Rede von Sabine Leidig, MdB und verkehrspolitische Sprecherin DIE LINKE, auf der 271. Montagsdemo am 11.5.2015
Anhörung zu Stuttgart 21 im Bundestag
Liebe Freundinnen und Freunde,
am vergangenen Mittwoch hat der Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages eine öffentliche Anhörung zu „den Mängeln des Projektes Stuttgart 21“ durchgeführt. Er muss das, weil die Opposition das Recht hat, eine solche Anhörung zu veranlassen. Und alleine die Tatsache, dass es den Großkoalitionären aus CDU/CSU und SPD nicht vergönnt war, einfach den großen „Verschweigeteppich“ auf diesen Sündenfall zu lassen, war schon nicht schlecht.
Diese Regierungsmehrheit versündigt sich am Allgemeinwohl, an der Demokratie und am gesunden Menschenverstand. Aber ihr sorgt mit eurem unablässigen Protest dafür, dass es kein „Schwamm drüber gibt“ – dafür will ich mich ausdrücklich bedanken. Ohne das Aktionsbündnis, die Parkschützer, die vielen Aktiven gegen Stuttgart 21, ohne die unzähligen Veranstaltungen, Aktionen und Fachleute, ohne die unermüdlichen Mahnwachen und die Montagsdemos, könnte auch die Opposition in den Parlamenten nichts bewirken.
Die Opposition im Bundestag, das sind die Grünen und die Linken.
(Und die kurze Geschichte dieser Anhörung hat vor einem Jahr begonnen. Auf einer tollen Konferenz hier im Rathaus haben wir das Ergebnis von 20 Jahren Bahnreform und 10 Jahren S21 bilanziert, und im Anschluss hat Bernd Riexinger die Frage aufgeworfen, ob nicht ein Untersuchungsausschuss im Bundestag fällig wäre. Dann haben viele an die Grünen und an uns geschrieben und diesen Vorschlag unterstützt, und in einem Workshop mit Vertretern vom Aktionsbündnis haben wir dann einen Fahrplan beschlossen. Ein Untersuchungsausschuss funktioniert leider nicht, weil wir immer ausgebremst werden von der Mehrheit, die behauptet, dass Detailinformationen über die Deutsche Bahn AG dem Betriebsgeheimnis unterliegen.)
Gemeinsam mit Matthias Gastel, dem bahnpolitischen Sprecher der Grünen im Bundestag, habe ich mit meinem Büroteam einen Antrag ausgearbeitet und begründet, dass Stuttgart 21 auf den Prüfstand muss und dass der Bund dafür verantwortlich ist. Den haben die beiden Fraktionen zusammen eingebracht – das ist schon was sehr Besonderes. Und anlässlich der Beratung im Ausschuss kam es eben zur öffentlichen Anhörung. Das ist eine sehr steife Angelegenheit nach festen Regeln. Wir konnten jeweils einen Sachverständigen benennen – die CDU/CSU drei und die SPD zwei.
Für uns waren da Matthias Lieb vom VCD-Baden-Württemberg und Arno Luik, der für seine Recherchen zu S21 einen wichtigen Journalistenpreis bekommen hat. Er hat auch unmittelbar vor der Anhörung nochmal einen sehr kritischen Artikel im STERN veröffentlicht, auf den es sehr viel zustimmende Beiträge auf der online-Plattform gegeben hat. Beide haben sehr gehaltvolle schriftliche Stellungnahmen vorgelegt. Arno Luik beschreibt die Stuttgart-Story wie einen Politikrimi, was sie ja auch ist.
Spätestens jetzt müssten es zumindest die Bundestagsabgeordneten im Verkehrsausschuss wissen: S21 wird, so es denn je verwirklicht wird, ein Schadbahnhof der ganz ganz besonderen Art: in Fragen der Leistung, der Sicherheit, des Brandschutzes, des Komforts für die Reisenden, der ständig steigenden Kosten, der Unwirtschaftlichkeit.
