Rede von Prof. Dr. Markus Wissen, Politikwissenschaftler und Autor, auf der 750. Montagsdemo am 24.3.2025
Liebe Demonstrierende, liebe Passant*innen,
zuallererst möchte ich Ihnen herzlich zur 750. Montagsdemo gratulieren. Ich empfinde großen Dank und Respekt für den langen Atem, mit dem Sie seit Jahren gegen Stuttgart 21 kämpfen. Das ist ein starkes und ermutigendes Zeichen weit über Stuttgart hinaus – ein Zeichen der Widerstands- und Handlungsfähigkeit von sozial-ökologischen Bewegungen, die sich auch von einer scheinbaren Übermacht mächtiger Interessen nicht entmutigen lassen.
Ihr Protest ist besonders wichtig in einer Zeit, in denen Krisen, menschliches Leid und die Rücksichtslosigkeit der Mächtigen uns fassungslos zu machen drohen:
Die globalen Treibhausgasemissionen steigen weiter an. Das Ziel, die Erwärmung der globalen Durchschnittstemperatur gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen, ist kaum mehr erreichbar.
Statt in Klimaschutz wird in Rüstung und fossile Energien investiert: Erst jüngst kündigte BP – ein Unternehmen, das sich noch vor einigen Jahren durch die Umbenennung in „Beyond Petroleum“ grün zu waschen versuchte – an, seine Investitionen in erneuerbare Energien um 4 Mrd. Dollar zu reduzieren, um die in Öl und Gas um 10 Mrd. Dollar zu erhöhen.
Ähnlich sinnbildlich und bitter ist, dass das Görlitzer Werk des Schienenfahrzeugherstellers Alstom von der Waffenschmiede KNDS übernommen wurde. Statt Eisenbahn-Waggons werden dort künftig Bauteile für Kampfpanzer hergestellt – natürlich im Interesse unserer aller Sicherheit.
Es ist dieselbe Sicherheit, wie sie auch die Straßenpanzer versprechen, die die deutsche Autoindustrie unter der Bezeichnung „SUV“ seit Jahren in wachsender Zahl und mit zunehmendem Gewicht auf den Markt wirft: eine exklusive Sicherheit, die die einen schützt, indem sie die anderen gefährdet.
Wer sich gegen diese Form der Sicherheit wehrt, der bekommt es mit den staatlichen Sicherheitsapparaten zu tun. Das haben Sie hier in Stuttgart ja zu Genüge erlebt. Und das erleben seit einiger Zeit verstärkt auch diejenigen, die sich auf den Straßen für Klimaschutz und Klimagerechtigkeit einsetzen. Sie werden kriminalisiert, eingesperrt oder mit Berufsverboten belegt – und zwar von genau jenen Politikern, die aufgrund ihrer klimapolitischen Untätigkeit das Leben künftiger Generationen und vieler Menschen im globalen Süden gefährden.
Leider handelt es sich bei dieser Spezies von legal Kriminellen nicht mehr nur um verirrte Verkehrsminister aus den Reihen der CSU oder um liberale Verfechter eines egoistischen Freiheitsverständnisses. Auch die Vorsitzenden von Rüstungs-, Auto- oder Energiekonzernen tragen nicht die alleinige Verantwortung. Verantwortlich sind zunehmend auch ehemals sozial-ökologisch motivierte Grüne, die auf ihrem Marsch durch die Institutionen zu tragenden Säulen eines oliv-grünen Kapitalismus erstarrt sind.
Die vielen Krisen, die uns umtreiben, lassen sich sicherlich nicht auf einen einzigen Nenner bringen. Aber sie haben dennoch einen gemeinsamen Treiber: ein Wirtschaftssystem, das auf einem enormen Energie- und Materialverbrauch beruht, das aber die Energie und das Material nicht im Sinne eines guten Lebens der Vielen verbraucht, sondern im Interesse des Reichtums weniger.
Das bedeutet auch, dass der Naturverbrauch dieses Wirtschaftssystems grenzenlos ist. Der Kapitalismus kennt kein Genug. Seine treibende Kraft ist nicht die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, sondern die Maximierung von Profit. Die Liste der unsinnigen und schädlichen Dinge, die zu diesem Zweck erfunden werden, ist endlos. Und ebenso endlos ist die menschliche Kreativität, die für die Erfindung, die Entwicklung und das Marketing überflüssiger Dinge verschwendet wird.
Aber genau indem der Kapitalismus dem Imperativ der Profitmaximierung folgt, untergräbt er seine eigenen Existenzbedingungen. Das hat schon Karl Marx, der selbst ein großer ökologischer Denker war, mit großer Voraussicht analysiert: „Die kapitalistische Produktion entwickelt […] nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“
Dass der Kapitalismus trotz dieses Widerspruchs mehrere Jahrhunderte überdauern konnte, liegt auch daran, dass die fortgeschrittenen Gesellschaften des globalen Nordens – in ihrer Selbstbezeichnung: die westlichen Wertegemeinschaften – die Möglichkeit hatten, Anleihen beim globalen Süden und bei zukünftigen Generationen zu machen, indem sie andernorts Ressourcen plünderten, indem sie kolonialisierte und rassifizierte Menschen millionenfach versklavten, ausbeuteten, misshandelten und töteten, indem sie ihren Müll an die so genannten Entwicklungsländer schickten, indem sie ihre CO2-Emissionen in der Atmosphäre deponierten, nachdem sie die großen CO2-Speicher auf der Südhalbkugel, die Regenwälder, Ozeane und Savannen, überstrapaziert hatten, kurz: indem sie ihre sozialen und ökologischen Kosten im Raum und in der Zeit verlagerten, um die kapitalistische Konkurrenz- und Wachstumsmaschine ins Laufen zu bringen und am Laufen zu halten.
