Rede von Volker Lösch am 30.9.2011

Liebe Mitstreiter und Mitstreiterinnen!

Viele von uns haben heute vor einem Jahr
buchstäblich am eigenen Leib erfahren, wie es sich anfühlt,
wenn man sich vor prügelnde Polizisten setzt, vor Wasserwerfer stellt;
wenn persönliches Engagement konkret wird;
was passiert, wenn Protest  zu aktivem Widerstand wird.

Und wir haben in den Tagen und Monaten danach
den Staat und seine Vertreter   intensiv kennengelernt.
Der damalige Ministerpräsident –
und der heute noch amtierende Bürgermeister –
haben die Kritikfähigkeit der Bürger   im Bierzelt verhöhnt,

Polizisten und hohe Beamte die Öffentlichkeit belogen,
und der damalige Innenminister hat im Fernsehen
Demonstranten als Gewalttäter beschimpft.
Hunderte von uns   sind am 30. September
von der Polizei verletzt worden,
der Demonstrant Dietrich Wagner ist erblindet.
Viele wurden strafrechtlich belangt,
und während der sogenannte Untersuchungsausschuss
pauschal und dreist die Opfer kriminalisierte,
hat von den Tätern bis heute –
niemand ernsthafte Konsequenzen zu befürchten.

Für viele hier in Stuttgart   waren das ganz neue Erfahrungen.
Und spätestens am 30. September haben alle unmissverständlich kapiert:
Der Widerstand gegen Stuttgart 21 –
richtet sich nicht nur gegen einen sinnlosen Bahnhofsneubau –
er stört und behindert vor allem
die Routinen und Abläufe   eines in sich geschlossenen Systems!

Eines Systems,   welches sich jahrzehntelang –
in scheindemokratischen Strukturen, mafiotischen Cliquen,
geschlossenen Zirkeln und außerparlamentarischen Bündnissen,
konstituiert,  eingerichtet und ausgebreitet hat!
Eines mit beträchtlicher krimineller Energie ausgestatteten Systems ,
welches im Stile feudalaristokratischer Selbstherrlichkeit
wichtige öffentliche Entscheidungen,
am Parlament und an den Bürgern vorbei, gefällt hat –
und das mit einem einzigen Ziel:
zur persönlichen und vor allem materiellen Bedürfnisbefriedigung!

Der Widerstand gegen S21 hat also –
in dieser Form und Intensität   zum ersten Mal in Baden–Württemberg
die etablierte Lebensgestaltung   und das Weltverständnis!
einiger Unternehmer, Politiker, Beamte, Manager,
die privat, politisch und ökonomisch
aufs Engste miteinander vernetzt sind – radikal in Frage gestellt!

Und damit haben wir für diese Macht-Elite –
die sich jahrzehntelang über Gebote der Gewaltenteilung
des Anstands und der Transparenz hinweggesetzt hat –
eine existentielle Bedrohung geschaffen!

Deshalb diese vehemente Reaktion   dieser eruptive Gewaltexzess,
deshalb dieser dreiste Versuch von Mappus und seinen Prügelhorden,
durch Erzeugung von Angst   zukünftig Kritik verhindern zu wollen!

Im Schlossgarten ging es am 30. September mitnichten um S21!
Es war vielmehr ein verzweifelter und brutaler Überlebenskampf
einer korrupten Kaste von Möchtegern-Fürsten,
die ihr autokratisches Verständnis von Gesellschaft
um jeden Preis!
Auch um den Preis körperlicher Versehrtheit anderer –
erhalten wollten!

Dass sich die Protagonisten dieser unwürdigen Veranstaltung –
heute im politischen und öffentlichen Niemandsland befinde;
dass man,   wenn man die Namen Mappus, Rech, Gönner und Co. hört,
eigentlich nur noch zwei Gesichtsausdrücke vor sich sieht,
nämlich das selbstgefällig pausbäckige Grinsen vor –
und das ungläubig kuhäugige Glotzen nach der Wahl,
das verschafft selbst ein Jahr danach
immer noch  und immer wieder  Genugtuung!

Der 30.september hat dann in der Folge –
eine Reihe von Ereignissen ausgelöst,
die in ihrer Komprimiertheit ihresgleichen sucht.

Zunächst stand die Empörung im Vordergrund.
die Empörung über gefälschte Zahlen und handfeste Lügen,
über unterschlagene Informationen und gefälschte Budgets,
die Empörung über die Dreistigkeit einiger Mitbürger,
sich auf Kosten der Allgemeinheit bereichern zu wollen .