Und allerspätestens hier wäre der Bund, als Eigentümer der Deutschen Bahn am Zug: Der frühere verkehrspolitische Sprecher der SPD, Uwe Beckmeyer, ist heute Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium. Bei einer Tagung der IG Metall und des Verbandes der Deutschen Bahnindustrie am 12. November 2014 in Berlin stellte er fest: „Bei Stuttgart 21 wird eine Unmenge Geld eingesetzt für ein Projekt, das einen Kosten-Nutzenfaktor unter 1 hat, also negativ ist. Diese Gelder fehlen beim Ausbau der Bahnstrecken von den Häfen in Norddeutschland.“ Im Klartext: S21 kannibalisiert andere, viel wichtigere und sinnvollere verkehrspolitische Infrastrukturmaßnahmen – und zwar nicht nur in Norddeutschland, sondern bundesweit.
Wie ist das in Zeiten von leeren öffentlichen Kassen zu rechtfertigen? Da bröckeln und bröseln Brücken im ganzen Land, da mangelt es überall an Geld für notwendige Instandhaltungen des Schienennetzes, viel zu häufig lebt man von der Substanz – aber Milliarden scheinen für S21 übrig zu sein.
Für ein Projekt, das in Zukunft den Bahnverkehr massiv behindern wird. Denn anders als es viele Jahre behauptet wurde, dient S21 nicht dazu, mehr Verkehr auf die Schienen zu bringen – im Gegenteil. S21 verkleinert einen der wichtigsten deutschen Bahnknoten und ist somit ein nicht genehmigter Rückbau der Schieneninfrastruktur.
Das ist nur eines von vielen KO-Argumenten – es gibt noch mehr davon:
- Der dramatische Rückbau der Leistungsfähigkeit. Ein Rückbau, den eine Region wie Stuttgart kaum verkraften kann. Es wird ein struktureller Engpass für den öffentlichen Verkehr geschaffen.
- Der ungenügende, nichtzeitgemäße Brandschutz.
- Die Unterdimensionierung der Anlage für die Fußgänger.
- Die gefährliche Gleisneigung, die ständig für Gefahr sorgt.
S21 wird ein Problem-Bahnhof für ewige Zeiten.
Das Projekt wäre sofort zu stoppen, wenn es bei den Verantwortlichen in Bahn und Politik ganz kühl und sachlich um die Vernunft ginge: Was nutzt es? Was kostet es? Wie hoch sind die Risiken? Aber ich habe diese Hoffnung auf Ratio in Sachen S21 aufgegeben. Es geht bei diesem Projekt anscheinend vor allem um eine politische Machtdemonstration. Spätestens als die Kanzlerin vor zwei Jahren erklärte, es gehe bei S21 um die Zukunftsfähigkeit des Landes. Wie absurd! Von S21 hängen weder „die Zukunftsfähigkeit Deutschlands, noch Europas ab“.
Denn was hat denn die Zukunftsfähigkeit eines Landes, ja gar eines Kontinents damit zu tun, dass man einen der besten Bahnhöfe Deutschlands, ja Europas, ein Juwel schwäbischer Ingenieurskunst zerstört, einen außergewöhnlich leistungsfähigen Kopfbahnhof zertrümmert, ihn in die Tiefe verbannt, verkleinert und zulässt, dass er zur Gefahr für Leib und Leben wird? Es ist ganz einfach so: Mit S21 steht die Machtgewissheit der politisch Verantwortlichen beispielhaft auf dem Spiel.
Doch zurück zur Anhörung, über die ich noch ein paar Takte sagen will. Die Sachverständigen der Regierungsparteien waren vier hochbezahlte Manager der Deutschen Bahn AG – allen voran der Kefer. Und ein Professor Martin, Direktor des Eisenbahninstitutes.
Von keinem der Herren gab es eine schriftliche Stellungnahme. Dabei hatten wir in unserem Antrag sehr konkret Probleme und ungeklärte Fragen aufgeworfen. Aber: nichts. Keine Zeile zu Papier gebracht zur Vorbereitung oder um Stellung zu beziehen. Wenn ich deren Arbeitgeber wäre, sie hätten allesamt mindestens eine Abmahnung kassiert!
Aber Kefer und Co. scheinen sich ihrer Sache sehr sicher zu sein. Sie haben offenbar volle Rückendeckung vom Kanzleramt – und die Abgeordneten wirken wie diese Affen: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen….