Eben das funktioniert heute nicht mehr. Die Bedrohungen, so schrieb der Soziologe Wolfgang Sachs schon 1997, kehren mehr als 500 Jahre nach der Ausfahrt des Kolumbus nach Hause zurück. Die Klimakrise ist dafür nur der sichtbarste Ausdruck.
Wenn nun der Kapitalismus sich immer autoritärer gebärdet, wenn die liberale Demokratie sich gegen jene elementaren Rechte wendet, die sie eigentlich zu schützen verspricht, wenn Sicherheit im Gewand von Repression und Militarismus daherkommt, dann ist das nichts anderes als der verzweifelte Versuch, die selbst verursachten Bedrohungen irgendwie noch in den Griff zu bekommen. Es geht darum, eine obsolet gewordene, imperiale Produktions- und Lebensweise exklusiv und gewaltförmig zu stabilisieren.
Seinen gefährlichsten und widerwärtigsten Ausdruck findet die autoritäre Stabilisierung der imperialen Lebensweise im Aufstieg der extremen Rechten. Dass diese derzeit so erfolgreich sind, liegt daran, dass sie eine Zukunft als Rückkehr in die Vergangenheit imaginieren – eine Vergangenheit der Verbrennungsmotoren, der fossilen Energien, der traditionellen Geschlechterrollen und Geschlechtsidentitäten, der weißen Dominanz. Als Verteidigung der „Petromaskulinität“ hat die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Cara Daggett diese Politik bezeichnet. Sie ist der Markenkern der Rechten.
Wie die klimapolitischen Rückschritte der Ampel-Koalition und die unsägliche Migrations-Debatte zeigen, haben die Rechten mit ihrem autoritären, menschenverachtenden und anti-ökologischen Gedankengut allerdings längst auch die politische Mitte infiziert. Wenn die herrschende Ordnung bedroht ist, so könnte man sagen, dann wirft die politische Mitte ihren liberal-demokratischen Ballast ab und mobilisiert alle Kräfte zur Verteidigung mächtiger Privilegien.
Die politische Form des oliv-grünen Kapitalismus ist der Autoritarismus. Das wollen wir nicht, und dem müssen wir uns mit ganzer Kraft widersetzen!
Das Paradoxe an den gegenwärtigen Entwicklungen ist, dass die autoritäre Politik die vielen Krisen nicht nur verschärft, sondern dabei auch zeigt, dass alles ganz anders sein könnte. Geld ist allem Anschein nach genug da, und auch an den gesellschaftlichen Fähigkeiten für eine Wirtschaft, die den Menschen dient, mangelt es nicht: Wenn wir für Rüstung die Schuldenbremse aufweichen können, warum dann nicht auch für Klimaschutz und Klimaanpassung?
Wenn wir das Militär mit Geld überschütten können, warum sollten dann im Gesundheitsbereich, in der Bildung, der Pflege, der Kultur oder dem ÖPNV – also in all jenen Bereichen, auf die wir alle angewiesen sind und die das Leben zu einem guten Leben machen – schlechte Arbeitsbedingungen und Sparzwänge herrschen?
Und wenn bei einem Schienenfahrzeughersteller Panzer gebaut werden, warum sollen dann nicht in den Autofabriken Elektrobusse und Straßenbahnen entstehen?
Das ist die unfreiwillige Ironie der herrschenden Politik: Sie entlarvt die von ihr selbst immer wieder bemühten Sach- und Sparzwänge als das, was sie sind: als in Zwang verkleidete mächtige Partikularinteressen.
Diese Interessen sind fest in den großen Unternehmen, den staatlichen Institutionen und den gesellschaftlichen Leitbildern verankert. Aber sie sind deshalb nicht unangreifbar. Aus der Geschichte wissen wir, dass eine scheinbare Übermacht in sich zusammenbrechen kann – aufgrund ihrer eigenen Widersprüche und weil Menschen einfach nicht mehr mitmachen. Es ist nicht gewiss, dass dies mit Stuttgart 21 und insgesamt mit der fatalen gesellschaftlichen und internationalen Konstellation auch so geschieht. Aber es ist eben auch nicht ausgeschlossen. Vor allem ist es dringend nötig. Und es wird umso wahrscheinlicher, je mehr Menschen sich dafür einsetzen – Menschen wie Sie, die seit Jahren gegen Stuttgart 21 kämpfen und dabei für andere beispielgebend sind.
Lassen Sie uns in diesem Sinne weitermachen und unsere Anstrengungen verstärken – gegen Großprojekte und gegen einen oliv-grünen Kapitalismus, für lebenswerte Städte und für ein gutes Leben für alle!