Rede von Volker Lösch, Theaterregisseur, auf der 750. Montagsdemo am 24.3.2025
Liebe Mitstreiter*innen!
Die weltweite politische Lage ist zum Verzweifeln. Was für ein Unterschied zu den Jahren, in denen der Protest gegen Stuttgart 21 begonnen hat! Ich erinnere ihn als manchmal auch leicht, als heiter sogar, getragen von der Zuversicht, dass wir es schaffen werden, diesen Irrsinn bald zu beenden. Der Schwabenstreich, die Sprechchöre, die Musik, die Besetzungen, die Baumhäuser, die langen Demo-Märsche, die vielen Beiträge – es war auch alles ein großer Spaß, ein solidarisches Miteinander, welches in Stuttgart und Umgebung eine nie dagewesene Kraft entfaltet hat.
Und heute, mehr als 14 Jahre nach den Massenprotesten, fühlt sich die Welt als einzige Bedrohung an. Alles, was damals schon falsch war, ist immer noch da, nur monströser, auswegloser, schamloser in Ausprägung und Destruktivität. Es herrscht Angst vor sozialem Abstieg, Angst vor Altersarmut, vor Jobverlust, vor Kriegen, Angst vor der Klimakatastrophe und vor der Zukunft. Und diese lähmenden Ängste werden von autoritären Bewegungen und faschistischen Regierungen als Waffe instrumentalisiert. Gegen diejenigen, die in ihre nationalistische, chauvinistische, rassistische, antifeministische, homophobe, transfeindliche, ausgrenzende, kurz: menschenfeindliche Welt nicht hinein passen. Ein Klima der allgegenwärtigen Angst lähmt unsere Möglichkeiten, empathisch, menschlich, solidarisch zu sein, es zerstört die Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft. Angst macht passiv, sie deprimiert, und sie gefährdet die Demokratie. Was können wir dagegen tun, wie kommen wir aus der Defensive heraus? Hier sind 10 Punkte – für einen Aufstand gegen die Angst!
Erstens. Selbstkritisch sein. Liebe Demonstrierende, wir müssen mehr tun. Es reicht es nicht mehr aus, einmal im Jahr auf eine Großdemo zu gehen, ein paar kritische Bücher zu lesen und über Trump, Weidel, Meloni, Orbán und andere Faschist*innen zu schimpfen. Die Demokratie ist kein Naturzustand. Sei muss aktiv verteidigt werden. Wir sollten die Dringlichkeit des Widerstands akzeptieren und uns für mehr politisches Engagement entscheiden, mehr persönliche Zeit investieren. Erinnert Euch an die Zeit um 2010 herum, als halb Stuttgart verstanden hat, dass es ums Machen, ums Handeln, und nicht nur ums Reden geht. Damals hätten wir Stuttgart 21 fast gestoppt. Und diese Protest-Energie, diesen politischen Aktivismus gilt es wieder zu aktivieren. Verteidigen wir die Demokratie mit größerem politischen Engagement!
Zweitens. Auf die wichtigen Themen fokussieren. Wo setzt man inhaltlich an, wenn man Veränderung will? Das Überleben unserer demokratischen Gesellschaft wird sich in drei großen, umkämpften Themenfeldern entscheiden: beim Klima, den Menschenrechten und bei der sozialen, der Klassen-Frage. Wenn wir es nicht schaffen, unsere Emissionen drastisch und schnell zu reduzieren, zerstören wir unsere Lebensgrundlagen, nur wenige werden überleben. Wenn wir in Frage stellen, dass alle Menschen weltweit die gleichen Rechte haben, wird sich der Faschismus etablieren. Wenn wir den Überreichtum und die Armut nicht bekämpfen, die Verteilungsfrage ignorieren, dann leben wir sehr bald in einer Oligarchie. Es deutet sich jetzt schon an, dass die kommende „Große Koalition“ diese Gefahren nicht sieht und keinen Handlungsbedarf erkennt. Und deshalb müssen wir das tun, die Zivilgesellschaft. Wir müssen öffentlich und vehement, wo auch immer es möglich ist, Umverteilung und Gleichheit einfordern, um den Rechtsradikalen die Grundlage für Hass und Hetze zu nehmen: das Gegeneinander-Ausspielen von sozialen Gruppen. Konzentrieren wir uns auf den Widerstand gegen die Ungleichheit: eine gerechte Gesellschaft ist die Kraftzentrale der Demokratie!