Und zwischen dem Sommer 2010 und dem 30. September –
fand vieltausendfach der nächste und entscheidende Schritt statt:
aus passiver Empörung   wurde aktiver Widerstand!

Der 30. September war so etwas wie ein Gründungsakt:
er verpflichtete fortan dazu, noch konsequenter aufzubegehren,
so lange zu protestieren,
bis das dümmste Bauvorhaben Deutschlands erledigt ist!

Und die K21–Bewegung hat spätestens seit dem 30. September
Verantwortung übernommen –
Verantwortung dafür, wie wir heute und zukünftig leben wollen.
und das ganz ohne lobbyistische Unterstützung,
ohne große Geldmittel und teure Werbeagenturen,
ohne naiven Fortschrittsglauben,
ohne die Beschwörung von wundern,
und ganz ohne den lieben Gott!

Stuttgart ist für mich persönlich, der ich seit sechs Jahren –
mit pfälzisch–uruguayischem Migrationshintergrund hier lebe,
in diesem einen Jahr
zu einer konkreten   zu einer fassbaren und offenen Stadt geworden,
zu einer Stadt mit vielen faszinierenden und starken Persönlichkeiten –
jenseits aller Schwaben-Klischees,
oder dem blöden Geschreibe über den sogenannten Wutbürger.

Und viele beschreiben Ähnliches:
Dass sie sich seit Langem wieder für etwas engagieren
und plötzlich so erfahren,
dass Solidarität sogar Spaß machen kann!
Dass solidarisches Handeln eine kraftvolle alternative  –
zu rein gewinnorientierten Tätigkeiten darstellen kann!

Und nicht zufällig   haben sich parallel zum Widerstand gegen S21,
unzählige Vernetzungen zivilgesellschaftlicher Vereinigungen –
vor allem im Internet – gebildet,   die mit großem Erfolg arbeiten.
Und ob es in Madrid, in Griechenland oder in Frankreich
zu Protesten kommt –
natürlich aus ganz unterschiedlichen Gründen,
und in differenten Ausformungen –
eines eint all diese Protestbewegungen:
Die beteiligten haben den wichtigen Schritt
von der passiven Empörung   zum aktiven Widerstand gemacht!

Es ist europaweit eine neue Lust an der Kritik,
am einmischen, am Mitdenken,
Lust auf politisches Engagement entstanden,
und wir S21-Gegner   haben einen nicht unerheblichen Anteil daran!

Ich formuliere es mal absichtlich pathetisch:
Es konstituieren sich derzeit Kräfte –
die die Welt wieder verändern können!
Und die Welt wiederum –
kommt an diesen Widerstandsbewegungen nicht mehr vorbei!
Und auch an unserer   kommt niemand mehr vorbei!
Das vergangene Jahr hat gezeigt,
was alles möglich ist   was man schaffen kann,
wenn man dranbleibt   und sich nicht unterkriegen lässt!

Und ich wende mich auch ganz explizit
an die Adresse all derjenigen, die glauben,
S21 sei durch Ignorieren und Aussitzen von Problemen zu realisieren,
die glauben, der Widerstand sei eingeschlafen.

Liebe Bahn   und liebe Freunde von Stuttgart 21 – das Gegenteil ist Fall!
Wir sind so stark und so gefestigt   wie nie zuvor!
Wir strotzen nur so vor Selbstbewusstsein!
Warum sollte denn ausgerechnet zum jetzigen Zeitpunkt
irgendjemand von uns abspringen oder aufhören???
Dafür haben wir einfach schon zu viel erreicht!

