Am 27.7.2013 hielt Dr. Dietrich Heißenbüttel bei der Auftaktveranstaltung zur Tour de Natur auf der Fahrraddemo am Zwischenhalt Wolframstraße folgenden Vortrag über Stadtzerstörung. (Es gilt das gesprochene Wort.)
Wie Hanno Rauterberg 2007 in der Zeit schreibt,
„lieben die Deutschen ihre gebaute Geschichte. 88 Prozent fordern, so hat es Allensbach herausgefunden, unbedingt müssten alle historischen Gebäude bei einer Stadtsanierung erhalten bleiben. … Geschichtsfroh, vergangenheitsselig, so hat die Republik es gern. Das ist die eine Wahrheit. Die andere ist der Krieg.
Man muss es so nennen, denn ohne Unterlass wird gesprengt, zertrümmert, geschlagen. Es sterben keine Menschen, es werden nur alte Häuser ausgehöhlt und abgeräumt. Und doch ist es eine Schlacht. Seit 1945 sind weit mehr Baudenkmale gefallen als im Bombenkrieg.“
300 000 denkmalgeschützte Bauten, schätzt Rauterberg, sind in den letzten 30 Jahren in Deutschland abgerissen worden. Die Städte entledigen sich ihrer Geschichte. Und Stuttgart war schon immer ganz vorn mit dabei – ich erinnere nur an das Alte Steinhaus, das Kronprinzenpalais und das Kaufhaus Schocken. An den City-Ring und an die autogerechte Stadt. Wenn etwas stehen blieb wie das Neue Schloss, die Markthalle oder das Bosch-Areal, ist das Bürgerprotesten zu verdanken. Aber selbst dabei kam es häufig genug zu faulen Kompromissen, wie im Bohnenviertel oder in der Calwer Straße.
Eine Stadt besteht nicht nur aus Denkmalen. Eine Stadt muss sich auch erneuern können, heißt es immer wieder. Die Frage ist wie.
Wenn wir uns hier umschauen: das einzige Baudenkmal, sogar von besonderer Bedeutung nach Definition der Landesbehörde, ist schwer beschädigt und in seiner Funktionalität als Haupt-Verkehrsknotenpunkt der Stadt eingeschränkt. Dazu gehört das Gleisvorfeld, ein Pionierwerk des Stahlbetonbaus, und der Schlossgarten, angelegt 1806 nach der Erhebung Friedrichs zum König von Württemberg, der damit sein Verständnis vom Verhältnis zu seinen Untertanen dokumentiert. Was hier bereits zerstört wurde, ist die Mitte, das pulsierende Zentrum der Stadt, der Ort, wo seit vielen Jahrzehnten Millionen von Menschen in Stuttgart ankommen und abfahren, wo sich die Innenstadtbewohner gern auf die grüne Wiese legten, um in der verkehrs- und abgasgeplagten Öde ein wenig Freiraum zu genießen.
Wie kam es dazu? Es fing an mit dem Güterbahnhofsgelände hier. Dass es neu bebaut werden sollte, war klar. Nur begann diese Bebauung mit einer kapitalen Bausünde: Die damalige SüdwestLB, vorher im Zeppelin-Carré untergebracht, erstellte den größten Neubau im Talkessel: heute LBBW, in seiner Überdimensioniertheit, mit seinen abweisenden Fassaden ein Ort, an dem sich niemand gern aufhält. Ein Monument der geballten anonymen Macht des Finanzkapitals.
Damit war das ohnehin problematische Quartier unterhalb der Heilbronner Straße sowieso kaum noch zu retten. Aber die Vorschläge des Gartenarchitekten Hans Luz, das Areal mit ortstypischen Gewächsen wie Zieräpfeln, Weinlauben oder Flieder zu beleben, „hat den Architekten nur ein mildes Lächeln entlockt. Die Architekten wollen eine steinerne Stadt.”
Mehr als zehn Jahre war dieses Areal mausetot. Erst der ebenfalls überdimensionierte Bau der Stadtbücherei zog die Investoren auf den Plan. Die Württembergische Landesbibliothek hat zehn mal so viel Bücher und platzt aus allen Nähten: Die Bibliothek steht dort nicht, damit ihre Nutzer, die Stuttgarter Bürger, an geeigneter Stelle eine schöne Bibliothek haben. Sie steht dort, um Publikum in die Nähe des ECE-Einkaufstempels zu locken.
