Rede von Joe Bauer, Kolumnist, auf der Kundgebung am 23.2.2013 auf dem Schlossplatz
Guten Tag, meine Damen und Herren,
heute melde ich nicht ohne Stolz, dass ich hier auf dem Schlossplatz schon zu jeder Jahreszeit mal was gesagt habe. Denn das bedeutet: Der Stuttgarter Protest ist kein saisonales Ereignis in der Geschichte dieser Stadt. Diese Protestbewegung ist wetterunabhängig, resistent und bereit zum Weiterkämpfen.
Zunächst hat mich das Motto der heutigen Kundgebung leicht irritiert. „Endstation Stuttgart 21 – bitte alle aussteigen.“ Dann wurde mir klar: Dieses Motto meint ja nicht uns, die wir hier stehen wie eine Eins. Wir sind keine Aussteiger. Für eine demokratische Bürgerbewegung wie diese, die so unglaublich viele Dinge auf die Beine gestellt hat, gibt es keine Endstation. Im Gegenteil: Je länger man sich mit den Bürgerrechten befasst, desto besser begreift man: Es gibt eine Menge zu tun. Diese Arbeit wird nicht aufhören, wenn wir etwas verändern wollen.
Von den Aktionen gegen Stuttgart 21 habe ich einiges gelernt: Wer sich mit Stuttgart 21 beschäftigt, wer die Wahrheit hinter diesem Größenwahnprojekt sucht, darf nicht eingleisig unterwegs sein. Ein Blick in dieses Milliardengrab eröffnet uns die Sicht auf andere Baustellen. Baustellen, die vom Bahnhof wegführen und neue politische Herausforderungen bringen.
Eine der dümmsten Floskeln überhaupt will den Leuten in der Republik weismachen, in Stuttgart gehe es um einen Bahnhof. Wer so redet, ist hereingefallen auf das Propagandaprinzip Merkel/Geißler. Der Bahnhof, diese Ruine neben dem umgepflügten Schlossgarten, ist vor allem dies: ein Symbol für die Stadtzerstörung, ein Symbol für Immobilienspekulationen in großem Stil. Der kaputte Bahnhof steht schon jetzt als Mahnmal für die Überheblichkeit der Politiker gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern.
Manche mögen denken, der Einzug grüner Regierungsspolitiker in die Villa Reitzenstein und ins Stuttgarter Rathaus sei so etwas wie die Endstation einer aufregenden Reise der Aufmüpfigen – man könne jetzt aus dem Protest aussteigen und sich zum Schnarchen aufs Sofa zurückziehen. Wer so denkt, muss dringend geweckt werden – weil er die kalten Duschen der Grün-Roten Mitmacher und Wegschauer womöglich verpennt hat. Der verbliebene Torso des Paul-Bonatz-Baus ist ja nicht nur ein Stuttgarter Symbol. Der Architekturkritiker Dieter Bartetzko von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beschrieb neulich in einem erstklassigen Aufsatz über die Großprojekte in Deutschland die beteiligten Politiker und Manager als ein Gemisch aus Geldgier, Verantwortungs-losigkeit, Überforderung. Sein Artikel endete mit dem Zitat „Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen“ – und der zornigen Bemerkung: „Und wir sehen tatenlos zu.“
Mit dieser bitteren Pointe hat der Mann ausnahmsweise mal nicht recht: Wir in Stuttgart schauen nämlich nicht zu, wie Profiteure die Stadt vereinnahmen, wie sie die Leute aus der Stadt hinaus-bauen. Wir gehen auf die Straße. Und diese Aktionen sind ausbaufähig. Man muss wieder mehr Leute motivieren: junge Leute, die womöglich jetzt erst begreifen, was in Wirklichkeit läuft in dieser Stadt. Nicht einmal in weiter Ferne sehe ich die Endstation für den Protest – und Licht im Tunnel warnt bekanntlich nur vor einem entgegenkommenden Zug.
Eine demokratische Bürgerbewegung, meine Damen und Herren, ist anders als jede Partei. Die Bürgerinnen und Bürger sind neugierig, sie bilden sich weiter und erkennen deshalb ständig neue Gründe, ihre oppositionelle Arbeit fortzusetzen. Es gibt ja keine andere Opposition!