Wir waren nämlich im letzten Jahr   extrem erfolgreich!
Wir haben zig Betrügereien   Vertuschungen
und Korruptionsskandale   öffentlich gemacht!
Wir haben massenweise Planungsfehler,
Pfusch und Schlampereien aufgedeckt!
Wir haben mehrere Baustopps erwirkt!
Wir haben uns am 30. September nicht einschüchtern lassen!
Wir haben die sogenannte Schlichtung erzwungen,
und für unser Anliegen weltweit Aufmerksamkeit erregt!
Wir haben die CDU_FDP–Mappus–Connection aus dem Landtag gefegt!
Wir haben den sogenannten stresstest als Farce entlarvt!
Wir haben sogar Heiner Geissler überstanden!
Wir haben durch bald 100 Montagsdemos
und zahllose Großdemos eine unglaubliche Präsenz erzielt,
und konstanten Druck auf der Straße aufrechterhalten!
Und das alles immer mit friedlichen Mitteln!
Liebe Freunde des Tiefbahnhofes:   So sehen Sieger aus!
Und wir haben zu jedem Zeitpunkt des Streits
inhaltlich weitergearbeitet.
Das Argumentieren, Faktensammeln,
das sich präzise mit der Materie Beschäftigen –
war und ist uns immer ein zentrales Anliegen!
Wir haben eine schier unglaubliche Menge!
an nachvollziehbaren und stichhaltigen Argumenten gegen S21
der Öffentlichkeit präsentiert.

Und dass diese Menge an Argumenten –
die zu gefühlten 50 Projektabbrüchen hätte führen müssen –
immer noch kein Ende von S21 bewirkt hat –
wird als groteske   bizarre und unwirkliche   ja gespenstische Szenerie –
längst deutschlandweit wahrgenommen!

Liebe Mitkämpfer und Mitkämpferinnen:
Der Gegner taumelt   wie ein angeschlagener Boxer.
er irrt wie ein herrenloser Staubsauger herum,
und zeigt mehr als deutliche Ermüdungserscheinungen –
das Projekt Stuttgart 21 ist kurz vorm Kollabieren!

Die Bahn gibt Mehrkosten von 370 Millionen zu!
Das sind dann seriös gerechnet – mehr als 500 Millionen!
Wir stehen jetzt bereits bei sechs Milliarden Euro Gesamtkosten!
Der Projektplaner der Neubaustrecke hat hingeschmissen!
Und die Bahn selber
beschäftigt sich bereits   mit diversen Ausstiegsszenarien!

Daher auch die diffuse Hektik   mit der versucht wird,
das Projekt noch irgendwie voranzutreiben,
um immer noch mehr unsinnige Fakten zu schaffen,
um dann bei Ausstiegsverhandlungen –
Richter unter Druck setzen zu können!

Liebe Freunde und Freundinnen des Kopfbahnhofes –
das Aus für Stuttgart 21 steht näher bevor,
als wir es für möglich halten.
Denn es wird überraschend   und unspektakulär kommen,
einfach so   wie ein mit Wasser befülltes Glas irgendwann überläuft.

Und das Ende wird definitiv kommen,
wenn wir nur eine Regel befolgen:
Wir müssen dranbleiben – und immer wieder nachsetzen!

Wenn es an den Südflügel gehen sollte –
werden wir uns dagegenstellen   und es verhindern!
Wenn es an die Bäume im Schlossgarten gehen sollte –
werden wir den Park besetzen   und die Baumfällungen verhindern!
Wenn diese schönen blauen Rohre
weiter in den Park und in die Stadt vordringen sollten –
dann werden wir auch das zu verhindern wissen!
Und wenn der Streit um dieses Projekt –
in eine ähnlich existenzielle   und dramatische Situation
wie vor einem Jahr am 30. September geraten sollte –
dann werden wir wieder,   und das ist ein Versprechen!
zu Zigtausenden da sein,
mit zigtausendfacher physischer Präsenz
blockieren und demonstrieren und demonstrieren und blockieren –
und Stuttgart 21 verhindern!

Liebe Freunde und Freundinnen –
wir sind schon so oft totgesagt worden!
Nach dem Abriss des Nordflügels hieß es:   Das war‘s jetzt.
Wir sind gestärkt daraus hervorgegangen!
Nach dem 30. September hieß es:  Das sind Kriminelle.
Wir sind gestärkt daraus hervorgegangen!
Nach der Schlichtung hieß es:   Stuttgart 21 plus kommt.
Wir haben auch diesen Quatsch verhindert!
Vor der Wahl hieß es:  Ihr seid sehr sympathisch,
aber Ihr habt keine Chance.
Wir haben die Wahl gewonnen!
Nach dem Stresstest hieß es verzweifelt:   vielleicht eine Kombilösung.
Auch die ist vom Tisch!

