Wie weiter mit § 23 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes?

Rede von Bernd Riexinger, Mitglied des Deutschen Bundestages und des Verkehrsausschusses, auf der 742. Montagsdemo am 27.1.2025

Liebe Freundinnen und Freunde,

vielen Dank für die Einladung zur heutigen Montagsdemo. Es wird meine letzte Rede als Bundestagsabgeordneter und Verkehrspolitiker sein. Mit Luigi Pantisano wird jedoch ein guter Nachfolger für Stuttgart in den Bundestag einziehen. Ihr könnt euch darauf verlassen, dass er genau wie ich konsequent an eurer Seite stehen und die Sache der S21-Gegner im Bundestag und außerhalb vertreten wird. Und es ist keine Frage, dass ich auch ohne Mandat weiterhin mit euch zusammen gegen dieses Wahnsinnsprojekt, für eine nachhaltige Verkehrspolitik und für eine soziale und klimagerechte Stadtentwicklung kämpfen werde.

Alle Entwicklungen der letzten Jahre haben bewiesen, dass die Kritiker des Projektes die eigentlichen Sachverständigen waren. Stuttgart 21 ist als Bahn- und Verkehrsprojekt gescheitert. Jetzt wollen die Befürworter – eigentlich alle anderen Parteien – mit aller Gewalt verhindern, dass nicht auch noch das Immobilienprojekt krachend scheitert. Darüber rede ich heute, über die aktuellen Entwicklungen beim Paragraphen 23 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG).

Ihr erinnert euch, dass die Ampel bereits am 23.12.2023 – wahrscheinlich versehentlich – eine Gesetzesänderung verabschiedet hat, welche die Bebauung auf stillgelegten oder abgeknipsten Eisenbahnlinien erheblich erschwert.

Hineingeschrieben wurde, dass die Bahnflächen zur grundsätzlichen Aufrechterhaltung der Nutzung als Verkehrsfläche dienen müssen, und dass für eine Endwidmung ein Interesse vorliegen muss, das als überragendes öffentliches Interesse definiert wird. Die Bahnvorgleisfläche in Stuttgart könnte demnach nicht überbaut werden. Ein schwerer Schlag für die Betreiber des Projektes. Deshalb wurde in den letzten Monaten alles mobilisiert, damit das Gesetz wieder entschärft und die Bebauung mit Wohnungen und Büros möglich wird. Bevor ich auf die Gesetzesvorschläge von CDU/CSU einerseits, SPD und Grüne andererseits eingehe, eine kurze Vorbemerkung.

Die Änderung des Eisenbahngesetzes – ob unbeabsichtigt oder nicht – war überfällig und vollkommen richtig. Hunderte, wenn nicht gar Tausende Bahnhöfe und stillgelegte Gleisflächen wurden in den letzten Jahrzehnten unsäglicher Bahnrückbaupolitik verramscht, privatisiert und überbaut. Damit sind sie weitgehend für den Bahnverkehr unwiderruflich verloren. Tausende Kilometer Bahnstrecken wurden stillgelegt. Das waren katastrophale Entscheidungen einer ganzen Reihe von miserablen, unfähigen Verkehrsministern und eines Bahnvorstandes, der die Bahn auf den Börsengang vorbereiten und schlank machen sollte und wollte. Diese Bahnhöfe und stillgelegten Bahnstrecken könnten wieder reaktiviert werden – was für den Ausbau der Bahn dringend nötig wäre – hätte es die Neufassung des § 23 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes vor 30 Jahren schon gegeben.

Die letzten Monate haben CDU/CSU und FDP eine richtige Kampagne gestartet, obwohl letztere in der Regierung war und die Änderung mit beschlossen hatte. Oberbürgermeister Nopper sprach vom Zustand kollektiver Verwirrung und kündigte Verfassungsklage an. Was übrigens lächerlich ist und keinerlei Chance auf Erfolg hat. Die Union hat bereits im Oktober letzten Jahres einen Änderungsantrag zum bestehenden Gesetz eingebracht, der auch schon Gegenstand einer Anhörung und einer parlamentarischen Debatte war. Im Kern beantragen sie zum alten Zustand zurückzukehren und die Stärkung der Schiene und die Sicherung der für ihren Ausbau dringend nötigen Flächen wieder rückgängig zu machen.

Es wird behauptet, dass die ursprüngliche Änderung viele Kommunen und deren Bauvorhaben, die bereits geplant sind, gefährden würden. Beweise wurden dafür nicht vorgelegt, auch wenn der Städtetag behauptet, eine Liste zu besitzen, ohne diese bisher rauszurücken. Auch Werner Sauerborn bekam eine Absage, als er die Liste anforderte, mit der Begründung: Datenschutz. Das ist einfach lächerlich. Was soll bei einer öffentlichen Baubewilligung diese Geheimnistuerei. Auch der Sachverständige, Professor Dr. Urs Kramer von der Universität Passau, schreibt deshalb in seiner Stellungnahme: „Gerade die Ausführungen zur Begründung [des Union-Antrages] lesen sich wie ein Einzelfallgesetz, und auch die explizierte Erwähnung von Stuttgart 21 als prominentes Beispiel geht in diese Richtung, so dass der Eindruck entstehen kann, dass es nicht um eine abstrakt-generelle Regelung, sondern um die Lösung eines Einzelfalles geht, was aber nicht Aufgabe eines Gesetzes ist und wegen seiner Breitenwirkung für alle Fälle auch nicht sein sollte“.