Mit dem Umzug der früheren SüdwestLB begann aber auch in der anderen Richtung der großflächige Stadtumbau. Es sind nicht immer denkmalwürdige Bauten, die der Abrissbirne zum Opfer fielen: wie die frühere TWS oder der ursprüngliche Sitz der Landesgirokasse – beide aus den dreißiger Jahren. Aber auch sie trugen zur unverwechselbaren Atmosphäre der Stadt bei, was man von den Neubauten, die sie ersetzen, nicht sagen kann.
Heute ist es so: wenn irgendwo noch ein Altbau übrig sein sollte, und wenn es der letzte ist – wie das Weinbauernhaus im Hospitalviertel oder die Auferstehungskirche im Gerberviertel, stimmt die Stadt dem Abriss bedenkenlos zu.
„Im Gegensatz zur Neuen Welt hat bis jetzt allen Fehlentwicklungen zum Trotz jede Stadt auf dem Kontinent ihr eigenes Gesicht“, schrieb der Stadtplaner Heinz Wetzel 1945, kurz vor seinem Tod. „Es wäre ein Jammer, wenn dieses Erbteil preisgegeben würde.“
2007 haben sich die zuständigen EU-Minister in der Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt auf den folgenden Wortlaut geeinigt: „Baukultur ist eine Notwendigkeit für die Stadt als Ganzes und deren Umgebung. Die Städte und der Staat müssen hier ihren Einfluss geltend machen. Historische Gebäude, öffentliche Räume und deren städtische und architektonische Werte müssen erhalten bleiben.“ Die Charta empfiehlt, Bestandsbauten so weit wie möglich zu erhalten und in jedem Fall von den bestehenden Parzellen auszugehen.
Nichts könnte von diesen Absichtserklärungen weiter entfernt sein, als das, was wir hier vor uns sehen.
Es ist aber nicht nur in Stuttgart so. Im Institut für Auslandsbeziehungen am Charlottenplatz ist derzeit eine Ausstellung über Phnom Penh zu sehen. Die kambodschanische Hauptstadt, die traditionell aus Holzbauten auf Pfählen bestand, wird seit 2008 in großem Stil umgebaut. Das heißt Parks werden geschlossen, große Seen zugeschüttet, so dass die Stadt immer größere Überschwemmungen erlebt. In Baku schießen die postmodernen Wolkenkratzer aus dem Boden. In China werden ganze Altstädte abgerissen. Von der Shopping Mall, die den letzten Park in Istanbul ersetzen soll, haben wir alle gehört.
Warum ist das so? Es gibt zu viel Geld auf der Welt in den Händen von zu wenigen Leuten. Geld, das sich nicht mehr gewinnbringend anlegen lässt. Weil das Wirtschaftswachstum, auf dem unsere Welt immer noch baut, längst nicht mehr stattfindet. Aber es gibt Banken und Finanzexperten, die immer etwas im Köcher haben. Seit sich die verheerenden Auswirkungen der reinen Finanzspekulation nach den großen Krisen in Asien und Argentinien 1997 und 2001 herumgesprochen haben, sind es nun Immobilien.
Gebaut wird nicht, weil die Bauten gebraucht werden. Es gibt in Stuttgart bereits 500 000 m² leer stehende Büroflächen. Wenn das ECE-Center hier und das „Gerber“ an der Tübinger Straße in zwei Jahren fertig sind, wird es in der Stuttgarter Innenstadt zusätzliche 67 000 m² Verkaufsräume geben, die den bestehenden Innenstadtgeschäften Konkurrenz machen. Man braucht kein Prophet sein, um zu sehen, dass die das nicht alle überleben werden.
Und es soll mehr Autoverkehr geben, auch wenn unser OB das Gegenteil will. Hier an dieser Stelle soll ein zweiter City-Ring entstehen. Oben auf der Heilbronner Straße soll 25% mehr Verkehr rollen.
Weitere Infos zu Dietrich Heißenbüttel:
http://www.artwritings.de
http://www.dietrichheissenbuettel.de