Nachträglich verschriftete Rede von Prof. Heiner Monheim auf der 216. Montagsdemo am 31.3.2014
Wege aus dem Tunnelchaos
Die Außensicht: Stuttgart 21 wird schon gebaut
In großen Teilen der Republik ist wegen unzureichender Berichterstattung in den Medien der Eindruck entstanden, die Baumaßnahmen für S21 seien in vollem Gange und die Tunnelbohrer wären längst im Untergrund verschwunden. In den großen Medien ist es still geworden um das Thema. Auch über den andauernden Widerstand wird überregional nicht mehr berichtet. Dabei ist bei den vielen Montagsdemos auf dem Stuttgarter Marktplatz unübersehbar: es ist überhaupt nicht still, der Widerstand läuft weiter und die Argumente für einen Baustopp und ein Umschwenken auf K21 werden immer zwingender.
- Denn einerseits gibt es immer weitere Kostensteigerungen und da werden noch weitere Kostenexplosionen folgen. Die Bahn versucht deswegen, Stadt und Land erneut zu erpressen, weiteres Geld zuzuschießen.
- Andererseits erlebt die Bahn gerade einen massiven Gewinneinbruch in der Bilanz für 2013. Ihr geht also die finanzielle Puste aus, ihren eigenen fiskalischen Beitrag zu leisten.
- Und der Bund gerät in immer deutlichere Sparzwänge. Schließlich will der Finanzminister die Neuverschuldung auf null zurückführen. Und das Gebot des Abbaus der Neuverschuldung trifft auch die Länder.
Im Ergebnis bedeutet dies, dass mit S21 auf gut 20 Jahre der finanzielle Spielraum für die dringend erforderlichen Erhaltungs- und Ausbauinvestitionen im deutschen Bahnnetz immer enger wird. 1.500 marode Bahnbrücken, 40 beengte Bahnknoten mit fehlender Kapazität für einen integralen Deutschlandtakt und Tausende dringender Kapazitätserweiterungen für einen funktionierenden Nahverkehr und Güterverkehr hängen in der Warteschlange (1). Herr Grube geht bei der Kanzlerin „betteln“ für mehr Geld für die Bahn, nutzt aber selber nicht die Chance, das teuerste und unsinnigste Projekt der deutschen Bahngeschichte zu stoppen, trotz der maßlosen Überschreitung aller ursprünglich angesetzten Kostengrenzen.
Real hat es bislang aber nur bauvorbereitende Maßnahmen gegeben, wenn diese auch teilweise sehr zerstörerisch waren, was etwa den Baumbestand oder den historischen Bestand des alten Bahnhofsgebäudes angeht. Noch sind nicht einmal alle formalen genehmigungsrechtlichen Voraussetzungen für die Umsetzung des Projektes gesichert, es laufen zahlreiche Umplanungen, um die Auflagen aus der Schlichtung zu erfüllen. Diese werden den Kostenrahmen nochmals massiv erhöhen.
Kopf machen: gute Argumente für einen Ausstieg
Noch kann man sich im Stuttgarter Rathaus, in der Landesregierung, im Bahntower in Berlin, im Verkehrsministerium und im Kanzleramt in einer konzertierten Ausstiegsaktion einen „Kopf machen“ und – ohne großen Gesichtsverlust – bekennen, dass man klüger geworden ist, sparsamer, systembewusster, bahnorientierter im Sinne einer wirklichen Renaissance der Schiene.
Man kann dafür viele gute Argumente nutzen:
- die Zeit der Großprojekte ist vorbei, Gigantismus war eine grassierende europäische Krankheit, die – neben der Spekulation der Banken – maßgeblich zur Finanzkrise vieler europäischer Länder beigetragen hat (2);
- überzeugende Innovationen sind heute eher systemisch und nicht auf einen einzelnen Punkt fixiert. Der Deutschlandtakt wäre eine solche Innovation. Der braucht viele kleine Bahnprojekte im ganzen Netz als Voraussetzung;
- kreative Investitionen sind minimal invasiv, stadt- und landschaftsschonend, energiebewusst und effizienzorientiert;
- modernes Bauen ist möglichst stark dematerialisiert, bestandsorientiert, effizienzorientiert. „Ex und hopp“ und „Orgien in Beton“ waren gestern!