Eine zaghafte Frage nach dem Brandschutz aus den Reihen der CDU – aber alles soll in bester Ordnung sein, sagen die Bahnverantwortlichen. Das wars dann schon.
Und die Genehmigungen und Sondergenehmigungen vom Eisenbahnbundesamt laufen auch wie geschmiert. Unabhängig ist diese Institution sicher nicht!
Eine Sache lief dann doch nicht so glatt: das Problem mit der geplanten Gleisneigung: Der unterirdische Trog wird derartig schief, dass die Bahnsteige in Stuttgart auf die Länge eines ICE-Zugs gesehen um 6,2 Meter ansteigen – die Höhe eines zweigeschossigen Hauses! Kein vergleichbarer Bahnhof weltweit hat eine derartige Gleisneigung. 15,1 Promille, statt der empfohlenen Sicherheitsnorm von maximal 2,5 – die sechsfache Abweichung! In Köln, dem einzigen Stadtbahnhof mit etwa 4-promill-schrägen Gleisen, gab es seit 2010 immerhin 17 Unfälle mit wegrollenden Zügen, teils mit Verletzten.
Professor Martin meinte immerhin, dass diese Problematik genauer betrachtet werden müsste. Kefer versuchte abzuwiegeln, weil die Ursachen für das Wegrollen ja nicht untersucht seien – aber bitteschön, da ist es ja höchste Eisenbahn, dass sie das gründlich untersuchen, bevor in Stuttgart so ein krimineller Murks gebaut wird!
Da werden wir auf jeden Fall dranbleiben und weiter bohren, zusammen mit Fachleuten wie Herrn Sven Andersen, der das Thema bei der anschließenden außerparlamentarischen Expertenbefragung ausgeführt hat, die das Aktionsbündnis in Berlin organsiert hat.
Eine kleine Geschichte noch aus der Anhörung: Arno Luik schilderte die Freude seiner schwerbehinderten Schwester, wenn sie in Stuttgart ankam und im Rollstuhl ebenerdig in die Stadt fahren konnte…. Darauf erwiderte Annette Sawade, baden-württembergische SPD-Abgeordnete, dass das Unsinn sei, dass man heute unterirdisch durch müsste und erst mit Stuttgart 21 der ebenerdige Zugang zur Stadt möglich wäre. Das wäre zum Lachen, wenn´s nicht zum Heulen wäre. Nun könnte man ja sagen, der Hohenlohekreis ist Tal der Ahnungslosen, aber man sieht auch, wie Propaganda wirkt und wie Realitätsverweigerung funktioniert.
Liebe Freundinnen und Freunde,
im politischen Berlin, bei den Regierenden, bei den Managern im Bahn-Tower, habe ich das Gefühl: S21 ist bloß noch lästig. Da herrscht die Devise: „Augen zu und durch.“ Und viele, vielleicht auch die Mehrheit in der Stadt, scheint sich damit arrangiert zu haben, dass das Gesicht ihrer Stadt malträtiert wird wie noch nie seit dem zweiten Weltkrieg, dass denkmalgeschützte Bauten zerstört, Parks durchwühlt werden. Da herrscht eine stille Verzweiflung, bei vielen eine unterdrückte Wut.
Die Dimension, die S21 hat, übersteigt fast zu recht die Vorstellungskraft der meisten Menschen. Im Vergleich zu S21 erscheint der Turmbau zu Babel fast als Kleinigkeit. Stuttgart 21 ist für viele zur Chiffre für den so sehr beklagten Politikverdruss geworden.
Aber ich bin sicher, dass noch längst nicht aller Tage Abend ist bei dieser Geschichte. Denn auf der anderen Seite seid ihr da, diejenigen, die zu Tausenden seit mehr als fünf Jahren Montag für Montag für´s „oben bleiben“ demonstrieren. Das ist wohl europaweit ziemlich einmalig – die Dauer, die Kreativität und der Sachverstand der Protestgemeinde.
Es kommt mir vor, wie eine gut gehütete Glut, die hier und anderswo glimmt. Und es kann gut sein, dass der eine oder andere kleine oder größere Windstoß die Flammen wieder aufflackern lässt. Ich will zwei Gedanken mit euch teilen, darüber, woher der Wind weht.
