Was zählt bei einem Bahnhof – Architekturästhetik oder Funktion?

Rede von Martin Poguntke, Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21, Theologinnen und Theologen gegen Stuttgart 21, auf der 754. Montagsdemo am 28.4.2025

Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter!

Am Osterwochenende war sie wieder, die große Show der „Tage der offenen Baustelle“. Wow! Was waren da wieder viele Leute da! Was sind da wieder für technische und ästhetische Superlative vorgestellt worden!

Und: Was wurde da wieder gelogen und verbogen und verheimlicht!

Aber die Leute sind nicht so blöd, wie mancher bei der Bahn vielleicht denkt. Klar gab es am Karsamstag, als ich dort Flyer verteilt habe, auch mal einen Vater, der meinte, wir würden mit unserem Protest gegen Stuttgart 21 seinen Kindern Schaden zufügen. Oder den alten Herrn, der sich an den Kopf tippte, wie dumm unser Protest doch sei. Oder den Mann mittleren Alters, der auf unserem Flyer las: „Verbrechen“ und meinte: „Ihr seid doch die Verbrecher!“

Aber das waren nach meiner Erfahrung eher Einzelfälle in diesen ganzen vier Stunden. Viel häufiger machte ich die gegenteilige Erfahrung, dass Leute sich ausdrücklich für „kritische“ Informationen interessierten. Immer wieder ging es mir so, dass ich beim Verteilen rief: „Infos zum Projekt!“ Und wenn die Leute manchmal zögerten, einen Flyer anzunehmen, und ich dann ergänzte: „kritische(!) Infos!“ – dass die Leute dann zugriffen und meinten: Ja, genau das wollen wir. Manche drehten, nachdem sie bereits vorbeigelaufen waren, nochmal um, als sie hörten, dass ich „kritische“ Infos hätte. Oder Leute gingen direkt auf mich zu: „Sie haben auf der Warnjacke stehen „Gäubahn erhalten!“ – da will ich auf jeden Fall einen Flyer von Ihnen.“

Nein, nein, das Publikum fällt nicht blind herein auf die Strategie der Bahn. Die beeindruckenden Besucher*innen-Zahlen sind keineswegs Zahlen der Begeisterung fürs Projekt. Sondern die Leute sind zu einem sehr großen Teil skeptisch bis ablehnend. Sie fragten mich teils amüsiert, was ich meinte, wann das Projekt denn wirklich fertig würde. Outeten sich, schon bei den ersten Demos gegen S21 dabei gewesen zu sein – und ihre Kinder am „Schwarzen Donnerstag“. All das sind Besucher*innen der „Tage der Offenen Baustelle“.

Und wer wollte es ihnen verübeln, dass sie sich durchaus auch für die gigantischen technischen Leistungen interessierten. Man könnte zwar heulen, wenn man sich klar macht, wofür das Ganze. Aber es ist ja doch beeindruckend, auf welchem hohen technischen Niveau da auch immer wieder Probleme gelöst und Ziele umgesetzt wurden.

Und: Warum sollte ein Bahnhof nicht schön sein dürfen? Natürlich ist es eine Freude, wenn ein Bahnhof schön ist. Man benutzt ihn dann ja noch lieber. Aber den Leuten, die mich fragend ansahen, warum ich S21 gegenüber kritisch eingestellt sei, sagte ich dann regelmäßig: „Es reicht eben nicht, wenn ein Bahnhof schön ist. Er muss vor allem sehr gut funktionieren. Und das tut er halt nicht.“

Aber was hat die Bahn auch in letzter Zeit unternommen an Werbeaktivitäten! Ganz besonders mit vielen, vielen hochprofessionellen Filmchen auf Social Media. Aber auch ganz analog. Da hat sich das Stuttgarter Ballett dafür hergegeben, für den Bahnhof – und sich selbst – zu werben, mit Kraft-durch-Freude-Fotos zwischen den Kelchstützen. Da hat sich der ahnungslose Schauspieler Axel Milberg am Rande von Dreharbeiten zu einem neuen Krimi zu einem schwärmerischen Interview über die Ästhetik der Baustelle hinreißen lassen. Und weil man ihn vor allem als Tatort-Kommissar Borowsky kennt, haben die Medien bereitwillig den Eindruck erweckt, hier sei auch ein Tatort gedreht worden. War aber gar nicht so. War eben irgendein Krimi, in dem Axel Milberg einen S21-Ingenieur darstellte.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Aber – psst! Nicht weitersagen! – manchmal bewundere ich auch ganz heimlich diese hoch professionelle Werbestrategie, die die Bahn da mit Millionen-Aufwand fährt. Das ist ja schon allein ästhetisch und von der Bildgewalt her wirklich klasse.