„Kopf machen in der Bahnpolitik“ lautet der Titel eines bundesweiten Bahnkongresses, der vom 25. bis 27.4. hier in Stuttgart mit vielen prominenten Rednern aus Verkehrswissenschaft, Verkehrspolitik, Medien und Kultur stattfinden wird. Da geht es um eine Bilanz der seit 20 Jahren laufenden Bahnreform und eine Bilanz der seit 20 Jahren laufenden Planungen für S21. Und da geht es um Strategien für kreatives Sparen und systembewusstes Investieren (3). Der Finanzminister ruft alle Ressorts zum Sparen auf; er will die Verschuldung abbauen. Ich rufe dem Finanzminister zu: Nirgendwo kann so gut und kreativ gespart werden wie bei S21, weil es mit K21 eine sehr viel preiswertere, bestandsorientiertere Alternative gibt, leistungsfähig, effizient, kundenfreundlich, ausbaufähig auch für die hoffentlich bald anbrechenden Zeiten, in denen der deutsche Schienenverkehr wieder richtig brummt.
Die „Tunnelitis“ ist Gift für den Schienenverkehr
Ich komme aus Nordrhein-Westfalen und hatte dort von 1985-1995 im Verkehrsministerium den Auftrag, unsinnige Tunnelprojekte im Bereich der Stadtbahnpolitik zu verhindern. Da habe ich das erste Mal die deutsche Baumafia kennengelernt, die massiven politischen Druck ausübt, damit die teuerste und für sie profitabelste Lösung zum Zuge kommt. Manche Tunnelprojekte konnte ich leider damals nicht verhindern, weil die Baumafia stärker war. Heute weiß man, dass diese „Tunnelitis“ für die Verkehrsentwicklung im Ruhrgebiet fatal war (4): Unter allen Ballungsräumen Europas hat das Ruhrgebiet den kleinsten Erfolg im Schienenverkehr, obwohl dort am meisten in die Schiene investiert wurde, nur eben falsch: in viele unsinnige Tunnel. Heute können die Ruhrgebietsstädte diese unsinnigen Tunnel nicht mehr unterhalten und modernisieren, weil die Folgekosten viel zu hoch sind. Die Rolltreppen und Aufzüge funktionieren nicht mehr, Beleuchtung und Belüftung werden auf Sparmodus geschaltet und die Takte werden immer mehr ausgedünnt. Man ist sich heute einig, dass die Tunnelitis Gift für die Entwicklung des Schienenverkehrs war.
Auch für die DB-Netzentwicklung ist die Stuttgarter Tunnelitis bei S21 Gift. Die DB kann heute schon viele ihrer Bestandstunnel nicht mehr richtig sanieren, muss dort oft Langsamfahrstellen einrichten. Viele Bahnhöfe gammeln vor sich hin, weil das Geld fehlt. Viele wichtige, kleinere Ausbauprojekte kommen nicht voran, weit Geld und Planungskapazitäten fehlen. Schuld ist die falsche Prioritätenfixierung auf wenige Großprojekte, allen voran auf S21. Dort schmeißt die Bahn das Geld mit vollen Händen in die Röhre, um eine angeblich attraktive Glitzerwelt im Untergrund und einen Flaschenhals in die Röhre zu operieren. „Operation gelungen, Patient tot“ wird es am Ende heißen?
Bitte übernehmen Sie, Herr Staatsanwalt!
Über den richtigen Umgang mit der Baumafia, mit der ich mich im Ruhrgebiet herumschlagen musste, kann man aktuell Manches aus Italien lernen. Dort hatte das unheilvolle Treiben der Tunnelbaumafia und der hochgeschwindigkeitsfixierten Bahnchefs im alten „System Berlusconi“ zum Projekt „Florenz 21“ geführt. Die komplette historische Altstadt sollte für eine Hochgeschwindigkeitsverbindung und einen neuen Bahnhof untertunnelt werden. Doch nun haben mutige Staatsanwälte bei der Verfolgung organisierter Kriminalität und Korruption der Baumafia die Zähne gezeigt, die bereits aufgefahrene Tunnelbohrmaschine versiegeln lassen und die Baustelle stillgelegt. Wir brauchen auch in Stuttgart mutige Staatsanwälte und mehr politische Distanz zu den Lobbyisten der großen (Bau)Konzerne.