Drittens. Den Gegner nicht unterschätzen. Die AfD ist eine rechtsextreme, in großen Teilen faschistische Partei, die sich immer weiter radikalisiert. Die größte Anstrengung ihrer Protagonist*innen besteht darin, ihre demokratiefeindlichen Pläne zu verschleiern: Rechtsstaatlichkeit und Pluralismus schwächen, die Verfassung verändern und das Parlament zerstören, um mit autoritärer Führung die Macht zu übernehmen. Wie das funktionieren kann, sieht man in Italien, in Ungarn, in den Niederlanden, in den USA: in einem zunehmend menschenfeindlichen Gesellschaftsklima geraten Minderheiten unter Druck, die Gewalt gegen Andersdenkende, Migrant*innen und Geflüchtete nimmt rapide zu, der gesellschaftliche Zusammenhalt erodiert. Wenn 2029 die AfD an die Macht kommen sollte, dann wird sie unsere Gesellschaft radikal umbauen. Sie würde all die menschenverachtenden und demokratiezerstörenden Programme umsetzen, die sie jetzt propagiert. Verstehen wir also, dass entscheidende 4 Jahre vor uns liegen! Wir sind in akuter Gefahr, dass müssen wir ernst nehmen. Bekämpfen wir die AfD mit allen Mitteln, verteidigen wir die Demokratie jetzt, bevor es zu spät ist!
Viertens. Demokratische Parteien unterstützen. Liebe Leute, dieser Punkt geht an die Jüngeren von Euch: werdet Politiker*innen! Unterstützt die Parteien, die für Klimaschutz, für Gleichheit und für Gerechtigkeit eintreten. Denn nur die Politik kann Gesetze beschließen, nur sie kann Strukturen verändern, nur die Politik kann mit Mehrheiten im Parlament die Demokratiefeinde bekämpfen. Ihr könnt das ehrenamtlich, auf kommunaler Ebene oder professionell auf Bundesebene machen. Es ist eine Illusion zu glauben, dass die überalterten Parteien CDU, CSU, FDP oder BSW aus demokratischer Überzeugung heraus keine Mehrheiten mit der AfD suchen werden. Die CDU hat bereits bewiesen, dass sie aus Machtgründen die Demokratie verraten würde. Die schlechteste Art, auf den Rechtsruck zu reagieren, habt Ihr im Wahlkampf erlebt: alle Parteien bis auf eine haben mehr Abschiebungen und die Abschaffung des Asylrechts gefordert, und damit den Faschisten recht gegeben. Vertraut dieser politischen Generation nicht, die einen demokratischen Diskurs mit Antidemokrat*innen sucht und deren Positionen übernimmt. Nehmt die Zukunft selbst in die Hand, geht in die Politik!
Fünftens. Richtig wählen. Und das ist für alle anderen: wählt endlich richtig! Hört auf daran zu glauben, dass die Mitte-Rechts-Parteien die Faschisten von der Macht fernhalten werden. Das Gegenteil ist der Fall: der kommende Bundeskanzler hat mit seiner Partei die sogenannte Brandmauer mit den Stimmen der AfD bereits abgerissen. Der Ruck nach Rechts ist ein riesiges Ablenkungsmanöver derjenigen Parteien, die keine Antworten auf die großen sozialen Fragen haben. Es ist offensichtlich: die Feinde der Demokratie sitzen nicht nur rechtsaußen, sondern auch rechts – und manche sogar in der Mitte. Und deshalb wähle ich die LINKE: es ist die einzige Partei, die wirkliche Unterschiede zu den Rechten aufmacht. Sie engagiert sich für die Schwachen, kämpft für Umverteilung, ist in Klimafragen kompetenter als die Grünen und kompromisslos im Kampf für Menschenrechte und gegen Ausgrenzung. Und natürlich ist sie nicht perfekt, es gibt keine Partei, die zu hundert Prozent vertritt, was man denkt. Liebe Leute, tretet in die LINKE ein. Unterstützt diese Partei, denn Politik von Links ist für die Demokratie existentiell!