Die Politiker haben 20 Jahre lange versucht, uns Stuttgart 21 als „Stadtentwicklung“ unterzujubeln. Mit beleidigend unterentwickelter Intelligenz wollte die Propaganda vertuschen, dass es um die Umwandlung von Schienen- in Immobiliengelände ging – und damit um astronomische Profite. Dabei feierten schon Mitte der Neunziger neoliberale Magazine wie Focus einen bevorstehenden „Mega-Milliarden-Deal“. Damals im Glauben, auch Städte wie Frankfurt und München seien so hirnverbrannt, sich auf den Unterwelt-Coup namens 21 einzulassen.
Inzwischen erleben wir, was auf dem Immobilienmarkt im Umfeld von Stuttgart 21 läuft. Nachdem die LBBW 2011 mithilfe der Grün-Roten Wegschauer Tausende von Wohnungen an die Patrizia AG verscherbelt hat, finden die ersten Mieterversammlungen am Nordbahnhof statt, und die Angst geht nicht nur am Nordbahnhof um. Die Kosten fürs Wohnen in der Stadt steigen extrem. Es herrscht der Mietwahnsinn. Unterdessen stieg der Anteil von mehr als 750 000 Euro teuren Luxuswohnen in Städten wie Stuttgart in den vergangenen zwei Jahren um 25 Prozent!
Und 20 Prozent beträgt nach Auskunft des Statistischen Landesamts der Anteil der Stuttgarter Bevölkerung, den man als „armutsgefährdet“ einstuft – dieser Bürokratenbegriff heißt nichts anderes, als dass jeder Fünfte in dieser superreichen Stadt Stuttgart seine Existenz nicht mehr selbst bestreiten kann – oft nicht einmal, wenn er voll arbeitet.
Der Anteil der Armen in Stuttgart ist in den vergangenen zwei Jahren extrem gestiegen. Besonders gefährdet sind Rentner, alleinerziehende Frauen, Kinder und Jugendliche. Es ist ein Märchen aus alten Zeiten, wenn behauptet wird, in Stuttgart gebe es weniger Arme als in anderen deutschen Großstädten. Wir haben gleichgezogen.
Das leistungslose Geschacher der Investoren bringt uns mehr Einkaufszentren, mehr Schmutz und Dreck in die Stadt, etwa an der Tübinger Straße und hinter dem Bahnhof. Es bringt uns ein Luxus-Hochhaus mit dem dämlichen Namen „Cloud No. seven“ und ein Reichen-Quartier mit der ebenso peinlichen Adresse Killesberghöhe – wohl als soziale Abgrenzung zur Killesberg-Tiefe.
Meine Damen und Herren: Es gibt keine Endstation. Die Themen Mietwahnsinn und Armut in der Stadt habe ich heute bewusst gewählt: Als Bürgerbewegung, als einzige Opposition in dieser Grünen-Hochburg sind wir verpflichtet, uns damit auseinanderzusetzen. Soll uns doch keiner erzählen, die Milliarden für Stuttgart 21 hätten mit sozialen Problemen nichts zu tun. Man kann das Geschwätz von den „verschiedenen Finanztöpfen“ nicht mehr hören. In dieser Stadt verbrennt man Unsummen von Steuern für ein desaströs geplantes und aufwendig propagiertes Milliardenprojekt, während man zur selben Zeit Wellblechcontainer als Kindertagesstätten aufstellt. Und die Vesperkirche in der Altstadt kommt nicht mehr nach, den Leuten ein bezahlbares warmes Essen auszugeben.
Wir wagen ja nicht einmal zu hoffen, die Landesregierung oder der neue Oberbürgermeister könnten die sozialen Zustände entscheidend ändern. Beschämend ist allerdings, dass die neuen Politiker dazu keine Haltung zeigen – und nichts dazu sagen. Der Ministerpräsident startet lieber populistische Ablenkungsmanöver. Kretschmann fordert ein Alkoholverbot auf öffentlichen Plätzen – und eröffnet zur gleichen Zeit die Kampftrinker-Orgie beim Volksfest auf dem Cannstatter Wasen. Prost, Gemeinde!