Point of no return? Eine Diskussion der Sollbruchstellen für S21 ist dringend erforderlich
Oft hört man in Gesprächen über S21, das Projekt habe nun mal eine unumkehrbare Eigendynamik. Die Würfel seien endgültig gefallen. Durch die Volksabstimmung, durch die Planfeststellungsverfahren, durch die bauvorbereitenden Maßnahmen wie die Abrisse der beiden Bahnhofsflügel und die Eingriffe in den Park und die Maßnahmen zur Grundwasserführung. Wenn man jetzt einen Baustopp machte, dann wären das alles Wegwerfinvestitionen gewesen. Vor allem müsse man dann immense Kompensationszahlungen an die Baufirmen leisten. Das Projekt habe zudem einen sehr hohen Symbolwert. Hier müsse die Zukunftsfähigkeit Deutschlands und Baden Württembergs bewiesen werden. Aber da wird vergessen, dass moderne Projektplanung immer mit sog. Sollbruchstellen arbeitet, an denen je nach dann vorliegender Faktenlage die Projektparameter neu fixiert werden und flexible Korrekturen möglich sein müssen. Eine Debatte um solche Sollbruchstellen ist angesichts der Dimensionen und Komplexität des Projekts dringend erforderlich. Sollbruchstellen können sehr verschiedener Natur sein:
- politische Sollbruchstellen wären z.B. neue Mehrheiten in den relevanten Gremien der Stadt, des Landes und des Bundes oder neue Besetzungen in den maßgeblichen Ressorts;
- institutionelle Sollbruchstellen wären z.B. veränderte Konstellationen im Vorstand und Aufsichtsrat der Bahn, ein neuer Bahnchef etc. ;
- finanzielle Sollbruchstellen wären z.B. auf der Kosten- und/oder der Finanzierungsseite neue relevante Dimensionsverschiebungen („das Geld ist alle“) oder neue finanzpolitische Rahmensetzungen wie eine noch schärfere Begrenzung der Neuverschuldung für Bund, Länder und Kommunen;
- juristische Sollbruchstellen wären beispielsweise staatsanwaltschaftliche Maßnahmen gegen unerlaubte geschäftlich-politische Verquickungen (Korruption, Mafia) oder juristische Niederlagen der planenden Stellen in den noch anstehenden Klageverfahren gegen die drei noch offenen Planfeststellungsabschnitte;
- bautechnische Sollbruchstellen wären die im Falle von S21 sehr naheliegenden Überraschungen, die man im geologischen Untergrund erleben kann (wie man sie auch am Beispiel des eingestürzten Kölner Stadtarchivs beim U-Bahntunnelbau erleben musste) und die bei einer solch sensiblen Baumaßnahme durch den branchenüblichen Pfusch am Bau nicht unwahrscheinlich sind;
- konzeptionelle Sollbruchstellen wären veränderte Gesamtkonzepte wie beispielsweise der Deutschlandtakt, zu dem S21 in keiner Weise passen würde und
- ökonomische Sollbruchstellen wären z.B. eine Pleite einer der maßgeblich beteiligten Baufirmen.
Solche Sollbruchstellen nicht von vornherein thematisiert zu haben und auch jetzt darüber keine Debatte führen zu wollen, klingt sehr nach „Augen zu und durch“. Immerhin hat der vorvorige Bahnchef Ludewig durchaus den Mut besessen, die Planungen für S21 zwei Jahre lang auf Eis zu legen, und er steht auch heute noch zu seiner großen Skepsis zu dem Projekt. Vor diesem Hintergrund muss einen die demonstrative Nibelungentreue der ehemaligen Projektgegner bei den Grünen (die sonst immer ihre Skepsis gegen Großprojekte und globalisierte Konzernpraktiken rühmen) schon sehr wundern. Es gäbe viele Möglichkeiten, auch durch die „Hintertür“ der kleinen administrativen Nadelstiche, das Projekt zu verzögern, zu erschweren und einen langsamen Tod sterben zu lassen (wenn man schon Angst vor dem lauten Knall eines demonstrativen Ausstiegs hat).
Das Chaos der Bauzeit
Jedes größere Bauprojekt führt unweigerlich zu Beeinträchtigungen der Umgebung. Das ist eine Binsenweisheit. Es fängt an beim Lärm und Schmutz, es geht weiter mit dem immensen Baustellenverkehr für den Aushub und den Materialtransport und es endet dann mit den nötigen Umleitungen in den Verkehrsnetzen. Bei vielen Baumaßnahmen in geschäftlich genutzten Umfeldern stellt sich die Frage, wie stark die Beeinträchtigungen der geschäftlichen Tätigkeiten während der Bauzeit sind, wie sehr die Erreichbarkeit beeinträchtigt wird, wie stark die Umsätze einbrechen und wie lange die Baumaßnahme dauert. Meistens werden dafür gewisse Entschädigungsregelungen entwickelt. Bei Tunnelbaumaßnahmen im bebauten Umfeld kommen die verursachten Gebäudeschäden hinzu.
Großprojekte potenzieren solche Beeinträchtigungen. Und Großprojekte an sehr sensiblen und strategisch zentralen Punkten für ein ganzes Verkehrssystem haben eine extreme Sprengkraft mit einem immensen Aktionsradius der „Schockwellen“. Genau das beginnt nun für die Stadt und die Region seine wachsende Virulenz zu entfalten. Es beginnt mit der Unterbrechung von zwei wichtigen Stadtbahnstrecken mit zentraler Bedeutung im ganzen Netz. Die gewohnte räumliche Orientierung der Kunden („mental Map“) wird völlig umgekrempelt, es drohen massive Zeitverluste und ein sich stufenweise aufschaukelndes Stadtbahnchaos. Das Baustellenumfeld wird immer mehr zu einer „No-Go-Area“. Und das für eine vermutlich weit über die bislang angesetzten langen Jahre hinausreichende Bauzeit (denn Großprojekte haben in der Regel, wie am Beispiel der Hamburger Elbphilharmonie und der Berliner Flughafenplanung alptraumhaft zu besichtigen, nicht nur explodierende Kosten, sondern auch explodierende Bauzeiten).
