Rede von Winfried Wolf

Rede von Verkehrsexperte Winfried Wolf am 29. Juli 2011 auf dem Stuttgarter Marktplatz

Es gibt eine Doppelformel die die Schlichtung im November und die Stresstest-Präsentation heute für den S21-Widerstand so kompliziert macht. Und die Ursache für Irritationen und jüngere Zick-Zacks ist. Diese Doppelformel lautet:

  1. Heiner Geißler wird als ehrlicher Makler präsentiert. Er ist aber Teil der Betonpartei.
  2. Heiner Geißler behauptet, bei den von ihm moderierten Debatten kämen alle „Fakten auf den Tisch.“ In Wirklichkeit wurde durch ihn die Debatte um Stuttgart 21 extrem verflacht und auf das Thema Effizienz reduziert. Und am Ende wird noch bei der Effizienz manipuliert.

Zum ersten Teil dieser Formel, zur Person von Heiner dem Scheinheiligen.

Vor einigen Tagen katapultierte sich Geißler mit einem scheinbar flapsigen Spruch in die Schlagzeilen. Er lautet: „Der Bahnhof wird sowieso gebaut.“

Da gab es dann Proteste. Wie kann ein ehrlicher Makler, ein Moderator so etwas sagen. Geißler relativierte seine Aussage dann etwas. In Wirklichkeit war die Formulierung wohl überlegt und kühl plaziert. Geißler spielt professionell auf der Klaviatur der Medien. Das war ein Testlauf.

In Wirklichkeit war die Aussage auch nichts Neues. Wörtlich sagte und schrieb Geißler im Schlichterspruch vom 30. November 2010: „Ich halte die Entscheidung, Stuttgart 21 fortzuführen, für richtig.“

Und vorgestern, zwei Tage vor der Stresstest-Präsentation, sagte Geißler in einem Interview mit „Spiegel-online“:

„Der neue Bahnhof in Stuttgart, wenn er dann gebaut ist, wird nicht identisch mit dem sein, der einst als S21 geplant wurde. Das wird mindestens ein Bahnhof S21 PLUS sein“ Geißler sagt nicht: “... wenn er denn gebaut werden sollte.“ Er glaubt zu wissen - und er will -, dass er gebaut wird.

Geißler ist in dem Verfahren also eindeutig Partei, das behauptete ehrliche Maklertum ist eine mediale Marke, Geißler betreibt auf kluge Art das Business der Beton-Mafia.

Geißler wollte für seine Ziele übrigens am 27. März explizit eine schwarz-grüne Landesregierung. Es wurde dann Grün-Rot, und wir haben dieses Ergebnis am Abend des 27. März, vor nur vier Monaten, auf dem Schlossplatz ziemlich ausgelassen gefeiert.

Doch wenn wir uns die Politik in Sachen S21 in den letzten Woche ansehen, dann fällt die Bilanz ausgesprochen gemischt aus:

  • Der Ministerpräsident Kretschmann sagt: „Wir akzeptieren das sma-Gutachten.“ Kaum ein Wort zu den hanebüchenen Grundlagen nach denen der Stresstest durchgeführt wurde.
  • Alle - auch Boris Palmer - sagen: „Wir akzeptieren den Volksentscheid.“ Kein Wort dazu, dass der Stuttgarter Bahnhof eine Angelegenheit der Stuttgarter ist, dass niemand in Stuttgart auf die Idee käme, dass über den Karlsruher Bahnhof in Stuttgart mitentschieden werden kann.
  • Und niemand zieht vor die Gerichte, niemand tritt den Weg zum Bundesverfassungsgericht an, um Klage einzureichen, dass alle S21-Verträge seit 17 Jahren null und nichtig sind, weil sie wider Treu und Glauben geschlossen wurden. Und das belegen doch die neuen Funde aus dem Ministerium Hermann, wonach auch unter der CDU-Ministerin Gönner man genau Bescheid wusste, dass die öffentlich kommunizierten S21-Kostenkalkulationen bewusst zu niedrig gehalten, also gefälscht sind.

Wenn wir uns also diese Politik ansehen, dann wissen wir: Wir sind wieder in erster Linie auf uns und unsere Präsenz auf den Straßen und Plätzen angewiesen.