Die Stuttgarter Bürgerbewegung, meine Damen und Herren, hat viele Dinge ans Licht gebracht. Diese Bewegung hat vielen die Augen geöffnet und das Interesse an Politik geweckt. Viele Menschen in dieser Stadt wollen die Dinge inzwischen selbst in die Hand nehmen. Klar ist, dass ohne den Protest, dass ohne den Einsatz von Zigtausenden aufgeweckter Leute und das mutige Engagement vieler kleiner Gruppen die meisten S-21-Schweinereien nie aufgedeckt worden wären. Wichtig für die politische Arbeit ist es aber auch, Zusammenhänge zu erkennen.
Es ist kein Zufall, wenn ausgerechnet in dieser Zeit der neoliberalen Übermacht die Zahl der Neo-Nazis extrem wächst, in manchen Gegenden geradezu erschreckend.
Meine Damen und Herren, wir müssen genau hinschauen, uns mit dieser Entwicklung beschäftigen und uns dem Problem stellen. Man erkennt die Nazis nicht mehr an Bomberjacken, Springerstiefeln und Glatzen. Experten warnen vor der politischen Scharnierfunktion in unserer Gesellschaft: Immer mehr Nazis, adrett gekleidet und halbwegs gebildet, drängen sich ungehindert in konservative Kreise – und ihre rassistischen Parolen werden dort auch noch unterstützt. Noch einmal: Niemand erwartet von Grünen oder Roten Regierungspolitikern Wunder. Aber es ist höchste Zeit, ein sichtbares und hörbares Zeichen gegen den neuen Nazi-Terror zu setzen.
Mag sein, dass Stuttgart selbst nicht im Fokus der Nazis steht – aber schon im Rems-Murr-Kreis und in Göppingen sieht es anders aus. Wir dürfen nicht zuschauen, wenn Justiz und Polizei mit der Unterstützung rechter Parteipolitiker den Nazi-Terror rechtfertigen, indem sie sich linke Nazi-Gegner greifen und abstrafen.
Wie Justiz und Polizei mit Demonstranten generell umgehen, wissen wir ja bestens von Stuttgart 21. Und damit schließt sich der Kreis: Eine Bürgerbewegung kennt keine Endstation. Wir steigen nicht aus.
Da unser zerstörter Bahnhof als Symbol für unsere politische Reise steht, möchte ich Ihnen zum Abschluss ein Zitat aus der Stuttgarter Zeitung vorlesen:
„Der von Paul Bonatz erbaute Stuttgarter Bahnhof war ein Glanzstück unter den repräsentativen Bauten unserer Stadt. Die Reisenden waren voll des Lobs über die klare Übersichtlichkeit und Sauberkeit unseres Bahnhofs, den Schwaben aber war dieses, in seiner schlichten Linienführung ... so sehr dem schwäbischen Geschmack entsprechende Bauwerk besonders ans Herz gewachsen, und sein Anblick erfüllte sie mit lokalpatriotischem Stolz ... Von der einstigen Sauberkeit ist nichts, aber von der architektonischen Schönheit trotz der schweren Zerstörungen doch so viel übrig geblieben, dass man hoffen kann, den Hauptbahnhof in einigen Jahren ungefähr so vor sich zu sehen, wie er war.“ Dieses Zitat ist vom 2. Juni 1948.
In diesem Sinne: Bitte alle einsteigen – es geht weiter!
Danke Herr Bauer fuer Ihre Rede und das „ausgegrabene “ Zitat der Stuttgarter -Allerwelts Zeitung von 1 9 4 8 ! ! ! Viele Gruesse aus dem warmen Sueden in den “ rambonierten “ Stuttgarter Talkessel und weiterhin obenbleiben …
Joe Bauer hat zwar als Feigenblatt der Lokalredaktion Narrenfreiheit. Trotzdem danke! Immer wieder danke!
Altgediente Bürger der Stadt wie unser Joe, Bruno und Ralf sind es, die der gewachsenen Stadt mit Wissen, Einfühlungsvermögen und Respekt auf den vielen Ebenen, die eine Stadt so hat, begegnen und das auch lebendig vermitteln können.
Ich empfinde immer Dankbarkeit, wenn ich solchen Menschen begegne, die ihr Wissen und ihre Sicht daraus mit mir und anderen teilen und auch ihre wertvolle Zeit dafür opfern.
Ja, und allen Vergrippten eine gute Besserung!