Der erste ist naheliegend: im nächsten Jahr ist – schon wieder – Landtagswahl in Baden-Württem-berg. Und es ist möglich und nötig, dass dieses Schadbahnhofsprojekt im ganzen Land zum Thema gemacht wird; alle Kandidatinnen und Kandidaten müssen in Wahlprüfsteinen ihr Wissen über S21 unter Beweis stellen; alle müssen zum gesprengten Kostendeckel Stellung nehmen, die Folgen für den Bahnverkehr und den öffentlichen Nahverkehr benennen….. Und: wir können eine schlüssige Ausstiegsvariante mitsamt dem renovierten Kopfbahnhof ins Spiel bringen. Und das Beste ist: Meine Partei, die LINKE, steht weiterhin klar gegen S21 und hat gute Chancen, dieses Mal in den Landtag zu kommen. Und davor haben alle Angst – ein bisschen jedenfalls. Es wäre auch ein kleiner Gegenwind gegen die etablierten Machtstrukturen.
Die zweite „Luftveränderung“ ist mehr eine Grundströmung, die sich in der Bevölkerung breit macht. In der Studie „Umweltbewusstsein in Deutschland“ hat das Umweltbundesamt Interessantes herausgefunden: erstens der Verdruss über den Autoverkehr wird immer größer und inzwischen wünschen über 80% der Erwachsenen und über 90% der Jugendlichen, dass in den Städten die Autos zurückgedrängt werden. Zweitens steigt der Anteil derjenigen, die bezweifeln, dass mit Wachstum Probleme gelöst werden und die stattdessen den sozialökologischem Umbau der Gesellschaft wollen. Und schließlich lehnt die Mehrzahl solche unsinnigen Großprojekte ab, weil nachhaltiges und ressourcensparendes Wirtschaften auf der Tagesordnung steht.
Sicher, daraus lässt sich noch kein politischer Durchbruch für demokratische, gerechte und ökologische Alternativen machen und Stuttgart 21 ist noch nicht beerdigt... Aber manchmal tut sich viel und Unerwartetes in wenigen Jahren. Ich finde jedenfalls, es gibt viele Gründe, nicht aufzugeben.
Liebe Freundinnen und Freunde,
Ich will am Schluss noch ein „P.S.“ anfügen: in Griechenland hat ein solcher Politikwechsel stattgefunden, der für uns alle bedeutsam ist. Noch vor 5 Jahren war Syriza eine 5%-Partei und heute stellt diese Linke Alternative die Regierung. Das Spardiktat der Troika, die Privatisierungsoffensive, unsinnige Großprojekte, die unmenschliche Flüchtlingspolitik, das korrupte Establishment, die Steuerhinterziehung und vor allem die antidemokratische Entmündigung der Bevölkerung – das alles stellt die Linksregierung in Griechenland in Frage. Aber nicht nur dort.
Ich möchte euch ermuntern, diesen Hoffnungsschimmer zu sehen. Und ich möchte euch einladen, hinter die Kulissen der Machtpolitik zu kucken – so wie ihr es bei Stuttgart 21 tut. Der Machtpoker ist auch da in vollem Gange und Aufklärung tut Not!
Ich habe ein paar Exemplare einer feinen kleinen Zeitung dabei: ‚Faktencheck-Hellas‘, die gut dabei helfen kann.
Herzlichen Dank für eure Aufmerksamkeit – lasst uns alle „oben bleiben!“
…..was nicht gut ankommt bei den repräsentativen und direkten Zuhörern und Lesern ist die Kannibalisierungstory von S21. Bei den sieben Schwaben ist man doch gerade stolz darauf, mit der zwar illegalen aber obergscheidleshaften Kapitalrückführung der Länderfinanzausgleichszahlungen diese von Berlin wieder hälinge ins Ländle zurücktransferiert zu haben. Hauptsache die Gelder bleiben wo sie erwirtschaftet wurden um halt auch mal einen Unsinn a la S21 finanzieren sich leisten zu können.
Was vordergründig auch klüger erscheint, als bei BER 21 und anderen Projekten im Berliner Sumpf versickern zu lassen.