Und die Bahn macht da ja auch im Grunde gar nichts anderes, als überall in der Werbewirtschaft gemacht wird: Sie bewirbt gar nicht die eigentlichen Eigenschaften ihres Produkts, sondern sie verkauft Träume, ein Lebensgefühl. So wie es z.B. auch Zigarettenwerbung macht: Zigarettenwerbung schwärmt ja nicht vom Tabak, sondern bringt ihre Zigaretten mit einem Lebensgefühl von Freiheit und Abenteuer oder Luxus und Schönheit in Verbindung.

Aber wenn es auch gar nichts Besonderes ist, was die Bahn da tut, mit ihrer Bahnhofswerbung ohne Bahnhof, so ist es dennoch noch lange nicht in Ordnung. Genauso wenig, wie es in Ordnung ist, dass Zigarettenwerbung dreist von den Nikotingefahren ablenkt. Und das ist es auch, was wir der Bahn vorwerfen: Ihr dürft ja gerne werben. Aber ihr dürft nicht verschleiern und ablenken. Und das genau tut ihr.

Ihr lullt die Leute ein mit wunderschönen Kelchstützen und beeindruckenden Ingenieursleistungen, und lenkt dabei absichtlich von der Frage ab, was der Bahnhof können müsste. Und ihr verschleiert, welche Risiken ihr mit diesem Projekt eingeht und welche Gefahren ihr damit erzeugt.

Kein Wort darüber, dass die Landesregierung ein Nahverkehrs-Dreieck plant, mit dem die Regionalzüge vom Tiefbahnhof ferngehalten werden sollen – weil ihr einen viel zu kleinen Hauptbahnhof baut, der den Namen nicht verdient. Kein Wort darüber, dass ihr mutwillig lebensgefährliche Paniksituationen heraufbeschwört – weil ihr mit Bahnsteig-Doppelbelegungen und riesigen Doppelstockwagen viel zu viele Menschen auf die viel zu knappen Bahnsteige lockt. Kein Wort darüber, dass ihr für euer sogenanntes Brandschutzkonzept lediglich eine Baugenehmigung bekommen habt – dass ihr aber für eine noch ausstehende Betriebsgenehmigung mit so großen Beschränkungen rechnen müsst, dass sich Zugverkehr im Tiefbahnhof und in den Tunnels gar nicht mehr lohnt.

Das ist es, was wir euch vorwerfen: Dass ihr mit eurer Waschmittel-Werbung vom Eigentlichen ablenkt und die katastrophalen Hintergründe verschleiert. Ihr seid doch keine Schraubenfabrik, die halt möglichst viele Schrauben verkaufen können will. Sondern ihr seid ein Unternehmen im Besitz des Volkes, das einen grundgesetzlich verbrieften Beförderungsauftrag zu erfüllen hat.

Aber was bleibt der Bahn auch anderes übrig? In der Anfangszeit hatte sie immer noch mit vielen, schnellen Zügen und genialer Bahnhofsqualität geworben. Aber das glaubt ihr inzwischen ja niemand mehr, nicht einmal die schärfsten Befürworter des Projekts. Was bleibt da der Bahn denn übrig, als vom Eigentlichen abzulenken und stattdessen Schönheit und Technik zu bejubeln?

Die Bahn kann nicht anders, aber die Medien könnten es. Sie könnten Punkt für Punkt die empörende Wahrheit recherchieren und solange veröffentlichen, bis keiner mehr wagt, diesen Skandal weiterzubauen. Aber sie tun es nicht, die Medien. Sie lassen sich auf die durchsichtige Werbestrategie der Bahn ein und kolportieren sie in ihren Jubel-Stories.

Obwohl sich auch da einiges getan hat: Mehr und mehr trauen sich selbst konservative Medien ans Licht mit brisanten Details. Allerdings zumeist erst, wenn es zu spät ist. Jetzt, wo die Neubaustrecke in Betrieb ist, jetzt wird über den Betrug mit den Leichtgüterzügen berichtet. Jetzt, wo die Tunnels gebaut sind, jetzt keimt das Interesse an den Quellungsgefahren durch Anhydrit. Jetzt, wo der Rohbau des Tiefbahnhofs fast fertig ist, jetzt trauen sich einige zu fragen, ob es denn mit der Leistung des Bahnhofs wirklich klappen wird.

Ich fürchte, das liegt einfach daran, dass Bahn-Bashing inzwischen zum Volkssport geworden ist. Die Bahn ist ja als Ganze inzwischen in einem so beklagenswerten Zustand, dass wirklich niemand mehr sie verteidigen kann. Selbst die CDU fordert ja jetzt mehr Bahnsachverstand in Vorstand und Aufsichtsrat der Bahn – wohl, weil es sich beim Publikum gut macht, wenn jetzt auch die CDU so tut, als ob sie was ändern wolle.

