen die Wiedereröffnung gefeiert - ich konnte an der bewegenden Fete, bei der auch Alexis Tsipras und Yannis Varoufakis präsent waren, teilnehmen.
Es gibt ein vielfaches Engagement für die Zehntausende von Flüchtlingen, die in dieses Land kommen. Wobei die EU Griechenland diesbezüglich weitgehend allein lässt, ähnlich wie im Fall Italien. In Griechenland leben bis zu einer Million Migrantinnen und Migranten, ein Zehntel der gesamten Bevölkerung. Aktuell ist eine Gesetzesinitiative auf dem Weg, mit der rund 140.000 von ihnen, vor allem Kindern und Jugendlichen, die griechische Staatsbürgerschaft verliehen werden soll. Wir werden darüber in der nächsten Ausgabe von FaktenCheck: HELLAS berichten.
Es gab die Herausbildung und Organisierung von 40 „solidarischen Praxen“, von Gesundheitszentren, in denen landesweit täglich Tausende Patientinnen und Patienten gratis versorgt werden, weil die öffentliche Gesundheitsversorgung über weite Strecken als Folge der Maßnahmen der EU zusammengebrochen ist, und weil inzwischen ein Drittel der griechischen Bevölkerung keine Krankenversicherung mehr hat. Wir berichteten darüber ausführlich in der zweiten Ausgabe von FaktenCheck: HELLAS.
Es gibt eine Zeitung der Redakteure, besagte Tageszeitung mit dem Kürzel EFSYN, mit einem Team von mehr als 100 Leuten, bestehend aus Redakteuren, Korrekturlesenden, technischem Personal, die alle für einen Einheitslohn arbeiten und Tag für Tag mit steigender Auflage eine echte linke Qualitätszeitung produzieren.
Liebe Freundinnen, liebe Freude, die Bewegung gegen Stuttgart 21 und die Montagsdemonstrationen sind für viele Menschen in ganz Deutschland und vielerorts in Europa zu einem Vorbild geworden. Diese Bewegung steht zunehmend auch dafür, dass andere wichtige Kämpfe hier in Stuttgart, oft auf den Montagsdemonstrationen, eine Plattform erhalten – dass sie dort ihren Kampf und ihre Engagements vorstellen und erläutern.
So sprach hier bereits der Kollege und Freund Thilo Böhmer, ein Lokomotivführer der GDL. Es sprachen hier Leute aus dem Widerstand gegen den fortgesetzten Ausbau des Frankfurter Flughafens. Es sprachen Vertreterinnen des Widerstands gegen das Großprojekt der Hochgeschwindigkeitsstrecke Lyon –Turin, Frauen aus dem Val di Susa und aus Turin. Es sprach hier Tiziano Cardosi aus Florenz, wo es ein ähnlich absurdes Projekt eines Untergrundbahnhofs gibt wie in Stuttgart.
Es wäre wunderbar und ein weiteres Zeichen für Eure Solidarität und für die Breite der hiesigen Widerstandskultur, wenn Griechinnen und Griechen hier eine Plattform erhielten, um wahrheitsgemäß über die Situation in ihrem Land – und über die zerstörerische Politik, die dort auch unsere deutsche Regierung anrichtet, zu berichten.
Ich bedanke mich für Eure Aufmerksamkeit.
Wir werden: OBEN BLEIBEN!