Und wir werden auch eine landesweite Volksabstimmung meistern!
Natürlich wäre es gerechter gewesen,
im Raum Stuttgart   eine verbindliche Bürgerbefragung durchzuführen,
gerechter als eine Volksabstimmung mit Quorum –
und das auch noch über rechtswidrige Verträge!
aber – liebe Kopfbahnhoffreunde und -freundinnen –
wann wurden wir jemals gerecht behandelt?
Wann hat es im Streit um S21 für uns –
jemals eine faire Ausgangslage gegeben???
Wir haben immer auf nahezu verlorenem Posten gekämpft –
um dann immer als Sieger vom Platz zu gehen!

Denn das ist unser Erfolgsgeheimnis:
Wir haben Herausforderungen   immer angenommen!
Also vergesst die traditionelle Benachteiligung!
Wir werden arbeiten, aufklären und kämpfen –
und bei der Volksabstimmung
mindestens eine einfache Mehrheit erzielen!

Wir stehen also in der Verantwortung.
und wir sind dazu verpflichtet,   weiterzumachen!
Wir sind nicht nur in der Pflicht all denen gegenüber,
die seit Jahren Mut   kraft   Geld und nerven eingesetzt haben,
sondern auch denen gegenüber   in ganz Deutschland,
die sich von unserem Widerstand
eine politische Wende für mehr Demokratie,
soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz versprechen!
Es geht um unsere Mitwelt, es geht um unsere Umwelt,
und es geht um unsere Nachwelt!

Der 93-jährige ehemalige Widerstandskämpfer   Stephane Hessel sagt:

Neues schaffen –
heißt Widerstand leisten.
und Widerstand leisten –
heißt Neues schaffen!

In diesem Sinne sagen wir:

oben bleiben heißt Widerstand leisten –
und Widerstand leisten
heißt
oben bleiben!

 

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11 Antworten zu Rede von Volker Lösch am 30.9.2011

  1. Pingback: Rede von Volker Lösch am 30.9.2011 | dª]V[ªX

  2. Lang sagt:

    Danke für den Text der Rede von Volker Lösche – und danke für all eure Mühe.

  3. ebenerdig sagt:

    Ha, das ist eine Rede!
    Großen Dank
    und dranbleibige Grüße

  4. Heidrun Ritter sagt:

    Tausend Dank fürs hier einstellen!

  5. burger_lichtenstein sagt:

    brillant formuliert & furios vorgetragen – bravissimo!
    b.l.

  6. gerdos sagt:

    In meinen Augen leider keine besondere Rede. Die übliche Protestrhetorik. Kein Wort zu den heuchlerischen Grünen. So werden Meinungen und Standpunkte manipuliert. Sie (das Bündnis m it den Grünen Häuptlingen) allein sind der Grund, warum ich mich als Unterstützer von S 21 verabschiedet habe. Denn mit der Illusion über die Aufrichtigkeit der Grünen wird der Kampf verloren gehen. Vielleicht wäre es einmal gut, das neue Buch von Jutta Ditfurth zu lesen, bevor hier weitergeschwärmt wird.

    • Hans Hase sagt:

      „Sie (das Bündnis m it den Grünen Häuptlingen) allein sind der Grund, warum ich mich als Unterstützer von S 21 verabschiedet habe.“

      Warum gibst du dann deinen destruktiven Senf dazu? Tschüss!

      • gerdos sagt:

        Hasn Hase: Weil es Jubelpresse nur in totalitären Systemen gibt. Hier darf auch kritisiert werden. Einige Viele in @de meinen ja auch, der Papst hätte eine intelligente Rede im Bundestag gehalten.

  7. herby34 sagt:

    Diese Rede von Volker Lösch war -wie sollte es auch anders sein – eine hervorragende und flammende Motivationsansage an alle Widerstandskämpfer gegen S21! Herr Lösch,vielen herzlichen Dank für Ihre immer wieder und fortwährende Motivation!!! Sie sind das Salz in der Suppe gegen S21 und ein festsitzender Dorn im Fleisch des mafiösen Kartells! Ein Dorn der uns allen hilft und gut tut!!!

  8. Norbert Rupp sagt:

    Gekonnt. Aber Vorsicht vor zu viel Optimismus; diese S21-Mafia hat noch längst nicht alle Tricks und Gemeinheiten vorgeführt, denn das ist das Einzige, was die überhaupt je hatte, davon aber mehr als genug für mehrere Untergrundbahnhöfe. Die Wahrheit stirbt auch hier nämlich zuerst, wenn man nicht aufpasst. Sie wird von der Profit- und Machtgier erdrückt. Man muss sie also ständig beatmen, z.B. durch Demos usw. Das hat bis jetzt ja auch geklappt.

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