Die Union will weiterhin folgenden Satz aus dem § 23 in der aktuellen Fassung streichen: „Der Bahnbetriebszweck eines Grundstücks dient der Aufrechterhaltung sowie der Weiterentwicklung der Eisenbahninfrastruktur im Rahmen der kurz-, mittel- oder langfristig prognostizierbaren zweckentsprechenden Nutzung“. Damit legen CDU und CSU offen, dass sie an einer Weiterentwicklung und einem zügigen Ausbau der Bahninfrastruktur kein großes Interesse haben, wenn sie der kommerziellen Nutzung im Wege steht. Professor Kramer schreibt dann auch zutreffend: „Der diesem Anliegen dienende und durch das Gesetz vom 22. Dezember 2023 erreichte Fortschritt würde leichtfertig und sozusagen flächendeckend zunichte gemacht, wenn die Änderung einfach wieder rückgängig gemacht würde“.

Liebe Freundinnen und Freunde,

nun kurz zur Bewertung des Änderungsantrages, den SPD und Grüne vorgelegt haben.

SPD und Grüne gehen in ihrem Antrag nicht so weit wie die Union. Aber auch sie wollen die Verschärfung im Gesetz abmildern, um vermeintlich zahlreiche Wohnungsprojekte nicht zu gefährden. Sie schreiben in ihrer Begründung: „Durch die Änderung wird das überragende öffentliche Interesse fortgeführt, aber unmittelbar an das Verkehrsbedürfnis und den langfristigen Nutzungsbedarf eines Grundstückes für den Bahnbetriebszweck geknüpft. Soweit diese nicht vorliegen, entfällt das überragende öffentliche Interesse am Bahnbetriebszweck“.

Außerdem wollen SPD und Grüne klarstellen, dass die Grundstücke nicht freigegeben werden dürfen, wenn hierdurch „die Möglichkeit der Wiederinbetriebnahme einer Bahnstrecke gefährdet würde“. Das wäre ein Fortschritt. Unterm Strich bleibt aber, dass auch SPD und Grüne aus dem Gesetz streichen wollen, dass bei der Freistellung von Grundstücken ein „überragendes öffentliches Interesse“ gegeben sein muss. Also auch wenn SPD und Grüne weniger stark verschlechtern wollen, haben sie Angst vor der eigenen Courage bekommen.

Man könnte sich natürlich fragen, ob es bei Stuttgart 21 überhaupt zum Tragen kommt, dass die freiwerdenden Bahnflächen nicht mehr für den Bahnverkehr gebraucht werden. Das ist nämlich mitnichten der Fall: Dass mit der Inbetriebnahme von S21 kein Verkehrsbedürfnis für die Gleisfläche vor dem Bahnhof besteht, ist eine unbewiesene und mehr als gewagte Prognose, die durch die Fakten nicht gedeckt ist, und wie viele andere Behauptungen durch die Wirklichkeit widerlegt wird. Es ist jetzt schon klar, dass künftige acht unterirdische Gleise keinesfalls bewältigen können, was jetzt 16 Gleise leisten.

Die Hoffnung, dass das digitale Zugsicherungssystem ETCS – European Train Control System – einen so hohen Effektivitätsgewinn erzielen würde, dass praktisch auf der Hälfte der Gleise doppelt so viele Züge durch den Bahnhof geschleust werden können, ist völlig auf Sand gebaut. Eine vorliegende Studie in der Schweiz belegt das Gegenteil. Die Effektivitätsgewinne sind gering, vor allem in Bahnhöfen. Es ist völlig verantwortungslos, in einer Zeit, in der die Bahn ausgebaut werden müsste, die Kapazitäten massiv rückzubauen. Künftige Generationen werden von einem Schildbürgerstreich reden.

Die Hoffnung, dass die dritte Ausbaustufe des Digitalen Knotens Stuttgart im geplanten Zeitraum fertig wird, ist ebenso im Reich der Phantasie angesiedelt. Bisher ist noch nicht einmal der Finanzierungsvorbehalt aufgehoben – einmal davon abgesehen, dass es sich um ein Pilotprojekt handelt. Die beauftragte Firma hat so etwas noch nie gemacht, die Komplexität ist hoch und die Umsetzung teuer. Ohne die Verwirklichung der dritten Stufe, also die digitale Ausstattung der gesamten Region, lösen sich weitere Versprechungen für einen effektiveren Bahnverkehr in Luft auf.

Auch ohne das ganze Theater um den § 23 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes ist es völliger Irrsinn, einen funktionierenden Kopfbahnhof abzuknipsen, das Gleisvorfeld zu bebauen und durch einen nicht funktionierenden und rückgebauten unterirdischen Bahnhof zu ersetzen. Das Gleiche gilt für die Gäubahn.