Sechstens. Sich dauerhaft gegen Rechts engagieren. Die deutschlandweiten, großen Demos gegen CDU und AfD haben Hoffnung gemacht. Es war ein wenig so wie bei den Massenauftritten gegen Stuttgart 21: es tat gut zu spüren, dass man nicht allein ist. Aber damals in Stuttgart galt, was als auch heute gilt: wir müssen die Ausdauer haben, immer wieder und sehr zahlreich demonstrieren zu gehen, es braucht eine langfristige Mobilisierung! Und zu unserer physischen Präsenz müssen wir auch zunehmend unsere Körper einsetzen, zum Beispiel bei Blockaden gegen rechte Aufmärsche. In Berlin und Stuttgart haben am letzten Wochenende Tausende von Menschen Märsche von Rechtsextremen verhindert. Das funktioniert also! Dauerhaften Gegenwind erzeugen, die Straße nicht den Rechten überlassen, gemeinsam auf die Barrikaden gehen und immer zahlreicher werden: so machen wir sichtbar, dass Rechtsradikale nicht die Mehrheit sind, und wir zermürben sie. Antifaschismus ist zeitaufwändig und macht auch nicht immer Spaß, manchmal ist er auch gefährlich. Aber er ist alternativlos. Zeigen wir den Faschisten immer wieder, dass wir mehr sind, und dass wir sie in der Öffentlichkeit nicht haben wollen – die Städte und die Straßen gehören uns!
Siebtens. Aktiv widersprechen. Das Private ist politisch. Sich im eigenen Umfeld zu engagieren ist ebenso wichtig wie der öffentliche Protest. In der Schule, bei der Familienfeier, im Freundeskreis, bei der freiwilligen Feuerwehr oder beim Schützenverein: widersprecht! Lasst nicht mehr zu, dass Menschenhass und Fake News unwidersprochen im Raum stehen bleiben. Flutet mit Leserbriefen die Redaktionen von Zeitungen, die rechtes Gedankengut relativieren. Verfasst Online-Kommentare gegen Menschenhass. Postet in sozialen Netzwerken Beiträge gegen Rechts. Besteht darauf, dass schlechte Sozialpolitik mit unmenschlicher Asylpolitik nicht besser wird. Dass Abschiebungen keinen bezahlbaren Wohnraum schaffen, Grenzschließungen keine Chancengleichheit ermöglichen, Ausländerhass keine Ungleichheit reduziert! Es braucht Mut und Ausdauer, das zu tun, ich weiß. Aber auch hier denke ich an die Zeit, als diese Stadt in zwei Lager gespalten war. Der Riss ging durch Familien, Freundschaften sind an der Frage „für oder gegen S21“ zerbrochen. Aber es war eine lebendige Zeit. Weil diskutiert, gestritten und argumentiert wurde. Unterstützen und argumentieren wir ein Verbotsverfahren gegen die AfD! Die AfD ist verfassungsfeindlich, ein Verbot ist überfällig! Geben wir die Zurückhaltung gegenüber Rechten auf, werden wir intolerant gegenüber den Intoleranten. Widerspruch ist Widerstand!
Achtens. Mut zur Wahrheit haben. Es steht ein großer Elefant im Raum – das System, in dem wir uns eingerichtet haben. Es heißt Kapitalismus, immer noch, und taugt inzwischen nur noch für ganz wenige. Für die überwiegende Mehrheit ist es eine Katastrophe, da dem Kapitalismus alles egal ist, außer Wachstum und Profit. Und das zerstört alles, die Umwelt, die sozialen Beziehungen, die Demokratie. Mut zur Wahrheit heißt, das endlich anzunehmen, nicht mehr drum herum zu reden. Und persönliche Konsequenzen daraus zu ziehen. Warum fahren wir immer noch SUVs? Warum kaufen wir noch bei Amazon ein? Warum fliegen wir noch viel zu oft in Urlaub? Mut zur Wahrheit heißt, keine faulen Kompromisse mehr einzugehen. Die Wahrheit auszusprechen. Es gibt keinen grünen Kapitalismus. Es gibt keine Klimarettung ohne persönlichen Verzicht. Es gibt keinen gerechten, keinen menschlichen Kapitalismus. Demokratie im Kapitalismus ist ein Auslaufmodell. Akzeptieren wir das, und suchen wir nach anderen Lösungen. Mut zur Wahrheit heißt systemische und strukturelle Veränderung!