Diese Politik der S21-Betreiber ist im übrigen deutlich perfider als sie die Mappus-Strobel-Gönner-Clique je hätte machen können. Ich erinnere an die Briefe des Finanzamtes Stuttgart an VCD und BUND vom 20. Juli. Danach wird jetzt geprüft, diesen Verbänden wegen ihres S21-Engagements die Gemeinnützigkeit abzuerkennen. Damit wird die Spenden-Abzugsfähigkeit in Frage gestellt, was bei Verbänden dieser Art den Tod auf Raten bedeutet. Es stellt sich die Frage, wem untersteht das Finanzamt Stuttgart seit April? Antwort: Dem Finanzminister Nils Schmid, ein bekennender S21-Fan, der auch sagt, er habe „Benzin im Blut“.

Doch zum zweiten Teil der Doppelformel. Zu meiner Behauptung, dass bei Geißler eben nicht alle Fakten auf den Tisch kommen, dass die Geißler-Show vor allem durch eine Reduktion der S21-Kritik auf „Effizienz“ so gefährlich ist. Erinnern wir uns an den Frühling und Sommer 2010: Der Widerstand wurde von Montag zu Montag breiter, es sprossen immer neue Gruppen und Initiativen aus dem Boden.Die S21-Kritik betraf und betrifft Denkmalschutz, Parkschutz, Bäumeschutz, Mineralwasserquellen, Gebäude-Standsicherheit, Urbanität, die Interessen von Behinderten und Jugendlichen, Demokratie-Abbau und Polizeistaat, die Kritik am Geschwindigkeits-Fetischismus ... Und dann gab es diese krasse Simplifizierung im schlichten Spruch: statt S21 nun S21 PLUS. Es gehe im Kern darum, dass S21 leistungsfähiger als der Kopfbahnhof sein müsse.

Genau wie alles begann vor 17 Jahren. Als im April 1994 S21 von Matthias Wissmann (damals Bundesverkehrsminister, heute Chef des Verbandes der deutschen Automobilindustrie) und Heinz Dürr (damals und heute Chef eines der größten Autozulieferers der Welt und damals auch im Nebenberuf Chef der Deutschen Bahn AG) vorgestellt wurde, da stand ein Thema im Zentrum: Es gehe um die Effizienzsteigerung des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Dieser sei ein „Nadelöhr“. Dabei gab es eine Art klammheimlichen Appell an das behauptete schwäbische Minderwertigkeitsgefühl und die These: Wenn wir den Kopfbahnhof, der jetzt nur noch als „Sackbahnhof“ betitelt wurde, abschaffen und eine unterirdischen Durchgangsbahnhof schaffen, dann öffnen wir uns für die Moderne, dann wird Stuttgart Bestandteil der Achse Paris-Strasbourg-Bratislava.

Diese Effizienzdebatte war ein Jahrzehnt lang mit dem Streit Kopfbahnhof versus Durchgangsbahnhof verbunden. Und sie dominierte die Diskussion. 2009/2010 gab es dann vor allem durch die Bewegung auf der Straße und die Montagsdemos die beschriebene Wende: das Hervortreten neuer Kritikthemen und die Relativierung der rein technisch geführten Effizienzdebatte. Und dann kam der Schlichterspruch vom 30. November - erneut mit dieser Reduktion. In ihm gibt es einen zentralen Satz, der seit acht Monaten unsere Debatten bestimmt. Der Satz lautet: „Die Bahn muss den Nachweis führen, dass ein Fahrplan mit 30% Leistungszuwachs in der Spitzenstunde mit guter Betriebsqualtiät möglich ist.“

Geißler betonte, er habe an jedem Wort seines schlichten Spruchs gefeilt. So war es offensichtlich.

  • Da steht: „Die Bahn muss ... “, nicht eine neutrale Instanz wird hier genannt.
  • Da steht: „ein Fahrplan“. Kein Wort von einem integralen Taktfahrplan.
  • Da steht: „gute Betriebsqualität“. Kein Wort von optimal; nicht einmal ein Abbau von Verspätungen im S21-Bahnhof wurde festgeschrieben.
  • Da steht: „30%“. Das ist eine lächerliche Steigerung für einen Bahnhof, der frühestens 2022 fertig sein soll, und der dann ja nicht mehr erweitert werden kann. Weil dann gilt: Festgemauert in der Erden...
  • Das Groteske und Raffinierte dabei ist: Nirgendwo wird gesagt: Was sind 100%? Was ist die Basis? 30% mehr - mehr als was?