Dabei gerät aus dem Blick und wird von der Politik sehr bewusst verschleiert, dass es nicht nur die Bahn ist, die von unfähigen Controllern bahntechnisch an die Wand gefahren wurde. Denn es ist ja die Politik, die diese Controller in diese Positionen gebracht und dort gehalten hat. Denn es ist ja die Politik, die der Bahn ein Riesenprojekt nach dem andern aufs Auge gedrückt hat. Denn es ist ja die Politik, die die Bahn fast seit Jahrzehnten ausplündert, sie missbraucht zur Generierung von Bauprojekten, für die massenhaft öffentliche Gelder in die Bauwirtschaft geleitet werden. Oder jetzt – mittels des Digitalen Knotens Stuttgart – auch in die Digitalwirtschaft. Es ist die Politik, die jetzt der Bahn hinterherruft: Haltet den Dieb! Nachdem sie selbst die Bahn sehenden Auges in diese Lage manövriert hat. Und ja am liebsten sehen würde, wenn die Bahn ganz zugrunde gehen würde. Dann wäre endlich Ruhe – für die Autoindustrie.

Ich weiß es nicht, aber ich könnte mir denken, dass das der eigentliche Grund für das merkwürdig zögerliche Verhalten der Medien ist: Man will sich’s nicht mit der Politik verderben. Aber vielleicht ist es ja auch die Naivität der Medienschaffenden. Vielleicht können sie sich einfach nicht vorstellen, dass es wirklich so ist. Dass wirklich der Stuttgarter Kopfbahnhof gar nicht ersetzt werden sollte durch den Tiefbahnhof, weil das irgendwelche Verkehrsvorteile hätte. Sondern dass es wirklich nur das Geschenk der Bahn an die Stadt Stuttgart war, dass sie den Weg freimachen wollte für einen neuen Stadtteil mitten im Zentrum. Dass Stuttgart 21 wirklich nie als Verkehrsprojekt gedacht war, sondern als Investitionsprogramm für die baden-württembergische Bauwirtschaft.

Aber jetzt ist es so. Der damalige Bahnchef Dürr hat nun mal die Bahn in diese Lage gebracht. Und die CDU hat bundesweit dafür gesorgt, dass es zur politischen Correctness gehört, dass das niemand offen sagt oder gar kritisiert. Und die anderen Parteien haben sich aus Opportunismus mit ins Verschwiegenheits-Boot begeben, in dem sie nun alle gemeinsam sitzen – und weiterhin die Bahn zur Selbstzerstörung drängen.

Was soll sie denn aber tun, die Bahn, in dieser Situation? Ihr bleibt ja offenbar gar nichts anderes übrig, als Waschmittel-Werbung für ein Projekt zu machen, an das niemand mehr glaubt. Im Grunde ist es das Eingeständnis des Scheiterns, dass die Bahn nur noch mit Ästhetik und Technik werben kann. Weil sie selbst und alle Beteiligten wissen, dass es bahntechnisch nicht nur nichts zu bewerben gibt. Sondern im Gegenteil: dass man bahntechnisch gezwungen wäre, das Projekt lieber spät als nie zu stoppen.

Und ich muss sagen, liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter: Das ist nicht von alleine so geworden. Sondern ich bin der Überzeugung, dass das ganz wesentlich unser großer Erfolg ist. Nicht zuletzt die unerschütterliche Aufklärungsarbeit unserer Bewegung hat dazu geführt, dass man einfach keine fachlichen Argumente mehr hat, die nicht längst widerlegt sind. Unser öffentlicher Druck hat dazu geführt, dass die Marke „Stuttgart 21“ so sehr verbrannt ist, dass man auch z.B. bei der Benennung des neuen Lügenturms tunlichst die Erwähnung von „Stuttgart 21“ vermieden hat. „Info-Turm-Stuttgart“ heißt er verschämt. Unser inzwischen jahrzehntelanger Druck hat das Projekt so kompetent entzaubert, dass die Bahn nur noch mit Werbezauber halbwegs positive Stimmung dafür erzeugen kann.

Und wir machen weiter. Wir treiben es immer weiter so, dieses öffentliche Demaskieren des Projekts. Montag für Montag, Woche für Woche. Mit Demos, Arbeitsgruppen, Veranstaltungen, Pressearbeit. Tropfen für Tropfen, Stein für Stein, bis irgendwann, irgendwo, irgendwas die Sache zum Kippen bringt. Letzten Endes ist es das Projekt selbst, das sich zum Kippen bringen wird. Aber wir sind die Problemverstärker, die für die nötige Öffentlichkeit und den nötigen Druck sorgen.

Die Bahn versucht, mit Werbesprüchen über die Runden zu kommen. Aber wir sagen – warum nicht auch mit einem Werbespruch: „Nichts ist unmöglich! Oben bleiben!“

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