Behinderte, Senioren und Mütter fordern barrierefreie Fluchtwege
Stuttgart, 10. März 2011: Vertreter der Initiative Barrierefrei - gegen Stuttgart 21, der Kinderwagendemo und der Senioren gegen Stuttgart 21 zeigen, mit welchem Hohn und mit welcher Ignoranz die Bahn weniger mobilen Menschen entgegentritt. Sie fragen 'Wer trägt mich die Treppe hoch?', denn darauf wären sie bei einem Evakuierungsfall im Tunnelbahnhof angewiesen.
„Stuttgart 21 steckt voller Barrieren für uns Rollstuhlfahrer. Daher haben wir die „Initiative Barrierefrei gegen Stuttgart 21“ gegründet, um auf diese grundlegende Fehlplanung aufmerksam zu machen“, sagt Attila Medgyesi, der seit 16 Jahren im Rollstuhl sitzt. „Barrierefreie Fluchtwege sind eine Illusion in einem Tiefbahnhof, für Rampen ist kein Platz. Diese Planung ist ein Hohn, vor allem wenn man bedenkt, dass Stuttgart einen sehr gut funktionierenden, sehr leistungsfähigen und wirklich barrrierefreien Bahnhof hat. Die Bahn und die Bundesregierung diskriminieren alle, die nicht leichtfüßig die Treppe hochspringen können, und das, obwohl die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag verspricht, Barrieren abzubauen, statt neue zu schaffen.“
Die Hochglanzbroschüren zu Stuttgart 21 loben Geißlers Schlichterspruch, er schlage „folgende unabdingbare Verbesserungen vor: [...] Die Durchgänge im neuen Bahnhof müssen verbreitert werden, die Fluchtwege sind barrierefrei zu machen.“ Auf Nachfrage bei der Bahn antwortete Technikvorstand Volker Kefer persönlich: „[...] Hinsichtlich der Frage nach Rampen muss festgestellt werden, dass für eine selbstständige Nutzung durch Rollstuhlfahrer eine so flache Neigung vorgeschrieben ist, dass sich die Länge einer Rampe auf dem Bahnsteig zur Erreichung der ca. 7m höher liegenden Stege nicht ohne andere, wesentliche Nachteile darstellen ließe [...]“ (die Rampen müssten über 140 Meter lang sein). Barrierefreie Fluchtwege wird es mit Stuttgart 21 also nicht geben.
Weiter schreibt Volker Kefer: „Der Brandfall im Bahnsteigbereich ist insoweit ein besonderer Evakuierungsfall, weil dann die Nutzung von Aufzügen nicht gestattet ist. [...] Wir gehen davon aus, dass Mitreisende, sowie Mitarbeiter der DB und ggf. anwesende Sicherheitskräfte die Evakuierung von Menschen mit Gehbehinderungen im Rahmen der Hilfeleistungspflicht schon in der Selbstrettungsphase unterstützen. Entsprechende Aufforderungen zur Unterstützung sind auch Bestandteil der Lautsprecherdurchsagen im Störungsfall. [...]“ Ein erwachsener Mensch wiegt durchschnittlich ca. 80 kg. Auch zu zweit sind die wenigsten Menschen körperlich in der Lage, eine solche Last über eine längere Strecke zu tragen, schon gar nicht eine lange Treppe hoch und in einer Paniksituation. Es gilt also 'Rette sich, wer kann', das bestätigt auch ein erfahrener Feuerwehrmann.
Das Beispiel Schweiz zeigt, dass es möglich ist, Bahnhöfe barrierefrei anzulegen, egal ob Durchgangs- oder Kopfbahnhof. Seit Jahren werden Unterführungen zwischen den Bahnsteigen hier mit entsprechend langen und flachen Rampen ausgestattet. Das freut auch Familien und Radfahrer, denn über die Rampe ist man allemal schneller, als mit dem Aufzug auf den man meist lange warten muss und der oft zu klein ist für Fahrrad, Kinderanhänger oder ähnliches.
Weitere Infos zum Thema Barrierefreiheit
Der Filderbahnhof - in 26 Meter Tiefe
Der zum Projekt Stuttgart 21 gehörende Filderbahnhof am Flughafen soll in mehr als 26 Meter Tiefe gebaut werden. Auch hier ist für den Rettungsfall nur ein Fluchttreppenhaus vorgesehen. Sieben Stockwerke schnell hochzulaufen erfordert gute Kondition. Menschen, die das alleine nicht schaffen, haben hier keine Aussicht auf Rettung.
Die Sicherheitsprobleme dürften ein Grund sein, warum dieser Teil des Projekts auch nach 15 Jahren Planung immer noch nicht planfestgestellt ist. Das Eisenbahnbundesamt gibt zu dieser fehlenden Planfeststellung nur an, es lägen keine hinreichend ausgereiften Pläne vor, um ein Planfeststellungsverfahren einzuleiten.
Aufzüge - fast immer verfügbar
Auch ohne Feuer ist der Tunnelbahnhof voller Barrieren: Am 11. Januar 2011 sagte Sven Hantel von der Deutschen Bahn, die Aufzüge hätten eine Verfügbarkeit von 95%. Das heißt im Umkehrschluss, dass jeder Aufzug an 18 Tagen im Jahr ausfällt. Bei geplanten 18 Aufzügen ist also statistisch gesehen immer mindestens einer kaputt - und dann wird jedes Umsteigen zur Odyssee.
Weiter erklärte Sven Hantel bei der Informationsveranstaltung im Rathaus, die Bahn bemühe sich, defekte Aufzüge innerhalb von fünf Arbeitstagen zu reparieren. Ein schwacher Trost für Menschen, die im Tiefbahnhof auf Aufzüge angewiesen wären.
Der Kopfbahnhof ermöglicht seit bald hundert Jahren jederzeit komfortables und barrierefreies Umsteigen. Stuttgart 21 wäre ein echter Rückschritt.
Die Sicherheit im Tunnel
Insgesamt ist die Betriebssicherheit in langen Tunneln ein erhebliches Problem. Die Nutzung der S-Bahn-Tunnel auf den Fildern für den Regional- und Fernverkehr ist überhaupt nur mit einer Ausnahmegenehmigung von Bundesverkehrsminister Ramsauer möglich: dort beträgt der Abstand zwischen Tunnelwand und Zug nur 65 cm: Schon jetzt ein krimineller Zustand für einen Fluchtweg und vor allem für Behinderte im Zweifelsfall eine tödliche Falle.
Eine detailliertere Darstellung der Sicherheitsmängel findet sich in der Broschüre 'K21 - die Alternative zu Stuttgart 21', S. 36.
Die gespaltene Zunge der Bahn
In den Publikationen des Kommunikationsbüros wird vollmundig 'Barrierefreiheit' versprochen:
S21-Flyer Schlichtung
S21-Flyer Gute Argumente
Dialog21 Ausgabe Nr. 2
Die Aussage von Technikvorstand Volker Kefer steht im klaren Widerspruch zu dieser Propaganda.
Der Berliner Koalitionsvertrag
Laut Koalitionsvertrag strebt die Bundesregierung „Barrierefreiheit in allen Bereichen" an (Absatz 7.4, S. 83). Trotzdem stimmt diese Bundesregierung zu, wenn in Stuttgart ein guter, barrierefreier Bahnhof ersetzt werden soll durch einen Tunnelbahnhof der nachweislich ein großes Hindernis für alle Behinderten wäre.