Ähnliches wird den S-Bahn- und Regionalbahnverkehr und viele Fernverkehrsrelationen in der Region betreffen. Schon heute kann man allein am sog. Fahrgastfluss im Stuttgarter Hauptbahnhof und den vielfach verzweifelten Reaktionen der um-, ein- und aussteigenden Fahrgäste über zu lange Wege, verpasste Anschlüsse, fehlende Orientierung ablesen, was da noch alles auf die Stadt und Region zukommen wird.
Mein Fazit: Es ist nie zu spät für eine Wende
Den Grünen sei ins Stammbuch geschrieben: in ihrer politisch-konzeptionellen „DNA“ war lange Zeit eine grundlegende Skepsis gegen Großprojekte, globalisierte Konzerne und Finanzmarkt- und Bodenspekulation fest verankert. Und in ihrer Programmatik spielt die „Wende“ eine herausragende Rolle. Die Energiewende haben sie immerhin politikfähig gemacht. Auch den vielbeschworenen gesellschaftlichen Wertewandel haben sie maßgeblich mit angeschoben. Die Verkehrswende war mal ein zentraler Bestandteil grüner Programmatik. Zu all diesen beachtlichen Positionierungen passt S21 wie die Faust aufs Auge, viele empfinden das beharrliche Festhalten an der von den Vorgängerregierungen geerbten Kröte S21 als Verrat grüner Ideen. Man kann eine Erbschaft auch ausschlagen, man muss sich nicht ohne Not dem Vorwurf aussetzen, statt die Verkehrswende engagiert voran zu treiben, nunmehr zum Wendehals zu mutieren und ein Projekt zu realisieren, das sich zur größten Hypothek deutscher Schienenverkehrspolitik entwickeln wird. Noch ist Zeit für eine Vollbremsung oder wenigstens eine „Stotterbremsung“, einen mutigen Neuanfang, einen Kurswechsel, der am Ende für alle eine Win-Win-Situation bringen wird. Die SPD kann aus ihrem Tief herauskommen, wenn sie sich mit dem Argument der Gerechtigkeit wieder mehr dem regionalen Ausgleich, der besseren und systemwirksameren Verteilung der Bahninvestitionen statt der Befriedigung der Interessen weniger Großkonzerne der Baubranche verschreibt. Die Wirtschaft in der Stadt und Region Stuttgart wird davon profitieren, wenn das drohende Bauchaos ausbleibt und das Schienennetz schneller und breiter ausgebaut und ertüchtigt wird. Die Erreichbarkeit der Region wird profitieren, wenn der Hauptbahnhof dank K21 wieder ein wichtiger und leistungsfähiger Knoten im südwestdeutschen Schienennetz und zentraler Eckpfeiler für den dringend notwendigen Deutschlandtakt wird.
Das durch brutale Polizeieinsätze, rambohaftes Potentatengehabe und unversöhnliche Politikblockaden lädierte Image Baden-Württembergs wird profitieren, wenn seine sprichwörtliche Kreativität und Sparsamkeit wieder zu Leitmotiven öffentlichen Handelns werden. Und die Demokratie im Lande wird profitieren, wenn die Phase sturer Prinzipienreiterei zu Gunsten einer flexiblen, gesprächsfähigen, respektvollen Streitkultur überwunden wird.
Tips zum Weiterlesen:
- Knierim, B.; Wolf.W. (2014): Bitte umsteigen! 20 Jahre Bahnreform. Schmetterling Verlag. Stuttgart
- Kopf machen-Konferenz 25.-27.3.: 20 Jahre Bahnreform, 20 Jahre Stuttgart 21. Details und Anmeldung: www.bahn-fuer-alle.de
- Monheim/Nagorni (2004): Die Zukunft der Bahn zwischen Bürgernähe und Börsengang. Hg. Ev. Akademie Baden
- Monheim, H. (2007): Die Rolle von Großprojekten in der Verkehrspolitik. In: Raum für Zukunft. Essen, 2007
KOPFmachenKONFERENZ
20 Jahre Bahnreform – 20 Jahre Stuttgart 21
Beginn: Freitag, 25. April 2014, 18 Uhr
Ende: Sonntag, 27. April, 15 Uhr
in Stuttgart
Flyer und Plakate zur Konferenz –>
http://www.parkschuetzer.de/statements/170578