Warum dann der ganze Aufwand? Ganz einfach, wird der § 23 wieder in den alten Stand gesetzt, ist es wesentlich einfacher, ungeachtet aller Argumente Fakten zu schaffen, d.h. die Freistellung zu beantragen und mit der Demontage zu beginnen. Die Gegner müssten dann einmal wieder den mühevollen Klageweg einschlagen, während die handelnden Akteure schon mal loslegen.

Liebe Freundinnen und Freunde,

trotz aller Entschlossenheit der Union und der Unentschlossenheit der Restampel sieht es nicht so aus, als kämen die Anträge auf Änderung des Gesetzes in dieser Legislatur noch zum Tragen. Stand heute ist eine Aufsetzung für die letzte Sitzung des Verkehrsausschusses für Mittwoch dieser Woche nicht erfolgt. Das wäre aber die Voraussetzung dafür, dass die Gesetzesanträge noch in den Bundestag eingebracht werden können. Die letzten beiden Sitzungstage sind am kommenden Montag und Dienstag.

Voraussetzung wäre außerdem, dass sich CDU/CSU, Grüne und SPD auf einen Text einigen. Davon gehe ich nicht aus. Vermutlich sagt sich die Union, wir werden ohnehin die nächste Bundesregierung anführen, warum sollen wir jetzt irgendwelche Kompromisse mit SPD und Grünen machen. Und für Stuttgart 21 reicht allemal die Zeit, zumal S21 ja erst Ende 2026 in Betrieb genommen werden soll.

Unter einer CDU geführten Regierung wird es sowieso den Versuch geben, in der Bahnpolitik eine Rolle rückwärts zu machen. Die Bahn soll zerschlagen, die Infrastruktur soll in eine GmbH ausgegliedert werden, für die nötigen Investitionen fehlt das Geld, das für die angekündigten Steuergeschenke an Unternehmen, Konzerne, Reiche und Vermögende gebraucht wird.

SPD und Grüne dienen sich ja heute schon der Union als Juniorpartner einer künftigen Regierung an. Die Grünen haben mit Wissing schon so viele Kompromisse in der Verkehrspolitik gemacht. Warum das bei einer CDU geführten Regierung anders sein soll, erschließt sich mir nicht.

Deshalb gilt es bei dieser Bundestagswahl, aber mehr noch danach, genau hinzuschauen. Es gilt die Kräfte zu stärken, die für eine echte Mobilitätswende stehen. Es geht um eine Mobilitätsgarantie, jederzeit von A nach B zu kommen, ohne ein Auto besitzen zu müssen.

Es geht um eine funktionierende Bürgerbahn, in der nicht kostspielige Großprojekte gebaut werden, sondern eine pünktliche, kostengünstige und gut ausgebaute Bahn, es geht um einen gut ausgebauten öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV), perspektivisch zum Nulltarif, um kürzere Taktzeiten, um eine funktionierende Güterbahn, mit der immer mehr Güter von der Straße auf die Schiene verlagert werden können. Das kostet Geld. Wir können nicht eine Bahn wie in der Schweiz bekommen, wenn wir viermal weniger pro Einwohner ausgeben, als dort. Das Geld ist da. Der Bericht von OXFAM über die Vermögensverteilung ist erschreckend. Die reichsten Milliardäre konnten 2024 weltweit ihr Vermögen von 13 auf 15 Billionen Dollar erhöhen.

In Deutschland ist der Vermögenszuwachs besonders hoch. 70 Prozent des Reichtums wird ererbt. Große Teile werden nicht investiert, sondern auf die internationalen Finanzmärkte geschleust, in Luxusvillen oder Yachten angelegt. Es ist dringend notwendig, diesen unvorstellbaren und leistungslos erworbenen Reichtum ordentlich zu besteuern und damit die dringend notwendigen Investitionen in Bildung, Erziehung, Gesundheit, die Bahn, den ÖPNV, in bezahlbaren Wohnraum, kurz in eine funktionierende soziale Infrastruktur zu finanzieren. Dazu muss man jedoch den Mut haben, den Konflikt mit den Superreichen in diesem Lande auch zu führen.

Ich bin überzeugt, wir müssen weiterhin wachsam sein, wie es mit der Änderung des § 23 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes weitergeht. Wir dürfen das der Union nicht durchgehen lassen und sollten weiterhin dagegen mobilisieren.

Wir sollten jedoch die gerade bedrohliche politische Entwicklung weltweit und in Deutschland nicht einfach hinnehmen. Die Rechtsverschiebung aller Parteien – außer meiner – und die Radikalisierung der AfD sind bedrohlich – nicht nur für die Möglichkeiten, Stuttgart 21 zu verhindern, sondern überhaupt für die Zukunft. Es geht darum, gemeinsam ein Rollback zu verhindern, bei dem soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz, Menschenrechte und Demokratie mehr und mehr an den Rand gedrängt werden.

Oben bleiben!

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