Nein, das ist kein Versehen, kein Fehler. Vorgestern noch formulierte Geißler es ähnlich raffiniert / falsch bei Spiegel-Online. Dort heißt es: „Ziel des Schlichterspruchs war es, dass die Bahn per Stresstest die Leistungssteigerung von S21 nachweist [...] Diese Ziel ist erreicht [...] sma bestätigt, dass der neue Bahnhof in der Lage ist einen Verkehr mit der Abfolge von 49 Zügen zu ermöglichen.“

Geißler verfügt ziemlich sicher über die mathematischen Grundkenntnisse von Prozentrechnen. Doch erneut gibt es keinen Bezugspunkt. Sicher: Stillschweigend heißt es immer, Basis sei der jetzige Kopfbahnhof, die aktuelle Leistung in dem selben. Doch das wird nicht oder fast nie so ausgeführt. Und warum wird so verfahren? Antwort: Man will verhindern, dass konkrete Kritik an diesem falschen Bezugspunkt „heutige Leistung des Kopfbahnhofs“ formuliert wird. Dass nicht deutlich wird, wie manipulativ dieser Bezugspunkt ist. Dass diese „heutige Leistung“ aus verkehrshistorischen Gründen - Bau des S-Bahntunnels 1978 - eine extrem niedrige ist.

Tatsächlich liegt die Leistungsfähigkeit des Kopfbahnhofs massiv höher - nicht nur abstrakt, nicht nur simuliert. Sie war real erheblich höher als heute. Und hier liegt ein ganz dicker Hund begraben.

Egon Hopfenzitz griff das Thema bereits bei seinem Auftritt in der Schichtung am 5. November 2010 auf. Damals sprach er von „809 Zügen pro Werktag im Jahr 1969“ und nur „650 Zügen heute“ (2010). Dies seien damals, 1969, bereits „24% mehr als heute“ (2010) gewesen. Das wurde damals zu wenig beachtet. Auch weil man dann in der Stresstestanforderung nicht auf die Tagesleistung, sondern auf die Leistung in der Spitzenstunde abhob.

Seit letztem Montag - und nach einem monatelangen Suchen in Archiven - sind wir einen großen Schritt weiter. Am 25. Juli führten Egon Hopfenzitz, Professor Bodack, Andreas Kleber, Walter Sittler und ich eine Pressekonferenz hier im Stuttgarter Rathaus durch. Wir legten erstmals Dokumente zur historischen Leistungsfähigkeit des Stuttgarter Kopfbahnhofs für die selbe „Spitzenstunde“ vor, die im Stresstest genannt wird. Wir dokumentierten mit Orginaldokumenten der alten Fahrpläne

  • dass es 1968 in dieser Spitzenstunde 49 Züge gab - ebenso viele wie das Maximum im Stresstest
  • dass es 1969 in der selben Stunde 51 Züge gab - zwei mehr als das Stresstest-Maximum
  • dass es 1970 55 Züge waren - bereits sechs mehr als das Stresstest-Maximum
  • und dass es 1966 in der Spitzenstunde 56 Züge waren - bereits sieben mehr als im Stresstest

Das heißt: Die real abverlangte Leistung dieses Kopfbahnhofs lag 50% höher als heute und 14% höher als das Stresstest-Maximum. Dabei geht es immer darum: Diese Leistung wurde real gefahren und nicht nur simuliert. Gefahren wurde ein sinnvoller Fahrplan und nicht irgendein in einen Stresstest passender Fahrplan.

Auf dieser Pressekonferenz gab es wie eben auch in der Stresstest-Präsentation ein Standard-Gegenargument, vorgebracht von einem Journalisten der „Stuttgarter Zeitung“. Es lautet: Aber die Zulaufstrecken reichen nicht aus für die alten Leistung des Kopfbahnhofs und die neue Leistung des S-Bahnverkehrs. Die Antwort die Egon Hopfenzitz gab ist simpel und überzeugend:

  • Diese Probleme tauchen in der gleichen Form bei S21 auf, wenn dort 49 Züge gleichzeitig mit dem S-Bahnverkehr auf den Zulaufstrecken gefahren werden sollen.
  • Diese Probleme müssen und können, wenn sie denn auftreten, dort behoben werden, wo sie auftauchen: bei den Zulaufstrecken, durch den Bau von neuen, kreuzungsfreien Verbindungen.
  • Absolut falsch und ein Schildbürgerstreich ist es jedoch, den Kopfbahnhof als Nadelöhr zu bezeichnen, wenn „nur“ die Zulaufstrecken Engpässe aufweisen.
  • Grotesk ist es, den Kopfbahnhof abzureißen und 5 bis 8 Milliarden Euro für S21 auszugeben, wenn man für ein Zehntel oder Zwanzigstel dieses Betrags die Zulaufstrecken optimieren kann.