Neuntens. Zivile Organisationen stärken. Vom Rechtsruck am stärksten betroffen sind Menschen, die direkt von rechter Politik, Hetze und Gewalt bedroht sind und angefeindet werden. Queere und Trans-Menschen, Geflüchtete, Migrant*innen und viele andere, die als „anders“ gelten. Mit ihnen solidarisch sein heißt, sich für die Organisationen zu engagieren, die für eine demokratische Gesellschaft kämpfen. Die gibt es in jeder Stadt, und sie brauchen ehrenamtliche Unterstützung. Support heißt aber auch Geld. Hier auf dem Schlossplatz stehen vielleicht Menschen, die viel Geld haben! Wie wäre es mit einer Großspende für die „Deutsche Umwelthilfe“, oder „Campact“? Oder für die „Amadeu-Antonio-Stiftung“, oder „Pro Asyl“, oder für die Demos gegen Stuttgart 21, oder für das Stuttgarter Medium „Kontext“, um unabhängigen Journalismus zu fördern? Kritische, demokratische Initiativen brauchen Geld, um unabhängig arbeiten zu können. Ohne sie stirbt die Demokratie. Es ist jetzt genau die richtige Zeit, um überflüssiges Geld sinnvoll loszuwerden. Denn es geht um unsere Zukunft. Alle zusammen gegen den Faschismus – nie wieder ist jetzt!
Zehntens. Weiter gegen Stuttgart 21 demonstrieren. Die größte Herausforderung derzeit ist, sich nicht in Resignation, Ohnmacht und Angst zu verlieren. Euer Widerstand gegen S21 zeigt, wie das geht: mit Beharrlichkeit, mit Intelligenz, mit Expertise, mit Kompetenz, mit Vielfalt, und mit dem Glauben daran, gewinnen zu können. Und genauso kann man auch gegen Rechts vorgehen, es erfordert ebenfalls große Ausdauer. Der Widerstand gegen S21 ist Modell und Vorbild für den Kampf gegen den Rechtsruck: geführt mit konsequenter Mobilisierung, Organisierung und Ausdauer in einer Umgebung, die immer militanter und schamloser ihre Lügen kultiviert. Insofern gibt es für Euch auch eine Verpflichtung, weiterzumachen: denn wer kann Protest besser als Ihr? Dieser Widerstand ist ein Mutmacher für alle, die Kraft und den Glauben an Veränderung verloren haben. „Oben-Bleiben“ heißt „Weiter-Machen“!
Liebe Mitstreiter*innen, wir stehen hier auf der 750sten Montagsdemo. Ein Wahnsinn. Dieses dumme, korrupte, verlogene und zerstörerische Projekt wird vielleicht irgendwann zu Ende gebaut werden, aber es wird nicht funktionieren, und somit wird es scheitern. Das steht jetzt schon fest. Und es wird ein Datum geben für dieses Scheitern. An diesem Tag wird dann jedes Jahr der über 15 Jahre währende, konstante Protest als historisches Beispiel für erfolgreichen Widerstand gefeiert werden. Denn der Kampf um die Demokratie ist auch immer ein Kampf um öffentliche Räume. Und diesen Kampf habt Ihr jetzt schon gewonnen, Ihr habt euch nicht verdrängen lassen. Durch Euch gibt es Stuttgart 21 im öffentlichen Bewusstsein nicht ohne den Protest dagegen. Seht auf diese Stadt – so geht Protest, so geht Demokratie! Wir haben nichts zu verlieren, außer unsere Angst, und „Oben bleiben“ heißt: keine Angst mehr haben. Dieser Protest ist ein Aufstand gegen die Angst!
Herzlichen Glückwunsch, Obenbleiber!
Und noch etwas, liebe Freund*innen, wir haben neben aller Entschlossenheit, die es jetzt braucht, auch eine immer größere Verantwortung. Denn wir sind, nach 750 Montagsdemos, zu Recht berühmt. Und Ihr alle seid so etwas wie Helden des außerparlamentarischen Widerstands gegen S21, weil Ihr zeigt, dass sich Protestieren lohnt. Man nimmt Euch wahr, man schaut auf Euch. Meine Mitstreiterin, die Millionenerbin Marlene Engelhorn, die ihr geerbtes Geld an die Gesellschaft rückverteilt hat, sagt in dem Theaterstück „Geld ist Klasse“ – im Juni wieder in Stuttgart zu sehen:
„Allein hat niemand eine Chance.
Das gilt für mich, für Euch, für alle.
Soziale Bewegung ist Arbeit, viel Arbeit. Und es dauert.
Ihr werdet die Ergebnisse vielleicht nicht einmal erleben.
Aber so geht es jeder Bewegung.
Und wir stehen auf den Schultern all jener,
die sich für Demokratie und Gerechtigkeit eingesetzt haben.
Wir sind die nächsten Schultern!
Denn es ist die verdammte Mühe wert!“
OBEN BLEIBEN!