Es war Heiner Geißler, der im Schlichterspruch vom 30. November schrieb: „Ich hatte zunächst überlegt, eine Abwägung und Beurteilung der Argumente zu allen wichtigen Streitpunkten vorzunehmen, also zur verkehrlichen Leistungsfähigkeit, zum Betriebskonzept, zur Ökologie, Stadtplanung, Geologie und zur Finanzierung.“ Tatsächlich reduzierte Geißler die Debatte dann auf die Effizienz. Angeblich weil eine breiter angelgte Schlichtung „jeden Zeitrahmen gesprengt hätte.“ Der Grund für diese Reduktion war und ist ein anderer. Die Bewegung gegen S21 soll entpolitisiert, „technisiert“ und befriedet werden.

Unser „Oben bleiben“ ist jedoch begründet

  • in der Ökologie (Förderung der Schiene versus Abbau der Schiene)
  • im Städtebau (Erhalt des Bonatz-Baus als Eingangstor in die Stadt)
  • in der Verkehrspolitik (der Kopfbahnhof ermöglicht ebenerdige Wege für alle)
  • in der Geologie (keine Gefährdung der Mineralwasserquellen)
  • in der Kritik an der absurden Bauzeit (wir wollen nicht ein Jahrzehnt „Stuttgart a.b.R.“ heißen, also „Stuttgart am blauen Rohre“)
  • im verantwortungsbewussten Umgang mit Steuergeldern
  • in der Verkehrssicherheit (bitte kein Schrägbahnhof)
  • und last not least sicher auch in der Effizienz eines Kopfbahnhofs.

Nur die Gesamtheit dieser Aspekte kann die Bewegung gegen S21 und für die Optimierung des Kopfbahnhofs beschreiben.

Ich schließe mit einem wunderbaren Zitat das vor ein paar Tagen Anderes Kleber ausgegraben hat: „Die Ausfahrt aus dem Stuttgarter Hauptbahnhof ist für Jung und Alt immer wieder faszinierend, denn die Gleise werden aus allen Richtungen kreuzungsfrei in die 16 Gleise des Personenbahnhofs eingeführt. Diese Anlage ist ein Meisterwerk der Ingenieurskunst und hat auch heute noch kaum etwas Vergleichbares im europäischen Schienennetz.“

Es ist die Bahn selbst die das schreiben und veröffentlichen ließ - und zwar 1998, vier Jahre nach Verkündung von S21, in einer Broschüre mit dem Titel „Der Fenstergucker“. Die deutsche Bahn AG dokumentierte also damals noch, dass dieser Bahnhof jede Art Stresstest bestanden hat. Und es ist diese Bahn AG die diese „Meisterleistung der Ingenieurskunst“ abreißen will. Und wir sind es, die ihn verteidigen. Oben bleiben.

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4 Antworten zu Rede von Winfried Wolf

  1. Herr Bergmann sagt:

    Das ist für mich der wichtigste Satz heute: „Diese Politik der S21-Betreiber ist im übrigen deutlich perfider als sie die Mappus-Strobel-Gönner-Clique je hätte machen können. „

  2. ebse sagt:

    Die Politik im Land muss sich jetzt die Oberhand über solche sinnlosen Machenschaften zurückholen. Die Bahn hat bezüglich der Stadt-Gestaltung nix, gar nix zu melden. Hr. Kretschmann, übernehmen Sie das. Bitte.

  3. Frank sagt:

    Super –
    Winfried Wolf ist einer der wenigen tatsächlichen, nicht ausschließlich
    benzinumnebelten Verkehrsexperten .

    Lesestoff:

    Wolf, Winfried – VERKEHR – UMWELT – KLIMA
    http://www.mediashop.at/typolight/index.php/buecher/items/wolf-winfried-verkehr-umwelt-klima

    Leider vergriffen:
    Winfried Wolf „Eisenbahn und Autowahn“
    http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13522988.html

    Auch gut:
    Klaus Gietinger: Totalschaden
    http://westendverlag.de/westend/buch.php?p=42

    Grüsse

  4. beFÜRworteS21 sagt:

    Ja, immer wieder interessant wenn sieht wie sich die viel gerühmten Grünen hier verhalten. Fähnlein im Wind würde ich es nenen
    🙂

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